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Die Entwicklung der revolutionären und sozialistischen Bewegung in Rußland
der noch warmen Leichen heran und schleuderte gegen
die Getöteten eine grobe, gemeine Verleumdung, als
sei ihr Schritt nicht vom Verlangen nach Gerechtigkeit,
sondern durch japanisches Geld veranlaßt worden.
Angesichts der schrankenlosen Hekatombe, wie sie die
Welt schon lange nicht gesehen hat, kam aus dem Munde
des Heiligen Synods nicht ein Wort des Vorwurfs für
die Henker, nicht ein Seufzer der Trauer um die Opfer
— nur eine Verleumdung. Eine Verleumdung, die die
Unterschrift des Synods angeblich im Namen der ganzen
Kirche trug. Eine solche Kirche lehnt mein Gewissen ab."
Die Geduld des gemarterten Volkes hatte ein Ende.
Die Logik der Tatsachen hatte die Massen auf den Weg
der Revolution gedrängt. Mit nicht zu überbietender
Brutalität hatte die Regierung den Massen bewiesen,
daß eine politische Befreiung aus friedlichem Wege nicht
zu erreichen war. Dieser Umschwung in der Psycho
logie der proletarischen Massen, den die Ereignisse des
9./22. Januar verursacht hatten, leitete die Revolution
in Rußland ein.
Die Volksbewegung dieses historischen Tages fand
einen machtvollen Widerhall bei der russischen Arbeiter
klasse. Während der nachfolgenden Monate kam es in
allen Industriestädten zu gewaltigen Streiks und Kund
gebungen,' auf dem flachen Lande brachen Unruhen aus,
und am 17./30. Oktober fand die Bewegung ihren Ab
schluß durch einen gewaltigen Generalstreik, an dem sich
die gesamte werktätige Bevölkerung des Landes betei
ligte und in dem die Sozialdemokratie die führende
Rolle innehatte. Gegenüber dem einmütigen Volks
willen mußte die Regierung kapitulieren, und sie be
quemte sich dazu, einige politische Freiheiten „zu ge
währen" und die Einberufung des Parlaments, d. h.
der Reichsduma, anzukündigen. Es ging in jenen Tagen
eine solche Begeisterung durch das Volk, die Massen
waren von einer solchen Entschlossenheit durchdrungen,
einem solchen Siegcswillen beseelt, daß sich dem ge
waltigen Eindruck jener Stimmung kaum jemand zu
entziehen vermochte. Sogar in dem fernen Taschkent,
der Hauptstadt Turkestans, hatten die Arbeitgeber, ge
tragen von den ersten Wogen der Begeisterung, gemein
same Sache mit den Arbeitern gemacht und waren in
einen Sympathiestreik getreten. Und in Petersburg
veröffentlichten sogar Spitzel eine Erklärung, in der sie
davon zu überzeugen suchten, daß auch sie eigentlich
seit jeher schon Sozialisten und Freunde der Freiheit
gewesen wären.
Die gewaltige Welle der Volksbewegung ebbte jedoch
allmählich ab, die Sympathien bürgerlicher Kreise hatten
sich verflüchtigt, die Klassengegensätze traten unvermeid
lich zutage. Die Reaktion war inzwischen erstarkt und
entwand dem Volke eine Errungenschaft nach der an
deren. Auf der einen Seite ließ sie den weißen Schrecken
wüten, auf der anderen führte sie Agrarreformen ein,
die dem Interesse nur eines Teiles der Bauern dienten,
wodurch die bezweckte Uneinigkeit in der Bauern
bewegung erreicht wurde. Die Reaktion wußte, daß
nur eine einige Bauernbewegung die Gewähr für eine
siegreiche Revolution bilden konnte.
Durch den Staatsstreich vom 3./16. Juni 1907 hob
die gegenrevolutionäre Regierung Stolypin das Grund
gesetz über die Reichsduma auf. Sie entzog gewaltigen
Schichten der werktätigen Bevölkerung das Wahlrecht
und bildete ein „Parlament", in dem der Adel die aus
schlaggebende Rolle spielte. Da die Reaktion aus inner
politischen und internationalen Gründen ihre Restau
rierungspläne nicht voll verwirklichen konnte, beließ sie
die Reichsduma, die nur noch äußerst beschränkte Rechte
besaß. Es begann die Zeit des Scheinkonstitutionalismus,
die über zehn Jahre währte.
Noch einmal triumphierte die Reaktion — es war ihr
letzter Sieg!
Die Revolution von 1905 vermochte nicht, die poli
tischen Ideale der russischen sozialistischen Parteien zu
verwirklichen. Dennoch bildete sie eine bedeutsame Etappe
auf dem Wege zu dem angestrebten Ziel. Die große
historische Mission der Beseitigung des Zarismus fiel
erst der Märzrevolution von 1917 zu. Mit diesem Jahre
beginnt ein neues Kapitel in der Geschichte Rußlands
und im besonderen des russischen Sozialismus.
Projekt für ein Denkmal äer Arbeit in Zowjet-Fkußlanck