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Unternehmern eine Mitbenutzung ihrer Anlagen auf eine Strecke bis
zu 400 m zu gestatten; dafür hat der mitbenutzende Unternehmer der
Straßenbahn volle Schadloshaltung zu gewähren. Ueber die
Bedeutung des Begriffes Schadloshaltung, insbesondere darüber, ob
hierunter auch der Ersatz für einen etwa entstehenden Verkehrsausfall
zu verstehen sei, war zwischen der Stadtgemeinde und der Großen
Berliner Straßenbahn Streit entstanden, der Gegenstand eines schieds
gerichtlichen Verfahrens wurde. Dabei handelte es sich um die beiden
von der Stadtgemeinde geplanten Straßenbahnlinien ^sogenannte
Südlinien) Kreuzberg—Dönhoffplatz und Rixdorf—Behrenstraße; bei
der erstbezeichneten Linie würde eine Mitbenutzung der Anlagen der
Großen Berliner Straßenbahn von etwa 90 m in der Königgrätzer
Straße und etwa 81 m in der Wilhelmstraße, bei der zweiten Linie
von etwa 32 m in der Lindenstraße in Frage kommen. Unter dem
28. Juni 1908 erging der Schiedsspruch dahin, daß die der Gesell
schaft zu gewährende volle Schadloshaltung auch die Entschädigung
für diejenige durch Verkehrsentziehung entstehende Gewinneinbuße
umfassen, welche der Gesellschaft in dem Betrieb ihrer über die mit
benutzten Gleisstrecken führenden Linien durch den Betrieb der geplanten
beiden städtischen Linien erwachsen.
Da dieser Schiedsspruch zwar die Entscheidung dahin trifft, daß
der Begriff der Schadloshaltung den Ersatz für eine etwa entstehende
Verkehrsentziehung mit umfasse, im übrigen aber die Frage, nach
welche» Grundsätzen diese Gewinneinbuße zu berechnen sei, offen läßt,
konnte bisher eine Einigung zwischen der Stadtgemeinde und der
Straßenbahn über die Grundsätze, nach welchen eine derartige Ver-
kehrscntziehung festzustellen ist, nicht erzielt werden Die aus diesem
Umstande entspringende Unsicherheit über die Höhe der eventuell von
der Stadtgemeinde zu gewährenden Entschädigung ist der Grund da
für, daß die Ausführung der geplanten Südlinien bisher nicht in'
Angriff genommen worden ist.
Dagegen hat die Straßenbahn für den durch die von der Stadt-
gemeinde betriebenen Nordlinien Virchowkrankenhaus—Zentralviehhof
und Stettiner Bahnhof—Zentralviehhof ihr angeblich zugefügten Ver-
kehrsansfall Schadenersatzansprüche geltend gemacht. Diese Ansprüche
umfassen den Zeitraum vom 1. Juli 1908 bis 31. Dezember 1909
und beziffern sich auf 185 437,i« JC.
Zu diesem Ergebnis ist die Gesellschaft auf Grund nachstehender
Berechnung gelangt.
In Frage kommen eine Mitbenutzungsstraße von 58,s m in der
Jnvalidenstraße und von 22,5 m in der Fennstraße. Die Berechnung
ist getrennt aufgestellt für die Periode vom 1. Juli 1908 bis 3L De
zember 1908, für die Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 1909 und
für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 1909.
Für die erste dieser drei Perioden ist die Wagenvesetzung an
einem Punkt der mitbenutzten Strecke an zwei Tagen der Vergleichs
perioden — am 9. November 1907 und am 7. November 1908 —
ausgezählt, die Differenz als Verkehrseinbuße eines Tages behandelt
und diese Tagesdifferenz mit der Hälfte der Jahrestage multipliziert.
In gleicher Weise ist die angebliche Verkehrseinbuße für die zweite
Periode berechnet, nur mit der Maßgabe, daß als Zähltage der
9. November 1907 und der 13. März 1908 zugrunde gelegt wurden.
Für die dritte Periode hat die Gesellschaft von dieser Berechnungs-
Methode Abstand genommen und sich lediglich auf Schätzungen beschränkt;
sie wendet den Grundsatz an, daß die Verkehrszunahme, welche in der
in Rede stehenden Zeit auf dem Gesamtnetz ihres Unternehmens ein
getreten ist, auch auf den der Mitbenutzung unterworfenen Linien
hätte eintreten müssen, und sie nimmt daher die Differenz zwischen
dem prozentualen Zuwachs auf dem gesamten Netz und auf den der
Mitbenutzung unterworfenen Linien als Verkehrsausfall in Anspruch.
Dabei bringt sie aber nicht nur den Verkehrszuwachs auf ihrem
eigenen Verkehrsnetz in Ansatz, sondern zieht auch denjenigen, der bei
ihren Tochtergesellschaften erwachsen ist, in Berechnung. Die so er
mittelten Halbjahresverkehrsrückgänge sind mit deni Durchschnitts
erträgnis für einen Fahrgast (9,b j) multipliziert; die demgemäß
erhaltene Summe ist als Einnahmerückgang in Ansatz gebracht. Von
den so ermittelten angeblichen Einnahmcrückgängen wird allerdings
ein Teil auf die in den gedachten Zeiträumen herrschende wirtschaftliche
Depression zurückgeführt; der hierfür in Abzug gebrachte Betrag wird
auf nur 5 und 4 pCt. der errechneten Verkehrseinbuße in Ansatz
gebracht; dieser Prozentsatz wird aber nicht auf die tatsächlich erzielte
Vorjahrseinnahme, sondern auf den errechneten Einnahmcrückgang
bezogen, so daß nach der Berechnungsmethode der Gesellschaft für die
beiden ersten Perioden nur ein Betrag von Vio pCt. für die dritte
Periode von 0,i7«8 pEt. des Jahresverkehrs auf das Konto der wirt-
fchafilichen Depression zu setzen wäre.
Endlich bringt die Gesellschaft den Umstand in Anrechnung, daß
der angebliche Verkehrsrückgang eine Minderleistung an Wagenkilo
metern zur Folge gehabt habe; für die hierdurch erzielte Ausgabe-
ersparnis wird ein Betrag von der berechneten Emnahmeausfallziffer
in Abzug gebracht. Die Zahlung des nach dieser Berechnung sich
ergebenden Betrages wird als Schadensersatz von der Stadtgemeinde
beansprucht.
Die Stadtgemeinde vermag im vorliegenden Falle den geltend
gemachten Schadensersatzanspruch nicht als begründet anzuerkennen.
Zunächst ist nicht außer Acht gelassen, daß das obenerwähnte Schieds
gerichtsurteil nur für die Südlinien Geltung hat, und daß die Frage,
ob und in welchem Umfange ein Schadensersatzauspruch auch für die
Nordlinien gegeben ist, hinsichtlich der Nordlinien richterlicher Ent-
scheidung noch nicht unterlegen hat. Aber auch wenn inan die für
die Südlinien ausgesprochenen Grundsätze in gleicher Weise auf die
Nordlinien anwenden wolle, kann es nicht in Zweifel gezogen werden,
daß zur Begründung des Schadensersatzanspruches der Nachweis
gehört, nicht nur. daß ein Verkehrsausfall entstanden ist. sondern daß
für diesen Berkehrsausfall die von der Stadtgemeinde ausgeübte Mit
benutzung ursächlich gewesen ist. Dies kann nur dann angenommen
werden, wenn Fahrgäste zur Erreichung ihres Reisezieles in gleicher
oder vorteilhafterer Weise die städtischen Linien statt derjenigen der
Gesellschaft hätten benutzen können.
Dieser Nachweis ist aber von der Straßenbahn nicht einmal
versucht worden, würde auch schwerlich zu erbringen sein, da bei der
Geringfügigkeit der mitbenutzten Strecke eher von einer Kreuzung als
von einer Mitbenutzung die Rede sein kann, überdies die angeblich
in Mitleidenschaft gezogenen Linien der Gesellschaft, wie ein Blick auf
den Stadtplan zeigt, fast durchweg einen anderen Verlauf haben, als
die städtischen Linien.
Abgesehen von diesem grundsätzlichen Einwand müssen die von
der Gesellschaft zur Begründung ihres Anspruches gewählten Grund-
lagen, sowohl als auch die Berechnungsmethode als verfehlt bezeichnet
werden
Verfehlt ist es vor allem, wenn die Gesellschaft den Grundsatz
aufstellt, daß die auf ihrem gesamten Verkehrsnetz erzielten Ergebniffe
normaler Weise auch auf die der Mitbenutzung unterworfenen Linien
in gleicher Weise in Erscheinung treten müßten, derart, daß wenn
beispielsweise die Verkehrscinnahme der Großen Berliner Straßen
bahn im Jahre 1908 im ganzen um rund 5 pCt. größer war, als
im Jahre 1907, diese Zuwachsziffer auch den hier in Rede stehenden
Linien hätte zukommen müssen. Es ist hierbei übersehen, daß alle
die Umstände, welche das Verkehrsleben beeinflussen, wie Konjunktur
schwankungen, die Eröffnung neuer Reiseziele, Erweiterungen und
Aenderungen des Netzes. Betriebsändcrungen, Witterungseinflüsse,
Eigenkonkurrenz und dergl. auf den einzelnen Linie» nicht dieselbe
Wirkung äußern, wie auf dem Gesamtney. Dies wird schlagend
durch die folgende Zusammenstellung erwiesen, welche den jährlich an
die Stadt Berlin zum Zwecke der Abgabenermittelung eingereichten
Verkehrsangaben der Gesellschaft entnommen ist.
Linie Nr.
Einnahme in M
Zunahme
in At
Abnahme
in M
Zunahme
in PCI.
Abnahme
in pCt.
1907
1909
1
1164 488
1064 606
99 882
8,6
2
645 336
563 666
—
81671
—
12.«
3
1 456 847
1 377 647
—
79200
—
5.4
4
476 872
469951
6 921
1,5
6
811751
292856
18895
—
6,i
9
344 047
315 406
—
28 641
—
8,3
10
164 509
144 249
—
20 260
—
12,3