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Die Entwicklung der revolutionären und sozialistischen Bewegung in Rußland
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Gogols Sittenkomödie „Der Revisor", Gribojedows
„Wehe den Gescheiten", die Dramen Ostrowskis lieferten
klassische Bilder der kulturellen Rückständigkeit Rußlands.
Die Willkür der Beamtenschaft, die Käuflichkeit des
Gerichts, die Selbstherrlichkeit des Gutsbesitzers, die Anter-
würfigkeit und Dummheit des Kaufmanns usw. wurden
schonungslos bloßgestellt und gebrand
markt. Da Preßfreiheit nicht bestand
und die Zeitungen und Zeitschriften
nur bei Gefahr strenger Strafen und
in verschleierter Form soziale Fragen
erörtern konnten, diente das Theater
der Gesellschaft als Stätte staatsbür
gerlicher Erziehung.
In verschiedenen Städten Rußlands
waren Zirkel für Selbstbildung ent
standen, denen hauptsächlich Studen
ten und Personen der freien Berufe
angehörten. Man beschäftigte sich in
ihnen mit Philosophie, Geschichte,
Soziologie und politischer Ökonomie.
Eine wichtige Rolle spielte die Be
schäftigung mit sozialistischer Literatur.
Die Werke von Saint-Simon, Fourier,
Louis Blanc, Proudhon, Owen wur
den eingehend studiert und eifrig dis
kutiert. Wie schon aus ihrer Bezeich
nung hervorgeht, verfolgten die Zirkel
den Zweck, ihren Mitgliedern eine gründliche wissenschaft
liche Ausbildung zu geben. Politische Ausgaben stellten
sie sich nicht. Von besonderer Bedeutung in der Ge
schichte der russischen sozialistischen Ideen war der Zirkel
des Publizisten Stankewitsch in Moskau. Stankewitsch
hatte lange in
Berlin gelebt,
wo er in enge
Beziehung zu
dem Hegelia
ner, Professor
Werder, ge
treten war.
Stankewitsch
gelang es, die
Blüte der rus
sischen Intelli
genz um sich
zu scharen.
Seinem Kreise
gehörten u. a.
Herzen, Baku-
nin, Aksakow
und Chom-
jakow an, die
später Slawo-
philen wur
den, und der
künftige kon- Wissarlon Grigorjewiksch Belinoki
servative Füh
rer Katkow. Aus dem Zirkel Stankewitsch' ging auch
der berühmte Professor Granowski hervor, dessen öffent
liche Vorlesungen 1843—1844 in Moskau alle fortschritt
lich Gesinnten besuchten. In dem Zirkel von Stau-
kewitsch wurden hauptsächlich Fragen der Philosophie,
der Ästhetik und der Literatur behandelt. Mit besonderem
Eifer wurden die Werke von Schelling und Hegel stu
diert, deren Philosophie in den dreißiger Jahren in
den Kreisen der russischen Intelligenz große Verbrei
tung fand.
Ende der vierziger Jahre, >848—1849, tat sich der
Zirkel der Petraschewzy besonders hervor, so genannt
nach einem der tätigsten Mitglieder dieses Zirkels Petra-
schewski, bei dem sich einmal wöchent
lich, jeden Freitag, die Mitglieder ver
sammelten. Der Kreis übte keine po
litische Tätigkeit aus. Er ragte jedoch
durch die ihm angehörenden bekannten
Gelehrten und Schriftsteller hervor.
Der strenge politische Prozeß, den die
Regierung Nikolais I. diesem Zirkel
machte, vermehrte seine Popularität
in hohem Maße. Petraschewski selbst
besorgte die Ausgabe eines Lexikons
für Fremdworte, das etwas von der
Art des Voltaireschen „Oictionnaire
ptiilosopüique" werden sollte. Er
hatte sich zur Aufgabe gestellt, nach
zuweisen, daß die Umbildung über
lebter Lebensformen die unbedingte
Voraussetzung der menschlichen Existenz
wäre. In diesem Werk träumte er
von einer Harmonie in den gesell
schaftlichen Beziehungen, von allge
meiner Brüderlichkeit und Solidarität.
Der Konstitution gegenüber verhielt er sich im Lexikon
ablehnend, dieweil „diese gelobte Verwaltungsart nichts
anderes als eine Aristokratie des Reichtums" bedeute.
Denselben ablehnenden Standpunkt vertrat er dem Kapi
talismus gegenüber. An dem Zirkel nahm auch Dosto
jewski teil,
ferner der Kri
tiker Belinski,
der bekannte
Schriftsteller
Tscherny-
schewski, die
Schriftsteller
Ssaltykow-
Schtschedrin
und Valeria»
Maikow, En-
gelson, der
spätere eifrige
Mitarbeiter an
der Hcrzen-
schen Zeit
schrift „Poljar-
najaSwesda",
der Theore
tiker des mo-
Sla-
wophilentums
nie^Qiidcc Herzen Danilewski,
der Chemiker
Lwow, der Hygieniker Achjcharumow usw. In den
Versammlungen des Zirkels wurden die Theorien Cabets,
Fouriers, Proudhons usw. gelesen und kommentiert.
Auch die trostlosen Verhältnisse der russischen Wirklichkeit,
die Grausamkeit der Leibeigenschaft, die Käuflichkeit des
Beamtentums u. a. wurden erörtert. Im großen und
ganzen waren die Diskussionen abstrakter Natur und
Nikolaj Sawrilowlcsch Tschern^schewski