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Einleitung
Männer fast Gegner sind. Aber heute, da sie beide der An
sterblichkeit gehören, sind diese Gegensätze verschwunden.
And man nennt die Namen beider in dem gleichen Atem
zug. Lassalle ist das intuitive Genie, das Zusammenhänge
der Geistes- und Wirtschaftsgeschichte mehr errät, als daß
es sie in mühseliger Forscherarbeit beweist. Karl Marx
gräbt sich mit unsäglicher Ausdauer in die Bände der
britischen Bibliothek, um den Geistesbau, den seine Ahnung
voraussehend entworfen hat, auch auf feste Stützen der
Erkenntnis zu stellen. Lassalle schreibt: „Zwei Dinge
allein sind groß geblieben in dem allgemeinen Verfall:
die Wissenschaft und das Volk, die Wissenschaft und die
Arbeiter. Die Vereinigung beider allein kann den Schoß
europäischer Zustände mit neuem Leben befruchten." Der
geniale Mann, der noch nicht imstande ist, die Leidenschaft
des eigenen Herzens mit dem großen, geistigen Lebens
werk zu verschmelzen, wird als irren
der Troubadour getötet, und es fol
gen die Seisteserben des weltum
spannenden Proletariergedankens,
der allen Unterdrückungen durch
Staaten und Minister und zaghafte
Gelehrte trotzt.
Augu st Bebel, wieder ein Pro
letarierkind, übernimmt in Deutsch
land die Führung der Massen. Es
ist charakteristisch für die besondere
Geisteseinstellung dieses Mannes, daß
er nicht nur die Fragen der Gewerk
schaften und des allzu hitzigen Sol
datentums bekämpft. Sein literari
sches Hauptwerk ist das Buch von
der „Frau". Da erkennt Bebel wie
der, daß die Frauenfrage das Funda
ment aller wirtschaftlichen Fragen
überhaupt ausmacht. Indem er die
Hörigkeit der Frau aufheben möchte,
die selbst im 19. Jahrhundert noch
nicht beendet ist, will er eine der
schwersten Menschensesseln zerspren
gen. Gefängnis und Aufopferung
stählen nur die Kräfte August Be
bels.
Jean Iaures übernimmt
in Frankreich die Führung, der
mächtigste Orkan europäischer Be
redsamkeit. Er zwingt die Tausende
der Arbeiter in den Riesensälen und
in den Zirkussen, die bis zum höch
sten Gewölbe überfüllt sind, durch
den bloßen Schall seines Wortes, als
wenn er selbst mit tausend Zungen
redete. Er hat Abertausende von
schlichten Menschen bekehrt, die bis
her jedem Verbrüderungsgedanken
fremd und sogar feindlich gegenüber
standen. Er war eine gesegnete Dop
pelnatur, ein forschender Kopf und ge
staltender Geschichtsschreiber und zu
gleich der ungeheuerste Bändiger der Massen. Sein Geist
genügte den feinsten Geistern und Träumern der Dichtung.
Er regte die Gelehrten, die Dichter, die Maler und die
bildenden Künstler an. Er verstand sich nicht weniger gut
mit den Bettlern. Er wußte einzugehen auf die Weisheit
Platos und auf das jämmerliche Klagegewimmer einer
Mutter, die für ihren Säugling die Milch nicht herbei
schaffen konnte. Seine letzte Rede war ein Auf
ruf zum Weltfrieden. Man wollte ihn nicht
hören, man streckte ihn hin, als er gerade das schwierigste
Werk seines ganzen Lebens beginnen wollte: schon in der
Stunde des Brandes die Welt vom Weltcnkricge zu
erretten.
Wahrlich, sie haben kein leichtes Schicksal, diese Mär
tyrer für die Erlösung der armen Menschheit, diese Be
freier des Geistes aus jahrhundertalter Sklaverei, diese
Proletariersöhne, die ihre Gedanken
anstrengen, weil all ihr untertäniges
Herz auch der leidenden Menschheit
gehört. Kein Wunder, daß sie häufig
verzweifelt und manchmal dem
Selbstmord nahe sind, wie Samt-
Simon, kein Wunder, daß sie auch
dem Mordwillen menschenfeindlicher
Verbrecher zum Opfer fallen wie
Iaures. Denn gerade solche Men
schen, die ihre Lebensarbeit am
lautersten lieben, gerade die unver-
sieglichen Menschenglücksfreunde
werden sich nicht mit dem geringen
Erdenerfolg nur begnügen. Sie
rennen wieder und wieder und von
tausend Richtungen auf ihr Ziel los.
Es scheint, daß der rastlose Men
schenbefreier das einzige Erdenge
schöpf ist, dessen Geiste keine Ruhe
gegönnt wird.
Da sieht einer von diesen Fana
tikern der Gerechtigkeit und der
Güte, daß die Menschen nicht in
der Gruppe und Gemeinschaft glück
lich und frei werden können, so sehr
sie auch danach streben, so väterlich
ihnen auch zugeredet wird. And sie
möchten es versuchen, dem Menschen
das Glück zu sichern, indem sie die
Gemeinschaft auflösen. Sie meinen
plötzlich, daß der Mensch als Ein-
ze l w e s e n allein das geheime,
göttliche Ziel erreiche. Darum will
z. B. T o l st o i, der mutigste und
verwegenste Prophet unter den Zer-
trümmerern der Gemeinsamkeitsfor
meln, jede Regierung, aber auch jede
Herrscherform, die von einem Be
schluß der Massen ausgeht, beseitigen.
Ec sieht nicht etwas Erziehendes,
Aufrichtendes und Tröstendes in
dem Gemeinschaftsgefühl, er sieht
Leo Tolstoi
Rach dem Gemälde von 31ja Repin
Genehmigung dcc Pbot. Gesellschaft, Berlin