Die Entwicklung der revolutionären und sozialistischen Bewegung in Rußland
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anderen absoluten Herrscher stellten den russischen Kaiser
an die Spitze der „heiligen Allianz". Gemäß seiner
religiösen und mystischen Anschauungen gelangte er zu
der Aberzeugung, daß Gott ihn für die Aufrechterhaltung
der Ordnung in Europa bestimmt hätte. Der Glaube
an diese seine „historische Mission" ließ Alexander l. auch
die Politik im Innern des Reiches ausschließlich vom
Standpunkte des beschränkten Polizistenverstandes aus
betrachten. Er umgab sich mit Dunkelmännern wie
Araktschejew, Magmtzki, Erzbischof Photius und Schisch-
kow. Hauptberater und
Freund des Zaren
wurde ein stumpfsin
niger und grausamer
Hofmann, der vor
erwähnte Araktschejew,
dem die ganze Staats
leitung restlos über
tragen wurde. Dieser
Diktator, der es sich
zum Ziel gesetzt hatte,
alle Seiten des Volks
lebens zu militarisie
ren, nahm durch Ver
pflanzung militärischer
Siedelungen grauen
erregende Experimente
mit der Bevölkerung
vor. Araktschejews Mit
kämpfer Magnihki ord
nete an, daß die Wissen
schaften unter Zu
grundelegung der Hei
ligen Schrift an den
Universitäten gelehrt
würden. Die Univer
sität Kasan war in ein
Kloster verwandelt wor
den. Jeder Student,
der sich etwas hatte zu
schulden kommen lassen,
muhte das Leben eines
Novizen führen: er
wurde in einen Bauernrock gesteckt, mußte Bastschuhe
tragen, kam i» ein eisenvergittertes Zimmer, wo an den
Wänden Bilder vom Jüngsten Gericht angebracht waren.
Alle Studenten waren verpflichtet, für den Sünder zu
beten usw. Unter' anderen wurde der Professor der
Kasaner Universität Ssolnzew dem Gericht übergeben und
„für immer der Professur entkleidet", weil er die Grund
sätze des natürlichen Rechtes ans dem gesunden Menschen
verstand und „nicht aus den: Evangelium herleitete".
Elf Professoren derselben Univer
sität, die für die Unabhängigkeit der
Universitätswissenschaften eintraten,
wurden gleichfalls von Magnihki
ihres Amtes enthoben. Jede öffent
liche Wirksamkeit war strengstens
untersagt. Ganz abgesehen von den
Bauern, die unter dem Joche der
Leibeigenschaft seufzten, hatten nicht
einmal die städtischen Stände die
Möglichkeit, sich zu der Innen
politik Araktschejews zu äußern.
Unter solchen Umständen, da keiner
lei Hoffnung bestand, Reformen auf gesetzlichem Wege
durchzusetzen, erscheint es nur natürlich, daß geheime
politische Organisationen erstanden. Die gebildeten Kreise
des Landes griffen damit zu dem einzigen Mittel, die
gesellschaftlichen Kräfte zusammenzufassen.
Es versteht sich von selbst, daß die Regierung Alex
anders I. die geheime politische Propaganda energisch
verfolgte. 1821 wurde die Bildung einer Militärpolizei
beim Gardckorps verfügt, am l. August 1822 befahl
der Zar die Schließung der Freimaurerlogen, wie über
haupt sämtlicher ge
heimen Organisationen.
Gleichzeitig mußten
alle Staatsbeamten die
schriftliche Versicherung
abgeben, daß sie keiner
Geheimorganisation
angehörten. Alle diese
Maßnahmen konnten
jedoch das Erstarken der
Geheimverbände nicht
aufhalten.
Als Ursprung der ge
heimen Organisation
der späteren Dekabristen
muß, wie gesagt, for
mell der „Rettungs
bund" gelten, der sich
seit 1818 „Wohlfahrts
bund" nannte. Die An
regung, diesen Bund
zu organisieren, war von
zwei Offizieren, den
Brüdern Murawjew,
ausgegangen, die dem
Hauptquartier der 2. Ar
mee in Tuljtschin an
gehörten. Die hervor
ragendste Persönlichkeit
und die Seele des
Bundes bildete der
Oberst P. P e st e l, der
bem Hauptquartier des
Generals Witgenstein zugeteilt war, bedeutende Kennt
nisse auf dem Gebiete des sozialen und politischen Wissens
besaß und sich durch hervorragende organisatorische Fähig
keiten auszeichnete. Pestel war es, der den anfänglich
unklaren Bestrebungen konkreten Charakter verlieh und auf
ein klares Ziel lossteuerte. Meinungsverschiedenheiten
zwischen den Mitgliedern des Wohlfahrtsbundcs über die
Art seiner Tätigkeit führte Anfang 1821 zu seiner Auf
lösung, oder richtiger gesagt, zu seiner Umorganisierung.
Auf Anregung von Pestel und sei
nen Freunden wurde in Tuljtschin
eine neue Gesellschaft, der „Bund
des Südens" gegründet, an dessen
Spitze außer Pestel Iuschnewski und
R. Murawjew traten. Der Bund
des Südens erhielt von Anfang
an einen bestimmten revolutionären
Charakter. Pestel, der damals un
geheuren Einfluß besaß, trat für eine
radikale Änderung der russischen
Staats- und Gesellschaftsordnung
auf republikanischer und sozialistischer
Sin Tor äer Peter-pauls-Festung
Der Transporr nach Sibirien
Nach einer Zeichnung von Gustave Dorö