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Volume No. 52 (1146-1173), 15. Dezember 1900

Full text: Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Berlin (Public Domain) Issue1900 (Public Domain)

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über. Das Oberverwaltungsgericht z. B. hebt in einer Entscheidung 
als besonderes Merkmal der Hausindustriellen ihre persönliche Un 
abhängigkeit dem Arbeitgeber gegenüber und ihre größere Freiheit in 
der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses hervor. Bei dieser Auffassung 
werden zahlreiche außerhalb der Betriebswerkstätte des Arbeitgebers 
für ihn thätige Personen unzweifelhaft als Hansindustrielle anzu- 
zusehen sein, da ja gerade die persönliche Unabhängigkeit in vielen 
Fällen einer der Anlässe dazu ist, daß der Arbeiter seine Thätigkeit 
in die eigene Wohnung verlegte oder verlegen mußte. Von anderer 
Seite wird dagegen mehr Gewicht auf den Entwicklungsgang der 
Hallsindustriellen gelegt, und die Erwägung, daß dieselben 'meist 
ursprünglich Werkstattarbeiter waren und daß sie auch nach ihrem 
Ausscheiden aus der Werkstatt in ihren wirthschaftlichen Verhältnissen 
den Arbeitern weit näher stehen als den selbstständigen Gewerbe- 
treibenden, führt dann dazu, in ihnen Heimarbeiter zu sehen. Eine 
Beseitigung dieses höchst mißlichen Zwiespalts der Meinungen ist auch 
von einer allmählich sich einbürgernden Praxis nicht zu erwarten, da 
hierfür die betreffenden gewerblichen Verhältnisse viel zu mannig- 
faltig sind. Die Streitfrage würde dagegen sofort beseitigt werden, 
wenn durch die Ausdehnung des Versicherungszwanges auf die 
Hansindustriellen wieder eine gleichmäßige Behandlung für sie und 
die Heimarbeiter eingeführt würde. Die an sich naheliegende Be- 
sorgniß, es würde an Stelle des jetzigen Streites über die Abgrenzung 
der Heimarbeiter von den Hausindustriellen nach Einführung der 
Zwangsversicherung für die letzteren der Streit über die Abgrenzung 
dieser Personen gegen die vollständig selbstständigen Gewerbetreibenden 
treten, ist nach dem Gutachten der vernommenen Auskunftspersonen 
nur zu einem kleinen Theil begründet, da nur für die Holz- und 
Metalldreherei, die Kürschnerei und die Sattlerei Schwierigkeiten ge 
fürchtet werden. Es wird also in jedem Falle ein erheblicher Fort 
schritt gegen den jetzigen Zustand erzielt werden. 
Die für die Arnien-Direktion so lästige Streitfrage über „Heim 
arbeit" oder „Hausindustrie" hat für die Krankenkassen noch schlimmere 
Wirkungen und läßt von ihrem Standpunkt aus den Wunsch nach 
Ausdehnung der Zwangsversicherung noch mehr berechtigt erscheinen. 
Die zahlreichen Ansprüche nämlich, die die Armen-Direktion auf Grund 
ihres oben erwähnten Rechts gegen die Krankenkassen geltend macht, 
werden im Streitfälle von den Verwaltungsgerichten entschieden und 
von diesen ist der hiesige Bezirksausschuß sehr geneigt, zu Gunsten 
der Versicherungspflicht zu entscheiden und demgemäß die Kassen zur 
Zahlung der Unterstützung zu verurtheilen. Wenn dann aber die 
Kassen nach einer solchen Entscheidung vom Arbeitgeber der unter 
stützten Person Beiträge einziehen wollen, stoßen sie in der Regel 
auf Widerstand und sind dann zur Verfolgung ihrer Ansprüche — 
nach einer Vorentscheidung der Gewerbe-Deputation — auf den ordent 
lichen Rechtsweg angewiesen. Auf diesem Jnstanzenzuge ist aber 
mehr Neigung vorhanden, die Versicherungspflicht zu verneinen. So 
kommt es, daß die Kaffen häuflg in derselben Sache vom Ver 
waltungsgerichte vernrtheilt werden, Unterstützungen zu gewähren, vom 
ordentlichen Gerichte aber mit ihrem Ansprüche auf Beiträge ab 
gewiesen werden. Es liegt auf der Hand, daß dieser Zustand sowohl 
wegen des Schadens, den die Kaffen an ihrem Vermögen dadurch 
erleiden, als wegen der schweren Verletzung des Rechtsgefühls, ein 
unhaltbarer ist. 
Auch sonst haben die Kassen von den, jetzigen Rechtszuftand 
erhebliche Nachtheile. Einmal besteht der jetzt freiwillig versicherte 
Theil der Hausindustriellen fast ausschließlich aus kränklichen und 
schwächlichen Personen, die weit mehr Unterstützungen erhalten, als sie 
an Beiträgen leisten. Sodann findet eine Ausbeutung der Kassen 
durch die Hansindustriellen vielfach in der Art statt, daß Haus 
industrielle sich erst dann, wenn eine Krankheit sich bei ihnen schon 
bemerkbar macht, durch ihren Arbeitgeber als versicherungspflichtige 
Heimarbeiter bei der Kaffe anmelden lassen und damit einen Anspruch 
auf Unterstützungen erwerben, deren Kosten in gar keinem Verhältniß 
zu den für kurze Zeit gezahlten Beiträgen stehen. Die Arbeitgeber 
folgen dabei einem sehr begreiflichen, aber in seinen Folgen bedenk 
lichen Mitgefühl, und die Kassen können sich dagegen fast nie schützen, 
da Arbeitgeber und Hausindustrielle in solchen Fällen wohl immer 
die einzigen Zeugen für die Natur des Arbeitsverhältnisses sein 
werden und dieses sich bei der unsicheren Grenze zwischen Heimarbeit 
und Hausindustrie ebenso gut als das eine, wie als das andere dar 
stellen läßt. 
Der Einwand, daß die Krankenkassen die Versicherung der Haus 
industriellen wegen ihrer schlechten gesundheitlichen Verhältnisse nicht 
tragen könnten, ohne ungebührlich hohe Beiträge zu erheben, kann 
nicht als begründet anerkannt werden. Wenn z. B. die Orts-Kranken- 
kasse der Gastwirthe, trotz der bekannten erheblichen Erkrankungsgefahr 
der bei ihr versicherten Kellnerinnen, bei mäßigen Beiträgen eine 
durchaus günstige Entwickelung gezeigt hat und noch jetzt zeigt, ob- 
wohl ihr neuerdings durch Errichtung der Jnnungs-Krankenkasse der 
Gastwirthe ein erheblicher Theil der gesundheitlich besseren Mitglieder 
entzogen ist, so ist damit der Beweis geliefert, daß auch bei un- 
günstigen gesundheitlichen Verhältnissen sich eine geordnete Versicherung 
durchführen läßt, sofern nur durch den allgemeinen Versicherungs- 
zwang auch die gesunden Angehörigen eines Gewerbszweiges zur 
Theilnahme an den Lasten der Versicherung herangezogen werden. 
In jedem Falle wird der Schaden, den die Ausdehnung des Ver 
sicherungszwanges auf die Hausindustriellen den Kaffen zufügen 
kann, nicht größer sein wie der, den jetzt die geschilderten Mißstände 
mit sich bringen. 
Als wenigstens mittelbar an der Krankenversicherung betheiligt 
sind endlich die Aerzte zu erwähnen. Sie erkennen zwar auch an, 
daß eine wirksame ärztliche Fürsorge für die große Menge der 
Hausindnstriellen im Interesse der Volksgesundheit gefordert werden 
muß; sic fürchten aber von einer allgemeinen Ausdehnung der Ver 
sicherungspflicht auf die Hausindustriellen eine Schmälerung der freien 
Praxis namentlich für die jüngeren Aerzte, weil diese im Anfang 
ihrer Thätigkeit fast ausschließlich auf Bevölkerungskreise wie die der 
Hausindnstriellen angewiesen seien. Diese Besorgniß wird unseres 
Erachtens wenn nicht überhaupt, so doch zum allergrößten Theil da 
durch beseitigt, daß wir die Ausdehnung der Versicherung nur auf 
die minder Bemittelten beabsichtigen. Bei dieser Beschränkung werden 
jedenfalls von denjenigen Hausindustriellen, die bisher durch an 
gemessene Bezahlung den Aerzten wirklich Gewinn brachten, nicht 
allzuviel der freien Praxis entzogen werden. Sollten aber die Aerzte 
an ihnen doch noch einen Ausfall erleiden, so wird dieser größten- 
theils wieder dadurch ausgeglichen werden, daß ein anderer, sicher 
erheblicher Theil der Hausindustriellen durch Ausdehnung des Ver 
sicherungszwanges erst wieder der ärztlichen Praxis zugeführt werden 
wird. Denn es kann keinem Zweifel unterliegen, daß zahlreiche 
Hausindustrielle zur Zeit von Armenärzten behandelt werden und daß 
viele andere von ihnen zwar nicht „arm" im Sinne des Gesetzes, 
aber doch so unbemittelt sind, daß sie die Kosten ärztlicher Behand 
lung scheuen und sich deshalb, so lange es irgend geht, ohne ärztliche 
Hilfe zu helfen suchen. Auf alle Fälle wird der Schaden, der etwa 
1 000 Aerzte treffen könnte, in keinem Verhältniß stehen zu den offen 
baren Vortheilen, die wir für viele Tausende von Hausindustriellcn 
erstreben und herbeizuführen hoffen. 
Mit der eingehenden Würdigung aller für und wider geltend 
gemachten Erwägungen ist unseres Dafürhaltens der Nachweis dafür 
erbracht worden, daß jedenfalls ganz überwiegende Gründe die Aus- 
dehnung der Krankenversicherungspflicht auf den weitaus größten 
Theil der Berliner Hausindnstriellen als nothwendig erscheinen 
lassen. Im Folgenden glauben wir überzeugend darzuthun, daß 
diese Versicherungspflicht auf dem von uns vorgeschlagenen Wege 
auch sehr wohl durchführbar ist. 
Hierbei ist zunächst hervorzuheben, daß eine Heranziehung der 
Hausindustrie in dem vollen, vom Gesetz zugelassenen Umfang nicht 
beabsichtigt wird. Es ist schon daraus hingewiesen, daß sich unter 
den Hausindustriellen auch solche befinden, bei denen sich wegen ihrer 
Vermögenslage ein Zwang zur Krankenversicherung nicht rechtfertigen 
läßt. Um daher nicht ohne Noth in die freie Willensbestimmung des 
Einzelnen einzugreifen, mußte eine Grenze gefunden werden, welche 
die der Zwangsversicherung nicht bedürfenden Hausindnstriellen von 
den übrigen scheidet. Eine solche Grenze wird von den 
sozialpolitischen Gesetzen mehrfach gegeben, indem bei Betriebs 
beamten, Werkmeistern, Technikern, Handlungsgehilfen u. A. die 
Zwangsfürsorge davon abhängig gemacht wird, daß der Arbeits 
verdienst dieser Personen an Gehalt oder Lohn 6 2 / 3 M für den 
Arbeitstag oder 2 000 JC fürs Jahr berechnet nicht übersteigt. Diese 
Grenze ist indessen für unsere Zwecke nicht zu verwerthen, weil sie 
hier viel zu schwer erkennbar wäre. Denn während Betriebs 
beamte u. s. w. wohl ausschließlich gegen feste Bezüge thätig sind, 
welche jeder Zeit die Feststellung leicht ermöglichen, ob Versicherungs 
pflicht vorliegt oder nicht, richtet sich bei den Hausindnstriellen aus- 
nahmslos der Lohn nach dem stets wechselnden Umfange der geleisteten 
Arbeit. Es müßte also bei einem Hausindnstriellen immer wieder 
beim Beginn eines neuen Arbeitsverhältnisses ermittelt werden, wie 
viel er im Jahre durchschnittlich verdienen würde. Es liegt auf der 
Hand, daß derartige Ermittlungen beim Mangel einer geordneten 
Buchführung seitens der Hausindnstriellen stets ein sehr unsicheres 
Ergebniß liefern und dabei allen Betheiligten einen ganz ungebühr 
lichen Aufwand an Zeit und Mühe zumuthen würden. Es liegt 
nahe, die Einkommenssteuer als ein Mittel zur Umgehung dieser 
Schwierigkeiten etwa in der Art zu benutzen, daß man die Ver- 
sichernngspflicht auf diejenigen beschränkt, die ein Einkommen bis zu 
1800 oder bis p 2100 M versteuern. Aber auch dem stehen 
erhebliche Bedenken entgegen. Einmal ist die damit verbundene, 
ziemlich weitgehende Offenlegung des Gesammteinkomniens niit der 
durch die Steuergesetzgebung gewährleisteten Geheimhaltung der Ein- 
kommensverhältnisie kaum vereinbar. Sodann aber würde hierdurch 
nicht nur das gewerbliche, sondern auch das gesammte übrige Ein 
kommen der Hausindnstriellen berücksichtigt werden, und damit würde 
denjenigen — allerdings kaum sehr zahlreichen — Hausindustriellen, 
die außer ihreni Arbeitsverdienst noch andere Einnahmequellen haben, 
ein nicht zu verkennender Vortheil vor den übrigen eingeräunit. 
Denn da sie eher in der Lage wären, auch ohne volle Ausnützung 
ihrer Arbeitskraft ein Einkonimen zu erzielen, bei dem die Ver 
sicherungspflicht fortfiele, so würden sie voraussichtlich von den nicht 
wenigen Arbeitgebern bevorzugt werden, die Werth darauf legen, mit
	        
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