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Dadikalismus und Anarchismus
In der Bewegung der „Jungen" lebte
und webte vor allem der Geist der revo
lutionären Engelsschen Schrift: „Zur
Wohnungsfrage". Diese Schrift hat
wohl am stärksten die Ideengänge der
„Jungen" beeinflußt. Sie lieferte die
Waffen zum Kampfe der „Jungen" ge
gen die Alten. Ihr entstammt das Schlag
wort von der kleinbürgerlichen So
zialdemokratie, und aus ihr ist
das von der Berliner Opposition so häufig
benutzte und vernutzte Argument von der
„sozialen Flickreform" der Fraktion kopiert
worden. Der Geist der Engelsschen Woh
nungsfrage bekundete sich sichtbar auf dem
Parteitag in Halle 1890 in der Rede des
Berliner Oppositionsmannes Wilhelm
Werner gegen die fraktionelle Arbeiter-
schutzpolitik, die ja nach Ansicht dieses
Sprechers der „Jungen" nie die Lage
der Arbeiterschaft dauernd heben könne.
Eine Verkürzung der Arbeitszeit verteuert
nach Werner das Arbeitsprodukt: „Die
Lage der Bevölkerung wird nicht gehoben,
wenn durch die Verteuerung der Produkte eine Steigerung
des Lohnes stattfindet, und wenn durch die Bestimmungen
des ehernen Lohngesetzes die arbeitende Bevölkerung auf
dem niedrigsten Niveau der Selbsterhaltung ihre Forde
rungen von der Kapitalistenklasse erfüllt bekommt. . .
Diese Flickerei durch Arbeiterschutzgesetzgebung an der
heutigen Wirtschaftsordnung wird niemals eine Hebung
der materiellen Lage der arbeitenden Klasse mit sich
bringen."
Und in dem Kampf gegen das heutige Schutzzollsystem
sah Werner nur ein die heutige Wirtschaftsordnung um
wälzendes Moment, denn der Freihandel müsse eher zum
Zusammenbruch des Kapitalismus führen. Das Pro
gramm Werners läßt sich schließlich so fassen: Eindämmung
der praktischen Reformtätigkeit der Sozialdemokratie und
vollständige Entfesselung der Propaganda für das sozial
demokratische Endziel.
Unzweifelhaft ist die Schrift „Zur Wohnungsfrage"
eine der letzten und wich
tigsten radikal-revolutio
nären Kundgebungen ge
gcn die soziale Reforme
rei überhaupt, und sie
richtete sich bezeichnen
derweise gegen einen
Teil der sozialdemokra
tischen Reichstagsfrak
tion, in der nach Engels
„ein gewisser kleinbür
gerlicher Sozialismus
seine Vertretung" fand.
In der Engelsschen Ar
beit wird der ganzen
Sozialreform, beziehe sie
sich nun auf das steuer
gesetzliche oder auf das
genossenschaftliche Ge
biet, jede wirkliche, die
Lage der Arbeiterklasse
hebende Bedeutung ab
gesprochen. Jede soziale
Reform ist eben nach Engels heute zur
völligen Ohnmacht durch das unserer ka
pitalistischen Volkswirtschaft immanente
Gesetz verdammt, das Engels folgender
maßen formuliert: „Jede Verringerung
der Erzeugungskosten der Arbeitskraft, das
heißt jede dauernde Peiserniedrigung der
Lebensbedürfnisse des Arbeiters kommt
aber ,auf Grund des ehernen Lohngesetzes
der Volkswirtschaftslehre' einer Herab-
drückung des Wertes der Arbeitskraft
gleich und hat daher schließlich einen ent
sprechenden Fall in Arbeitslohn zur
Folge . . . Beiläufig bemerkt, gilt das
oben Gesagte von allen sogenannten
sozialen Reformen, die auf Sparen oder
aus Verwohlfeilung der Lebensmittel des
Arbeiters hinauslaufen. Entweder werden
sie allgemein, und dann folgt ihnen eine
entsprechende Lohnherabsetzung, oder aber
sie bleiben ganz vereinzelte Experimente,
und dann beweist ihr bloßes Dasein als
einzelne Ausnahme, daß ihre Durchführung
im großen mit der bestehenden kapita
listischen Produktionsweise unvereinbar ist."
Übrigens spielt Engels dieses Gesetz der kapitalistischen
Volkswirtschaft noch direkt gegen die Steuerresormerei
aus. Steuern, meint Engels, das sind Dinge, „die die
Bourgeoisie sehr, die Arbeiter nur sehr wenig interessieren".
„Was der Arbeiter an Steuern zahlt, geht auf die Dauer
in die Produktionskosten der Arbeitskraft mit ein, muß
also vom Kapitalisten mitvergütet werden. Alle diese
Punkte, die uns hier als hochwichtige Fragen für die
Arbeiterklasse vorbehalten werden, haben in Wirklichkeit
wesentliches Interesse nur für den Bourgeois und noch
mehr für den Kleinbürger, und wir behaupten, trotz
Proudhon, daß die Arbeiterklasse keinen Beruf hat, die
Interessen dieser Klassen wahrzunehmen."
Welch vernichtendes Urteil liegt in diesen Engelsschen
Ausführungen gegen die auf die Hebung der Arbeiter
klasse gerichtete soziale Resormpolitik, gegen die Genossen
schafts-und Gewerkschaftspolitik, gegen den Kampf gegen die
indirekten Steuern risw.
Mehr als neun Zehntel
der sozialdemokratischen
Tätigkeit im Reichstag,
in den Landtagen und in
der Gemeindeverwaltung
sind ja dann, r»n mit
Engels zu reden, nichts
anderes als soziales
Flickwerk.
Die Bewegung der
„ Jungen “ nahm im
Jahre 1891 immer schrof
fere Formen an und
führte zu einer völligen
Kampfansage der Oppo
sition an die parlamenta
rische Taktik der Partei.
Namentlich durch das hef
tig temperamentvolle,
von Karl Wildberger ver
faßte Flugblatt ging der
heiße Atemzug des „Sol-
„Meine Herren! Ich gebe es Ihnen
ju, es har uns eine glückliche, aber
notwenäige unä ehrenvolle Revo-
lurion hierher geführt."
Karikatur aus dem Parlament I848 auf
Prof. Cdel von Würzburg
fortlaufender Beifall
I. von Loiron. 2. von Sägern. ;. Herrmann. 4. Nauwerck
Karikatur auf den Abgeordneten Nauwerck aus dem Parlament 1848