IV Einleitung
durch Freiheit, Schönheit und Zartheit nehmen durfte.
Daher fanden die neuen Denker, die das besondere Ge
biet der sozialen Sittenlehre durchackerten, nur sehr
mühevoll den Kern dessen, was zum Glück dieser
blindlings verlassenen Menschenmenge gehörte. Sie
meinten zunächst, daß schon ein Aufruf an das
gute Herz der Besitzenden genügte, damit die Be
sitzlosen in das ihnen bis jetzt verschlossene Reich
des Wohlstandes endlich hineingelassen würden.
Sie wollten zunächst um jeden Preis mit den Regieren
den zusammenarbeiten, die nach jahrhundertelanger Ge
wöhnung den Proletarier im allgemeinen und den
Handarbeiter im besonderen unterdrückten. Die eng
lischen Frühsozialisten, die um den Anfang des 19. Jahr
hunderts ihre Beglückungspläne aussandten, scheuten sich
nicht, mit den konservativen Ministern zu unterhandeln.
Charles Fourier wartete jahrelang auf den Millionär,
der ihm die Mittel geben würde, um die Insel der Glück
seligen einzurichten und zu bevölkern. Und doch hatte
schon einer von diesen Vorläufern der modernen Frei
heitsdenker, einer von diesen Frühsozialisten,
die bis zum letzten Armenhäusler ihren Segen hintragen
wollten, geschrieben: „Die Menschen werden in dem
Maße verachtet, wie sie ihre eigenen Hände den Zwecken
der natürlichen Nützlichkeit widmen." Mit diesem Satze
John Grays war das Wesentlichste der modernen Welten-
und Sittlichkeitsfrage berührt. Die Frage nach dem
Glück und der Freiheit der Menschen war zur Arbei
terfrage geworden.
Seit eineinhalb Jahrhunderten werden immer neue
Lösungen dieser Frage gesucht. Schnell aufgegeben
wurden all die Bemühungen gefühlvoller
Enthusiasten, die der alten Erde ein neues
Paradies abringen wollten. Die Glückskolo
nien in einem künstlichen Eden verfielen
sehr schnell und in allen Zeiten des letzten
Jahrhunderts. Die tropische Freiheit und
das Robinsonglück, nach dem die Unzufriedenen
auswanderten, wurden sehr bald als ein flüch
tiger Traum und als eine leere Sehnsucht
entlarvt.
Die s o z i a l e F r a g e , der sich fortan die
besten Denker in Europa widmeten, wurde nicht
mehr als die Lösung eines Dichtertraumes an
gesehen. Sie wurde behutsam und mit Mathe
matik angefaßt. Was Karl Marx für die ganze
Menschheit ausgesonnen hatte, wurde jahr
zehntelang als gefährliche Sittenlehre verfemt.
Bis das Verdienst dieses mächtigen Menschen
freundes nicht mehr zu beseitigen war. Die
Könige mußten verschwinden, doch die Gedanken
des Arbeiterführers gewannen die fruchtbare
Unsterblichkeit.
Die Denker, die jetzt, bewegt von feierlicher
Menschenliebe, in die Fabriken und Findelhäuser
hineingehen, gebrauchen die göttlichen Worte
der Ergebenheit und des Mitleids nicht weniger
beredsam und dringlich, als es der galiläische
Armenerlöser getan hat. Rur sind die alten
Dogmen gesprengt. Rur sind Hölle und Himmel
aus ihrer erschreckend irdischen Nachbarschaft —
man möchte sagen: aus ihrer grobstofflichen Ver
zäunung und Verzauberung — herausgesprengt.
Himmel und Hölle sind nicht mehr die Zuflucht
des gespreizten Hochmuts oder der rachsüchtigen
Erniedrigung.
Daß es selbstverständlich ist, die Rot des ar
beitslosen Arbeiters bis zum Blutigsten aus
zunutzen, die Löhne auf das Geringste hinunterzudrücken
und die Arbeitsräume mit einem Mindestmaß von
Kosten einzurichten, ohne Rücksicht auf Gesundheit
und Leben, das war ökonomischer Grundsatz noch vor
wenigen Jahrzehnten. Und Robert Owen, der eng
lische Sozialreformer, der gewiß kein zaghafter Men
schenfreund war, ging ohne großen Erfolg zu den
englischen Parlamentariern und Ministern und stellte
ihnen vor, daß man die abgerackerte Kindheit nicht
in den Fabriken dürfe sterben lassen, daß es unrecht
wäre, den arbeitsuchenden Proletarier dann in seinen
Einkünften zu schmälern, wenn der Heischende aus
Rot und nicht gerade auf besonderen Ruf des Fabrik-
Drotverteilung an äen Eingängen zum Louvre
im Winter 169z
Nach einem zeitgenössischen Ltiche