§ 104
Zu SS 66 ff-
Die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes von der Versicherungsanstalt festgesetzten Renten
werden sämtlich nach den Vorschriften des achten Abschnitts umgerechnet.
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§ 105
Zu §75':
Bis zum 31. Dezember 1950 ist die Entziehung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (§56) auch
ohne Feststellung einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen deä Berechtigten zulässig, wenn
eine erneute Prüfung ergibt, daß er nicht erwerbsunfähig ist oder daß eine der anderen Voraussetzungen
für die Bewilligung der Rente gefehlt hat. Das gilt nicht für Berechtigte, die am 1. Januar 1949 das
sechzigste Lebensjahr vollendet haben.
Begründung;
Die Aufstellung des Entwurfs eines Gesetzes
über die Sozialversicherung für den Bereich von
Groß-Berlin hat gewichtige Gründe. Er bezweckt
zunächst die Normalisierung der Rechtsgrundlagen,
die die Sozialversicherung nicht länger entbehren
kann. Sodann bekennt er sich zur vollzogenen Neu
gestaltung der Berliner Sozialversicherung, die im
Tageskampf umstritten ist, und die nach einer im-
abhängigen Entscheidung verlangt. Schließlich füllt
er die Lücken und beseitigt Schwächen, die der ge
genwärtigen Notlösung naturgemäß anhaften. Diese
drei Probleme werden im folgenden kurz aufgezeigt.
I
Nach dem Zusammenbruch schien die finanzielle
Lage der Sozialversicherung in Berlin unrettbar.
Ihre Rücklagen waren- entwertet oder vernichtet. Ihr
Risiko hatte sich äußerst verschärft: Anteil der alten
Menschen im Aufbau unserer Bevölkerung mehr als
verdoppelt; geschwächter, ja unterhöhlter Gesund
heitszustand auch der arbeitswichtigsten Jahrgänge
(Kriegsteilnehmer, Heimkehrer)^ große Zahl der
Schwerbeschädigten. Der versicherungstechnische
Apparat lag still und war weitgehend zerstört.
Zunächst trat die öffentliche Fürsorge ein. um
den Massennotstand zu lindern. Gleichzeitig begann
die Abteilung für Sozialwesen die Vorbereitung für
den Wiederaufbau der Sozialversicherung in mög
lichst einfacher Weise. Am 9. Juli 1945 beschloß der
Magistrat eine entsprechende Anordnung; diese er
hielt am 14. Juli die Genehmigung zur Veröffent
lichung durch die Kommandantur (Verordnungs
blatt S. 64/5).
Diese Regelung war von dem früheren Reichs
recht der Sozialversicherung in wichtigen Punkten
abgewichen, ohne daß die politischen Parteien dabei
halten mitsprechen können.
Jetzt, da Erfahrungen aus drei Jahren vorliegen,
und die Geldreform ohnehin die Frage nach Auf
wand und Deckung neu aufwirft, muß die Entschlies-
sung des Gesetzgebers nachgeholt werden. Die syste
matische Überprüfung der gesamten Materie durch
den Gesetzgeber kann nicht bis zu dem ungewissen
Zeitpunkt aufgeschoben werden, an dem eine ge
samtdeutsche Regelung möglich ist. Die lebens
wichtige Funktion der Sozialversicherung, für den
Einzelnen wie für das soziale Gemeinwesen, ver
langt geradezu danach, daß sie Gestaltnug und Voll
macht durch einen Akt der ordentlichen Gesetz
gebung empfängt.
Die einheitliche Gestaltung der deutschen So
zialversicherung bleibt selbstverständlich unser un
verrückbares Ziel. Der Versuch, für ein einzelnes
wuchtiges Wirtschaftsgebiet die beste gesetzgebe
rische Lösung zu finden, bietet, bei dem allgemeinen
Streben nach einer Reform der Sozialversicherung,
gesichertes Material für die Brauchbarkeit neuer
Gedanken.
II
Für die Einbringung des Entwurfs spricht
weiterhin, daß das Berliner Versicherungssystem in
zwei wichtigen Punkten grundsätzlich angefochten
wird. Umstritten ist der einheitliche Träger der
Versicherung und der Umfang der Versicherung.
Die entscheidende Frage ist, ob die einheitliche
Versicherungsanstalt für den Stadt-Staat Berlin er
halten bleiben soll, oder ob wirklich für diesen be
grenzten Bereich- die Vielzahl verschiedenartiger
Versicherungsträger und Versicherungssysteme wie
der aufleben soll, in denen sich die ganze politische,
wirtschaftliche und soziale Entwicklung' vor der
Jahrhundertwende noch abzeichnet.
Der Entwurf bejaht die einheitliche Versiche
rungsanstalt Berlin (% 1). IKm liegt die Auffassung
zugriftide, daß nur durch den einheitliche^ Träger
das notwendige, geschlossene soziale Programm Bil
den Schutz der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der
Bevölkerung aufgestellt und durchgeführt werden
kann. Dies ist in drei schweren Nachkriegsjahren
erprobt worden- Es bietet sich dadurch die Mög
lichkeit, das Schwergewicht der Leistungen nach
dem Bedürfnis zu verlagern und es jeweils wechselnd
auf einzelne besonders brennende Aufgaben zu
richten. —
Der Entw-urf hat sich ferner die Überzeugung zu
eigen gemacht, daß es ein Gebot der Stunde sei,- das
komplizierte Recht der Sozialversicherung zu ver
einfachet; eine unausweichliche Zuständigkeit und
Verantwortung für alle Fälle von Arbeitsunfähigkeit
zu schaffen; die Verwaltung zu entlasten und über
sichtlich zu gestalten; die Zersplitterung von Kräften
und Mitteln bei unserer Armut zu vermeiden, um
mit dem geringstmöglichen Aufwand den größtmög
lichen sozialen,Ertrag zu erreichen. - •
Innerhalb der einheitlichen Anstalt gibt der Ent
wurf jedoch die Möglichkeit, das Beitragsaufkomrnen
für die einzelnen- Versichcrungszweige aufzuteilen
(§ 14 Abs. 2), und den Unternehmern Zuschläge für
Betriebe mit erhöhter Unfallgefahr aufzuerlegen
(§ 78 Abs. 2),‘sowie das Überwuchern von Ausgaben
für einen Versicherungszweig zum Nachteil der an
deren zu verhindern (z. B. § 24 Abs. 2, § 27 Abs. 3
Satz 2, § 34 Abs. 10).
Umstritten ist sodann der Umfang der Versiche
rung. Vor allem wird das Versicherungsbedürfnis
für Gewerbetreibende und sonstige Selbständige ver
neint, die die Versicherungsanstalt Berlin, über den
früheren Kreis der Sozialversicherung hinausgehend,
erfaßt hat.
Der Entwurf übernimmt grundsätzlich den Kreis
der Versicherten nach dem geltenden Recht, dehnt
die Versicherungsberechtigung gegenüber der be
stehenden Regelung aus (&g 16 bis 18), beschränkt
jedoch die Versicherungspflicht der Selbständigen
auf die Einkommensgrenze von 7200,— DM (§ 15). Er
geht davon aus, daß unter den gegenwärtigen er
schütterten und unsteten wirtschaftlichen Verhält
nissen die Existenzsicherheit dieser Gruppe von
Selbständigen und ihrer Familien ebenso gefährdet
ist wie die der vergleichbaren Arbeitnehmer. Auch
die Tatsache, daß ein Wechsel zwischen Selbständig
keit und Arbeitnehmertätigkeit häufig vorgenommen
wird, spricht für die Einbeziehung. Schließlish hat
gerade in Berlin der Kleinbetrieb zahlenmäßig und
wirtschaftlich ein bedeutendes Gewicht, so daß einer
seits seine Versicherungpflicht eine Voraussetzung
für das finanzielle Gleichgewicht der Vericherung ist,
während andererseits für diese Gruppe das mutmaß
liche Versicherungsbedürfnis gegeben ist, weil der
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