Das soziale Deutschland vor dem Ausbruch der Devolution 1848
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Schon in diesem Atlgenblicke muß der Arbeitsmann für
Räume, welche gar nicht zu menschlichen Wohnungen ge
eignet sind, einen weit höheren Mietzins als ehedem für
eine ordentliche Wohnung bezahlen."
30 000 Menschen waren in Köln almosenbedürftig.
In Höhlen, „wo das Grauen wohnt", nicht in mensch
lichen Wohnungen kampierte teilweise die arbeitende
Klasse Breslaus. Atlf die Frage: Wie ist der Zustand der
Wohnungen der arbeitenden Klasse Breslaus? antwortete
der Armenarzt Dir. Blümner: „Im höchsten Grade er
bärmlich. Manche Stuben gleichen eiitem Schweinestalle
mehr als einer Wohnung für Menschen; alles ist baufällig,
daß bei jedem starken Tritt das ganze Gebäude erzittert,
die Stuben klein, die Fenster schlecht, die Öfen schlecht,
meistens raucht es in den Zimmern, an den Türen und
Wänden läuft gewöhnlich das Wasser herunter. And solch
ein Loch kostet 20 bis 24, ja 30 Taler!" Über die Kost
führten Dr. Neumann und Dr. Kalkstein aus. „Die Kost
ist Brot und Kartoffeln, was die Ursache der häufig vor
kommenden Skrofeln ist." Ein anderer städtischer Armen
arzt: „Die Wohnungen der arbeitenden Klasse sind meistens
in den Höfen gelegen. Die geringe Menge frischer Luft,
welche die benachbarten Häuser zulassen, wird durch die
Ausdünstungen der Ställe und Abtritte verunreinigt."
Aber den Gesundheitszustand folgende Schilderung:
„Chronischer Gelenkrheumatismus ist eine häufige Krank
heit dieser Klassen, weil diese fortwährend Erkäl
tungen ausgesetzt sind. Ferner sogenannte Schäden,
bei Männern Leistenbrüche und bei Frauen Gebärmutter
schäden, weil sie einige Tage nach der Entbindung ihren
Geschäften nachgehen müssen. Bei Kindern sind es ge
wöhnlich die Skrofeln in allen Formen, welche fast all
gemein verbreitet sind. Einige Rücksicht dürfte vielleicht
die sehr häufig in allen Nüancierungen erscheinende Bleich
sucht bei den jungen Mädchen verdienen, die in den Fa
briken beschäftigt sind. Derselbe Zustand herrscht in großer
Ausdehnung unter Rähmüdchen, Schneidermammsells
vor usw." In Berlin das gleiche Lied! Doch ersparen
wir uns alle weitläufigen Schilderungen über die Notlage
der dortigen Arbeiterklasse und begnügen wir uns mit- dem
Hinweise auf die furchtbare Höhe der Prostitution, der
sich nach Schätzung eines preußischen Polizeiagenten
damals schon in Berlin 10 000 unglückliche Wesen hingaben.
Was soll man von dem Staate der Intelligenz sagen,
wenn in dessen Hauptstadt von 66 000 schulpflichtigen
Kindern bloß 37 000 die Schule regelmäßig besuchten,
während 29 000 der größten Unwissenheit anheimfielen!
Bergehoch hatte sich in Deutschland das soziale Elend ge
häuft. Gelegentlich entzündete sich der aufgehäufte Zünd
stoff in der Gestalt von kleinen Aufständen und Krawallen
wie in Berlin, Breslau, Köln, Herford, Münster usw. —
ja sogar die preußischen Hinterwäldler, die Pommern,
rebellierten—, aber diese Aufstände waren nur das Pro
dukt vorübergehender Verzweiflungsfälle, und das unent
wickelte, unorganisierte Arbeitertum trat nicht als ziel
bewußte Klasse auf die politische Bühne. Die Arbeiter,
wo sie sich zu Hilfs-, Bildungs- und Gesangvereinen grup
piert hatten, wie in Berlin, Hamburg, Breslau, Köln,
mußten ihre ungewohnten, unbeholfenen Bewegungen
in den Gängelbändern der deutschen Regierungen aus
führen.
Bei diesem Stande der Dinge nimmt es daher kein
Wunder, daß die sozialistische Bewegung der vierziger Jahre
als Produkt jener allgemeinen dumpfen Gärung, die aller
dings schon die weitesten Volkskreise ergriffen hatte, einen
unbestimmten ziellosen Charakter an sich trug.
Cnäe
Nach einer Radierung von Häche llollwitz
Hus dem Zyklus „C(n Weberaufstand". JTICt Erlaubnis des Verlages Emil Richter, Dresden