XXII
Einleitung
Das dichtende Genie scheint nur für die Zeit
und den Augenblick der Selbsteinkehr und Selbst-
befreiung zu dichten, und es dichtet doch für die
Ewigkeit. Solche Ewigkeit klingt aus dem vielgestal
tigen Shakespeare und Dante. Sie klingt, wenn
auch oft verhüllt, aus den großen spanischen und
französischen Tragikern. Sie bleibt nicht stumm bei den
Dichtern der kleinen Völker, die mitgenießen möchten
an der Seelenerlösung durch die Gebilde der Phantasie.
Sie klingt, heute noch nicht zu vergessen, aus der Dichtung
Goethes. Diese Dichter wollen um jeden Preis für ihre
Zwecke der Menschenbefreiung siegen. Indem auch den
Geschöpfen der Dichter der volle Freiheitswille und die
ungemischte Willensfreiheit geschenkt werden, beginnt
Verbesserte Erziehung
Nach einem klupferftich von Daniel Lhoäowiecki aus
Lalzmann's Taschenbuch 1801
erst die moderne Poesie. Sie ist nicht zaghaft. Sie
schildert allenthalben das Glücksziel, das die Menschheit
noch nicht erreicht hat und das die Zukunft noch erfüllen
muß. Sie beschreibt auch nach einem berühmten Vor
bilde alle Schönheiten eines irdischen Paradieses. Als
„Atopie" wird solch Dichtertraum erst angesehen und be
lächelt. Plötzlich zeigt es sich, daß die Menschheit, die
eben derartigen Traum kaum beachtete, gar nichts
Besseres und Eiligeres zu tun hat, als nach diesem Zu
kunftsbild ihre ganze Gegenwart einzurichten. Ein
Dichterbuch hat dergestalt auch die Bewegung der mo
dernen Sklavenbefreiung gebracht. Stärker als jede
Schrift des kühlen Gedankens haben die Dichtungen ge
holfen, die Frau zum ebenbürtigen Gliede in die Menschen
gesellschaft einzusetzen. Einstmals zerbrachen sich fromme
Kirchenväter den Kops darüber, ob in den Frauen und
in den Tieren die gleiche unsterbliche Seele vorhanden
sei wie in dem Manne. Nur zaghaft entschieden die
strengen Priester für die Frau. Die Dichtung hat allein
gearbeitet, damit der zaghafte Kirchenväterglaube ein
glühender Vertrauens- und Verehrungsglaube zugunsten
der Frau werde.
*
oethe wandert durch alle Bücher der Welten und
Menschheitsdichtung. Er will überall das Besondere
und überall auch das Gemeinsame entdecken, das zwischen
den einzelnen Menschen und Nationen vorhanden ist,
damit sein Traumgedanke Wirklichkeit werde, durch eine
Menschheitsdichtung und Weltliteratur die
Persönlichkeiten zu nähern und die Völker auch. Aber
ach, selbst dieser wundervolle Traum birgt nicht genug
fortzeugende Kraft in sich, damit die freien Geister, die
im Gelände der Dichtkunst lustwandeln, die ganze Mensch
heit von ihren Vorurteilen befreien. Arsachen, die tief
tragisch verschattet bleiben und selbst den hellsten Köpfen
noch nicht vollständig einleuchten, vereitelten alles Be
mühen der sonnigen Genies. Neue Sklaverei und Welten-
finsternis wurden. Weltenkrieg wurde. Bruderschaft
wurde zerstört. Blume und Freiheit der Körper und
Geister wurde zerstört. Reichtum wurde zerstört. Die
einfachste Lebensgewißheit und die schmächtigste Lebens
freude wurden zerstört. And das Geringste nur von alle
dem konnte man bis jetzt wiederherstellen.
Aber gerade in diesem Augenblick, da alles der Ver
nichtung preisgegeben scheint, kommt ein ungeheures
Staunen und eine ungezähmte Sehnsucht in die Menschen.
Sie werden sich dessen bewußt, daß ihr Wille nach
Menschenglück und Menschenfreiheit jahrhundertelang,
jahrtausendelang vielleicht zu lau gewesen ist. Die
Menschenfreunde wollen sich selber und ihre Brüder
stürmischer erlösen. Was sie einstmals nur gemächlich
geplant hatten, das darf nicht mehr verschoben werden.
Jeder Artraum des Menschenglückes taucht von neuem
auf, und er verlangt höchst dringlich, unendlich quälend
und mahnend, die Seele zu jeder Sekunde einklammernd,
nach schleunigster Erfüllung.
Menschenurtraum, seit Jahrhunderten gehegt und
niemals vergessen, muß Wirklichkeit werden um jeden
Preis. Das ist die neue Revolution der Köpfe,
die nicht mehr schlafen können und wollen, die nur noch
in der Sehnsucht beheimatet sind. Diese Träumer, die
früher als A t o p i st e n verschrien und verachtet wurden,
diese Ingenieure der künftigen Glücksgeschlechter, sie
haben entschieden, daß die Befreiung des Menschen
geistes vollkommen und ungeschmälert sein muß. And da
wir heute in so viel Leid sind, möchten wir den Atopisten
leichter und aufrichtiger und kindlicher glauben als jemals.
Fassen wir alle unsere Sehnsucht, die auf Menschen
glück und Geistesfreiheit hinausgeht, kurz und bündig
und brennend zusammen: Wir möchten glauben, daß
eine künftige Welt, die auch wir Gegenwärtigen nicht
mehr entbehren können, nun endlich die Güter der Men
schenfreude hochgerecht an die anderthalb Milliarden
Menschen ausliefere. Nicht verkümmern soll der einzelne
Mensch, wie bisher, und darum werde der Boden, auf