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Der Krieg hat alle beteiligten Völker in Not gestürzt, die überall
gleichmäßig zu bekämpfen das solidarische Interesse der Arbeiter in
aller Welt gebietet. Darum sind wir heute mehr denn je an dem Fort
schritt des Sozialismus in allen Ländern interessiert, von ihm hängt es
ab, ob die Arbeiter- oder dis Kapiicilistenklaffe den Sieg in der großen
Weltumwälzung davontragen wird, die dieser Weltkrieg bedeutet.
Wissen wir uns also eins mit den Sozialisten aller Richtungen in
dem Willen zum Sozialismus, so trennt doch nach unserer
Ueberzeugung uns von den anderen die schärfere Erkenntnis der ge
gebenen realen Voraussetzungen und der Schwierigkeiten, die sich unseren: ‘
Willen entgegensetzen. Sozialismus ist ein Entwicklungsziel und ein
richtunggebendes Prinzip der Wirtschaftspolitik. Er ist aber nicht eine
Heilslehre, durch deren Annahme die ganze Welt über Nacht glücklich
gemacht werden, er ist keine mechanische Form, mit der man die ganze
Weltwirtschaft durch einen einzigen Hebeldruck, wie einen Hut, mn-
pressen kann. Sein Objekt ist die Gesellschaft, die aus menschlichen Einzel
wesen besteht, sein eigenes, inner ft es Wesen ist aber
höchste Menschlichkeit, drum darf er nicht wie Dschaggernaut
aus seiner Sicgcsfahrt Menschen zerquetschen, um Prinzipien durch
zusetzen.
Bloße Umstülpung der Klassenherrschaft bedeutet nur Ersetzung von
Routiniers durch Dilettanten, Ersetzung einer durch Altersschwäche duld
sam gewordenen Regierungsweise durch grausamen Mißbrauch der Macht,
Entstehung einer neuen Herrscherkaste und eines Schieber- und Wucher-
kapitalismus, der aus allen Poren Blut und Schmutz triefend zur Welt
kommt. Unser Ziel ist die Aufhebung der Klassengegensätze, der Weg
dazu die Demokratie, die bei unserem Stande wirtschaftlicher Entwick
lung notwendig in den Sozialismus hinüberleiten muß.
Demokratie ist Volksherrschaft. Wenn die Monarchie so ist, wie der
Monarch, so ist Demokratie so, wie das Volk ist. Demokratie ist etwas
anderes in einem Agrarland als in einem hochentwickelten Industrie
land, etwas anderes bei einem gebildeten Volk als bei einem Volk von
Analphabeten. Wir glauben, daß die deutsche Arbeiterklasse reif und
gebildet genug ist, um auf dem Weg über die Demokratie zum
Sozialismus aufsteigen zu können: wäre dieser Glauben falsch,
dann gäbe es auch keinen anderen Weg dahin, denn das Schicksal einer
Arbeiterklaffe, die diese Machtmittel nicht zu gebrauchen verstünde, wäre
hoffnungslos.
Die Umwälzung des November 1918 hat nichts Vollkommenes ge
schaffen, das in seiner Vollkommenheit erstarrt, sondern wieder riur
etwas Entwicklungsfähiges, Werdendes. Aber ihre Bedeutung wird ver
kleinert, wenn man verkennt, daß hier dis Arbeiterklasse einem großen
Staat die Zeichen ihres Geistes aufgeprägt hat. Das arbeitende Volk hat
aus dem Trümmerfall des Weltkriegs die demokratische Republik Deutsch
land geschaffen, niemand wird auf die Dauer imstande sein, ihm in
diesem Hause, das es sich selbst gebaut hat, eine Knechtsrolle aufzu
zwingen.' Der Kapitalismus ist noch nicht überwunden, und der Kampf
gegen ihn wird noch lange dauern, aber er wird, wenigstens soweit cs