J\1 50.
Horkagen
für die
Stadtverordnetenversammlung zu Berlin.
1235. Protokoll des Ausschusses zur Vorberatung der Vor
lage (Drucksache 1118), betreffend die Einstellung
erhöhter und neuer Zuwendungen und Beiträge in
den Spezialetat 48 für 1888.
Verhandelt Berlin, den 16. Dezember 11)07.
An wesend:
Sladtverordnetenvorsteher-Stellvertreter Michelel, Vorsitzender,
Stadtverordneter Liebenow, Vorsitzenderstellverlreter,
- Hammerstein,
- Liebermann,
- I)r. Bernstein,
- Plischke,
- Rosenow,
Borgmann,
Cassel,
Glocke,
- Hintze,
- Kyllmann,
- Goeroldt,
Schulze,
- Sonnenfeld.
Als Magistratsvertreter:
Stadtrat Namslau,
Stadtschulrat Or. Fischer.
Durch Beschluß der Stadtverordnetenversammlung vom
5. Dezember d. Fs. — Protokoll 16 — ist dem obigen Ausschuß der
Antrag des Stadtverordneten vr. Arons und Genossen:
Tie Versammlung ersucht den Magistrat, dem Verein für Kinder
volksküchen sofort dienötigen Mittel zur Verfügung zu stellen, da
mit derselbe in der Lage ist, diesen Winter seinen Vereinszweck voll
zur Durchführung zu bringen,
überwiesen worden.
Bei der Beratung über den Antrag nahm zuerst der Herr Stadt
schulrat das Wort und führte aus, daß unter seinem Vorsitz am
13. Dezember 1907 eine Versammlung von Rektoren, Lehrern und
Lehrerinnen getagt habe, um über die Schulspeisungsfrage zu beraten.
Zunächst habe er bei dieser Gelegenheit auf die bisher von ihm in
der Sache getanen Schritte hingewiesen Insbesondere sei von ihm
mitgeteilt worden, daß er auf Grund des vom Verein für Kinder
volksküchen gelieferten Zahlenmaterials eine übersichtliche Zusammen
stellung der bei der Schulspeisung beteiligten Kinder habe fertigen
lassen. Dabei sei die auffallende Erscheinung zu Tage getreten, daß
einzelne Schulen, selbst in armen Stadtgcgenden nicht beteiligt ge
wesen wären und ferner von Schulen, die auf demselben Grundstück
lägen, die Prozentsätze der von jeder zur Speisung angemeldeten
Schüler erheblich differiert hätten. Er habe nun bei den Rektoren
der etwa 40 nicht beteiligten Schulen nach dem Grunde dieser auf
fälligen Tatsache gefragt und darauf von einen Teil zur Antwort er
halten, daß Kinder an der betreffenden Anstalt nicht vorhanden seien,
die für die Freispeisung in Betracht kämen. Andere wieder hätten
ausgeführt, daß die nächste Volksküche zu weit entfernt sei. Von ver-
, schiedenen Seiten aber wären Bedenken gegen die Zuweisung der
' Schüler mitgeteilt worden. Ein Rektor sei z. B. der Meinung ge-
- wesen, es käme dem Verein nicht auf die Speisung armer Kinder
I an, sondern auf die Beschaffung eines Materials zu agitatorischen
agitatorischen Zwecken. Ferner gefährde die Einrichtung der Kindervolks-
küchen das Familienleben, indem die Kinder sich daran gewöhnen, alles,
wesien sie bedürfen, von Fremden zu begehren und daher keine An
hänglichkeit an das elterliche Haus hätten. AIs besonders schädlich
über werde der Umstand bezeichnet, daß die Kinder oft vor der Empfang
nahme des Essens bei Wind und Wetter auf der Straße, von einem
Schutzmann bewacht, stehen müßten und hierdurch gesundheitlichen
Schäden ausgesetzt seien.
Der Herr Stadtschulrat führte dann weiterhin aus, daß in der
an seine Mitteilungen anschließenden Debatte von einem Rektor ge
äußert worden wäre, es erscheine auffallend, daß in diesem Jahre der
Vorsitzende des Vereins, Herr Hermann Abraham, auffordert, ihm
noch mehr Kinder zu schicken, das Essen solle jetzt besonders gut sein.
I Es liege also offenbar ein Bestreben des Vereins vor, in diesem Jahre
beweiskräftiges Material zu schaffen. Die Versammlung der Rektoren usw.
wäre endlich zu dem Schluffe gekommen, daß der bisherige Betrieb
der Kindervolksküchen zu beanstanden sei unv in dem Bestreben, recht
großeZahlen aufweisen zu können. Kinder künstlich herangezogen würden,
die es nicht nötig hätten. Eine außerordenlliche Unterstützung in diesem
Winter erscheine nur gerechtfertigt, wen» die Speisung auf die wirklich
bedürftigen Kinder beschränkt bliebe. Redner wies des weiteren darauf
hin, daß schon vor 12 Jahren ähnliche Verhandlungen geschwebt hätten.
Die Notwendigkeit einer Subvention an den Verein sei damals jedoch
nicht für vorliegend erachtet worden. Auch die pädagogische Presse
habe sich mit dieser Frage beschäftigt und den Standpunkt eingenommen,
daß die Notlage in den einzelnen Fällen nicht genügend geprüft bezw.
nicht nach einheitlichen Gesichtspunkten bei den Recherchen verfahren
werde. Es sei dies ja auch schon darin begründet, daß die rein
persönliche Ausfaffung des betreffenden Rektors oder Lehrers in Betracht
käme. Vom Standpunkt des Schulinteresses aus hielt der Herr Stadt
schulrat die Recherchen durch die Lehrer für nicht wünschenswert, da
bei Ablehnungen leicht der vertrauliche Konnex zwischen Schule und
Haus eine Trübung erfahren könnte.
Der Herr Vorsitzende verlas sodann eine Petition des Fabrikanten
Max Moses, in welcher dieser anregt, einen Aufruf an die begüterte
Berliner Bürgerschaft zu erlassen, arme Kinder zur Mittagsspeisung
bei sich aufzunehmen. Der Ausschuß trat dieser Petition jedoch
nicht näher.
Hinsichtlich der Recherchen durch die Lehrer wurde von ver
schiedenen Seiten die Meinung vertreien, daß gerade die letzteren hierzu
berufen seien, da sie die Kinder beim Frühstücken beobachten und
hieraus sowie aus der Kleidung rc. Schlüsse auf die Verhältnisse der
Eltern ziehen könnten. Die Behauptung, der Verein habe agitatorische
Zwecke im Auge, wurde von anderer Seite als schroffe Verdächtigung
hingestellt und ausgeführt, daß er eine sehr segensreiche Tätigkeit ent
faltet habe. Es sei Tatsache, daß bis Ende November 1907 die Zahl
der verteilten Portionen gegen das Vorjahr um mehr als die Hälfte
gestiegen wäre. Es könnten ferner wegen der beschränkten Mittel säst
nur kränkliche Kinder unterstützt werden, während gesunde ausgeschlossen
werden müßten. Eine Subvention an den Verein sei daher dringend
erforderlich. Die vom Vereine übersandte Broschüre ergebe aber ferner,
daß je nach den sozialen Schichten der Bevölkerung der einzelnen
Stadtteile das Bedürfnis der Freispeisung steige bezw. falle. Die
Differenzen zwischen den Zahlen der von aui demselben Grundstück
belegenen Schulen zur Speisung entsandten Kinder seien mithin nur
auf die verschiedenartige Auffassung der betreffenden Rektoren über
die Bedürftigkeit der Schüler zurückzuführen.
Von einer Seite wurde fernerhin der Meinung Ausdruck gegeben,
daß die Speisen nicht ausreichend, streu. An einem Tage würde z. B.
Reis mit" Pflaumen gereicht, an einem anderen Haserkakao und saure
Bohnen und nur an 2 Tagen in der Woche gäbe es eine Fleisch
beilage. Dem wurde jedoch entschieden entgegengetreten, da der Verein
offenbar eine vegetarische Beköstigung durchführe und dies in gesund
heitlicher Beziehung für die Kinder nur zu bewillkommnen sei.
Hierauf wurde zur Sprache gebracht, daß eine gewisse Animosität
gegen den Leiter des Vereins bestände. Diese sei keineswegs un
berechtigt. In erster Linie wäre sein selbstherrliches Wesen zu ver-
urteilen, insbesondere aber sein Bestreben, sich an höhere Personen
über den Kopf anderer hinweg zu wenden. Ferner müßte die Kassen
führung und Rechnungslegung des Vereins bemängelt iverden. Bei
einer Vereinigung, welche, wie die in Rede stehende, durch Wohl
tätigkeitsfeste rc. die Mildtätigkeit der Bürger in umfangreichem Maße
in Anspruch nehme und hieraus hohe Summen für ihre Zwecke ge
wönne, wäre ein auf das Genaueste kontrolliertes Kassenwesen doch
entschieden Bedingung.
Der Herr Stadtschulrat teilte ferner mit, daß die Stadtschulärzte
sich gegen eine Subvention an den Verein erklärt hälfen. Hierzu
wurde von einer Seite bemerkt, daß die'Schülärzie gar nicht die
Verhältniffe der Schüler kennen könnten, da jedem der ersteren mehrere
Bezirke zugeteilt wären und ein Eindringen in die Privatverhältniffe
der Kinder ihnen nicht möglich sein dürfte.
Einen Hauptpunkt der Verhandlungen bildete indessen die Frage,
ob denn wirklich eine Notlage vorliege, insbesondere in dem Grade,
wie es die Broschüre behaupte. Zur Prüfung dieser Frage wurde
das vom Verein übersandte Material verteilt.
Daß >n der Tat infolge der Streiks im Baugewerbe sowie der
Verteuerung der Lebensmittel eine erhöhte Notlage der niedrigeren
Bevölkerungsschichten zu bemerken sei und eine Steigerung der Armut
durch die Rückwanderungen aus Amerika sowie die bevorstehende
Arbeitslosigkeit der Bauarbeiter zu erwarten stände, wurde im all-