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ein wahrhaft klassisches Beispiel. Nicht wegen der Person seines
Verfassers, sondern weil der Brief die Auffassungen weiter Partei
kreise so deutlich kennzeichnet, möge er hier einen Platz finden:
Die besten Wünsche zum neuen Jahre!
Schwere Sorge lastet auf uns allen . . . Quälend sind die schlaflosen
Nächte, in denen wir unserer Lieben gedenken, die im Felde stehen.
Grausam wühlt der Schmerz im Herzen derer, die das Liebste schon haben
hergeben müssen ...
Hut ob vor den Helden, die für unser Vaterland gefallen sind!
Größer als die Sorgen und Schmerzen müssen unser unbeugsamer
Wille, unsere unerschütterliche Entschlossenheit sein. Wir wollen die
furchtbare Zeit nicht nur in klarem Bewußtsein mit offenen Augen durch
leben, wir wollen auch die Absichten unserer Feinde zuschanden machen:
wir wollen siegen!
Und so wünsche ich zum Jahreswechsel allen die Kraft, Kummer
und Schmerzen niederkämpfen zu können. Ich wünsche allen den uner
schütterlichen WillenzumDurchhaltenbiszumSiegel
Unseren verwundeten und kranken Soldaten wünsche ich baldige und
vollkommene Genesung. Ihnen und ihren Kameraden, die in den
Schützengräben hausen, zur See oder auf der Wacht dem Vaterlande
dienen — ihnen drücke ich herzhaft die Hand! '
Ihnen ganz besonders rufe ich zu: Haltetaus! Von Euch hängt
es ab, was aus unserem Lande und was aus der deutschen
Arbeiterschaft wird.
Möge uns das neue Jahr baldigen Sieg und dauernden Frieden
bringen!
Berlin, Ende 1914.
Philipp Scheide mann.
Die Leitung der „Bergischen Arbeiterstimme“ in Solingen hatte
zwar diesen Glückwunsch in den Anzeigenteil gesteckt, dorthin also,
wo die Gastwirte, Bäcker und Fleischer ihre Gratulationen an die
geehrte Kundschaft abzuladen pflegen; nichtsdestoweniger entsprach
der Inhalt dieses Scheidemannschen Neujahrsgrußes der allgemein
üblichen sozial-patriotischen Auffassung. Von Verständigung war
damals noch keine Rede; der Feind müsse niedergeworfen, der Friede
diktiert werden. Später, als der Katzenjammer über sie kam, haben
die Scheidemänner tausendfach beteuert, sie hätten von Anfang an
nichts anderes als den Verständigungsfrieden im Sinne gehabt. Dieser
Glückwunsch zeugt für ©ine ganz andere Gesinnung. Es war dieselbe
Gesinnung, die in Tausenden von Reden, Aufsätzen, Broschüren und
Zeitungsartikeln der Konrad Haenisch, Heinrich Schulz, Scheidemann,
Cunow, Cohen, Heilmann, Winnig, Legien in der „Chemnitzer
V olksstimme", der „Schleswig-Holsteinischen
Volkszeitung“ in Kiel, im „Volksfreund“ zu Karlsruhe,
in vielen anderen sozialdemokratischen Blättern zum Ausdruck kam.
Was die wirkliche Pflicht jedes Sozialdemokraten in dieser
Situation war, das hat die Mehrheit der Parteiinstanzen damals eben
sowenig wie während des ganzen Krieges erkannt. Die deutsche
Sozialdemokratie mußte die Kriegsschuld der eigenen Regierung fest
stellen, bevor sie das Recht hatte, die Schuld hei den anderen Re