Path:
Volume No. 50 (1098), 19. November 1910

Full text: Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Berlin (Public Domain) Issue1910 (Public Domain)

633 
Unternehmern eine Mitbenutzung ihrer Anlagen auf eine Strecke bis 
zu 400 m zu gestatten; dafür hat der mitbenutzende Unternehmer der 
Straßenbahn volle Schadloshaltung zu gewähren. Ueber die 
Bedeutung des Begriffes Schadloshaltung, insbesondere darüber, ob 
hierunter auch der Ersatz für einen etwa entstehenden Verkehrsausfall 
zu verstehen sei, war zwischen der Stadtgemeinde und der Großen 
Berliner Straßenbahn Streit entstanden, der Gegenstand eines schieds 
gerichtlichen Verfahrens wurde. Dabei handelte es sich um die beiden 
von der Stadtgemeinde geplanten Straßenbahnlinien ^sogenannte 
Südlinien) Kreuzberg—Dönhoffplatz und Rixdorf—Behrenstraße; bei 
der erstbezeichneten Linie würde eine Mitbenutzung der Anlagen der 
Großen Berliner Straßenbahn von etwa 90 m in der Königgrätzer 
Straße und etwa 81 m in der Wilhelmstraße, bei der zweiten Linie 
von etwa 32 m in der Lindenstraße in Frage kommen. Unter dem 
28. Juni 1908 erging der Schiedsspruch dahin, daß die der Gesell 
schaft zu gewährende volle Schadloshaltung auch die Entschädigung 
für diejenige durch Verkehrsentziehung entstehende Gewinneinbuße 
umfassen, welche der Gesellschaft in dem Betrieb ihrer über die mit 
benutzten Gleisstrecken führenden Linien durch den Betrieb der geplanten 
beiden städtischen Linien erwachsen. 
Da dieser Schiedsspruch zwar die Entscheidung dahin trifft, daß 
der Begriff der Schadloshaltung den Ersatz für eine etwa entstehende 
Verkehrsentziehung mit umfasse, im übrigen aber die Frage, nach 
welche» Grundsätzen diese Gewinneinbuße zu berechnen sei, offen läßt, 
konnte bisher eine Einigung zwischen der Stadtgemeinde und der 
Straßenbahn über die Grundsätze, nach welchen eine derartige Ver- 
kehrscntziehung festzustellen ist, nicht erzielt werden Die aus diesem 
Umstande entspringende Unsicherheit über die Höhe der eventuell von 
der Stadtgemeinde zu gewährenden Entschädigung ist der Grund da 
für, daß die Ausführung der geplanten Südlinien bisher nicht in' 
Angriff genommen worden ist. 
Dagegen hat die Straßenbahn für den durch die von der Stadt- 
gemeinde betriebenen Nordlinien Virchowkrankenhaus—Zentralviehhof 
und Stettiner Bahnhof—Zentralviehhof ihr angeblich zugefügten Ver- 
kehrsansfall Schadenersatzansprüche geltend gemacht. Diese Ansprüche 
umfassen den Zeitraum vom 1. Juli 1908 bis 31. Dezember 1909 
und beziffern sich auf 185 437,i« JC. 
Zu diesem Ergebnis ist die Gesellschaft auf Grund nachstehender 
Berechnung gelangt. 
In Frage kommen eine Mitbenutzungsstraße von 58,s m in der 
Jnvalidenstraße und von 22,5 m in der Fennstraße. Die Berechnung 
ist getrennt aufgestellt für die Periode vom 1. Juli 1908 bis 3L De 
zember 1908, für die Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 1909 und 
für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 1909. 
Für die erste dieser drei Perioden ist die Wagenvesetzung an 
einem Punkt der mitbenutzten Strecke an zwei Tagen der Vergleichs 
perioden — am 9. November 1907 und am 7. November 1908 — 
ausgezählt, die Differenz als Verkehrseinbuße eines Tages behandelt 
und diese Tagesdifferenz mit der Hälfte der Jahrestage multipliziert. 
In gleicher Weise ist die angebliche Verkehrseinbuße für die zweite 
Periode berechnet, nur mit der Maßgabe, daß als Zähltage der 
9. November 1907 und der 13. März 1908 zugrunde gelegt wurden. 
Für die dritte Periode hat die Gesellschaft von dieser Berechnungs- 
Methode Abstand genommen und sich lediglich auf Schätzungen beschränkt; 
sie wendet den Grundsatz an, daß die Verkehrszunahme, welche in der 
in Rede stehenden Zeit auf dem Gesamtnetz ihres Unternehmens ein 
getreten ist, auch auf den der Mitbenutzung unterworfenen Linien 
hätte eintreten müssen, und sie nimmt daher die Differenz zwischen 
dem prozentualen Zuwachs auf dem gesamten Netz und auf den der 
Mitbenutzung unterworfenen Linien als Verkehrsausfall in Anspruch. 
Dabei bringt sie aber nicht nur den Verkehrszuwachs auf ihrem 
eigenen Verkehrsnetz in Ansatz, sondern zieht auch denjenigen, der bei 
ihren Tochtergesellschaften erwachsen ist, in Berechnung. Die so er 
mittelten Halbjahresverkehrsrückgänge sind mit deni Durchschnitts 
erträgnis für einen Fahrgast (9,b j) multipliziert; die demgemäß 
erhaltene Summe ist als Einnahmerückgang in Ansatz gebracht. Von 
den so ermittelten angeblichen Einnahmcrückgängen wird allerdings 
ein Teil auf die in den gedachten Zeiträumen herrschende wirtschaftliche 
Depression zurückgeführt; der hierfür in Abzug gebrachte Betrag wird 
auf nur 5 und 4 pCt. der errechneten Verkehrseinbuße in Ansatz 
gebracht; dieser Prozentsatz wird aber nicht auf die tatsächlich erzielte 
Vorjahrseinnahme, sondern auf den errechneten Einnahmcrückgang 
bezogen, so daß nach der Berechnungsmethode der Gesellschaft für die 
beiden ersten Perioden nur ein Betrag von Vio pCt. für die dritte 
Periode von 0,i7«8 pEt. des Jahresverkehrs auf das Konto der wirt- 
fchafilichen Depression zu setzen wäre. 
Endlich bringt die Gesellschaft den Umstand in Anrechnung, daß 
der angebliche Verkehrsrückgang eine Minderleistung an Wagenkilo 
metern zur Folge gehabt habe; für die hierdurch erzielte Ausgabe- 
ersparnis wird ein Betrag von der berechneten Emnahmeausfallziffer 
in Abzug gebracht. Die Zahlung des nach dieser Berechnung sich 
ergebenden Betrages wird als Schadensersatz von der Stadtgemeinde 
beansprucht. 
Die Stadtgemeinde vermag im vorliegenden Falle den geltend 
gemachten Schadensersatzanspruch nicht als begründet anzuerkennen. 
Zunächst ist nicht außer Acht gelassen, daß das obenerwähnte Schieds 
gerichtsurteil nur für die Südlinien Geltung hat, und daß die Frage, 
ob und in welchem Umfange ein Schadensersatzauspruch auch für die 
Nordlinien gegeben ist, hinsichtlich der Nordlinien richterlicher Ent- 
scheidung noch nicht unterlegen hat. Aber auch wenn inan die für 
die Südlinien ausgesprochenen Grundsätze in gleicher Weise auf die 
Nordlinien anwenden wolle, kann es nicht in Zweifel gezogen werden, 
daß zur Begründung des Schadensersatzanspruches der Nachweis 
gehört, nicht nur. daß ein Verkehrsausfall entstanden ist. sondern daß 
für diesen Berkehrsausfall die von der Stadtgemeinde ausgeübte Mit 
benutzung ursächlich gewesen ist. Dies kann nur dann angenommen 
werden, wenn Fahrgäste zur Erreichung ihres Reisezieles in gleicher 
oder vorteilhafterer Weise die städtischen Linien statt derjenigen der 
Gesellschaft hätten benutzen können. 
Dieser Nachweis ist aber von der Straßenbahn nicht einmal 
versucht worden, würde auch schwerlich zu erbringen sein, da bei der 
Geringfügigkeit der mitbenutzten Strecke eher von einer Kreuzung als 
von einer Mitbenutzung die Rede sein kann, überdies die angeblich 
in Mitleidenschaft gezogenen Linien der Gesellschaft, wie ein Blick auf 
den Stadtplan zeigt, fast durchweg einen anderen Verlauf haben, als 
die städtischen Linien. 
Abgesehen von diesem grundsätzlichen Einwand müssen die von 
der Gesellschaft zur Begründung ihres Anspruches gewählten Grund- 
lagen, sowohl als auch die Berechnungsmethode als verfehlt bezeichnet 
werden 
Verfehlt ist es vor allem, wenn die Gesellschaft den Grundsatz 
aufstellt, daß die auf ihrem gesamten Verkehrsnetz erzielten Ergebniffe 
normaler Weise auch auf die der Mitbenutzung unterworfenen Linien 
in gleicher Weise in Erscheinung treten müßten, derart, daß wenn 
beispielsweise die Verkehrscinnahme der Großen Berliner Straßen 
bahn im Jahre 1908 im ganzen um rund 5 pCt. größer war, als 
im Jahre 1907, diese Zuwachsziffer auch den hier in Rede stehenden 
Linien hätte zukommen müssen. Es ist hierbei übersehen, daß alle 
die Umstände, welche das Verkehrsleben beeinflussen, wie Konjunktur 
schwankungen, die Eröffnung neuer Reiseziele, Erweiterungen und 
Aenderungen des Netzes. Betriebsändcrungen, Witterungseinflüsse, 
Eigenkonkurrenz und dergl. auf den einzelnen Linie» nicht dieselbe 
Wirkung äußern, wie auf dem Gesamtney. Dies wird schlagend 
durch die folgende Zusammenstellung erwiesen, welche den jährlich an 
die Stadt Berlin zum Zwecke der Abgabenermittelung eingereichten 
Verkehrsangaben der Gesellschaft entnommen ist. 
Linie Nr. 
Einnahme in M 
Zunahme 
in At 
Abnahme 
in M 
Zunahme 
in PCI. 
Abnahme 
in pCt. 
1907 
1909 
1 
1164 488 
1064 606 
99 882 
8,6 
2 
645 336 
563 666 
— 
81671 
— 
12.« 
3 
1 456 847 
1 377 647 
— 
79200 
— 
5.4 
4 
476 872 
469951 
6 921 
1,5 
6 
811751 
292856 
18895 
— 
6,i 
9 
344 047 
315 406 
— 
28 641 
— 
8,3 
10 
164 509 
144 249 
— 
20 260 
— 
12,3
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.