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führenden Partei zu einer reformistischen Partei, in eine die
Arbeitsgemeinschaft mit dem Kapitalismus anstrebende Bewegung
wandeln konnte, das lag nicht an ihren Führern, sondern an der Ge
staltung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse vor dem
Kriege. Auch in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie
können wir zwei Perioden unterscheiden. Die erste Periode,
die bis zum Jahre 1890, dem Falle des Sozialistengesetzes reicht,
fällt zusammen mit dem Kampf der erstarkenden Industrie gegen die
rückständigen Produktionsmethoden. Bismarck glaubte durch die
Anwendung brutaler Gewalt die zugleich mit dem Kapitalismus em
porkommende Sozialdemokratie so niederschlagen zu können, daß
sie unfähig würde, an der bisherigen Staatsverfassung zu rütteln.
Das war für die Sozialdemokratie die Zeit der bloßen Propa
ganda. Die Partei war schwach sowohl an Mitgliedern, wie an
Vertretungen in den parlamentarischen Körperschaften. Die Orga
nisationen bildeten vorerst nur Stolztrupps, die Massen des Proleta
riats waren entweder politisch indifferent, oder sie segelten im Ge
folge des Liberalismus. Die Parteizeitungen waren damals nicht viel
mehr als periodisch erscheinende erweiterte Flugblätter. Im Reichs
tag wurden Reden zum Fenster hinaus gehalten, an die „praktische
Arbeit" traute man sich -noch nicht so recht heran. Aber die wirt
schaftliche Entwicklung, die ein immer stärker und selbstbewußter
auftretendes Proletariat schuf, sprengte die Fesseln des Sozialisten
gesetzes und stellte die Sozialdemokratie vor neue, sofort zu lösende
Aufgaben. Je größer die Macht des Unternehmertums wurde, desto
schneller mußte die Gewerksch aftsbewegung sich aus
breiten. Das Ziel, die Verwirklichung des Sozialismus, trat in den
Hintergrund, die Bewegung, der Kampf um solche Forderungen,
die schon der Gegenwartsstaat erfüllen konnte, beanspruchte die
größte Aufmerksamkeit. Die Stunde des Revisionismus, des Refor
mismus hatte geschlagen.
Die Sozialdemokratie vermehrte sich unausgesetzt an Wähler
stimmen und an Mitgliedern; von Legislaturperiode zu Legislatur
periode wuchs die Zahl ihrer Reichtagsabgeordneten und schließ
lich, bei Beginn des Weltkrieges, zählte die Partei im Reichstag 110
Mandate, fast ein Drittel der ganzen Volksvertretung. Auch in den
einzelstaatlichen Landtagen wuchs der Einfluß der Partei trotz Drei
klassenwahl und Pluralstimmensystem; in die Stadtverordnetenver
sammlungen und Gemeindevertretungen, selbst in die versteinerten
Provinziallandtage drang immer stürmischer der Wellenschlag unserer
Bewegung. Noch viel schneller ging das Wachstum der Gewerk
schaften voran; die Zeit war vorüber, wo die Arbeiter im Guerilla
krieg, bald hier, bald da vorstoßend, Teilerfolge zur Verbesserung
ihrer wirtschaftlichen Lage erringen konnten. Auch die Unternehmer
hatten sich gesammelt; die Arbeitgeberorganisationen schossen
wie Pilze aus dem Boden und an ihre Seite stellten sich noch be
sondere Antistreikversicherungen. So mußte von selbst den Ar
beitern die Erkenntnis von der Notwendigkeit großer, zentralisierter,
vermögensstarker, jederzeit kampffähiger, aber auch verhandlungs
bereiter Organisationen eingehämmert werden. Schließlich kam
noch die Konsumvereinsbewegung hinzu, die dem Ar
beiter als Verbraucher beistehen und ihn durch die Errichtung eige