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über. Das Oberverwaltungsgericht z. B. hebt in einer Entscheidung
als besonderes Merkmal der Hausindustriellen ihre persönliche Un
abhängigkeit dem Arbeitgeber gegenüber und ihre größere Freiheit in
der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses hervor. Bei dieser Auffassung
werden zahlreiche außerhalb der Betriebswerkstätte des Arbeitgebers
für ihn thätige Personen unzweifelhaft als Hansindustrielle anzu-
zusehen sein, da ja gerade die persönliche Unabhängigkeit in vielen
Fällen einer der Anlässe dazu ist, daß der Arbeiter seine Thätigkeit
in die eigene Wohnung verlegte oder verlegen mußte. Von anderer
Seite wird dagegen mehr Gewicht auf den Entwicklungsgang der
Hallsindustriellen gelegt, und die Erwägung, daß dieselben 'meist
ursprünglich Werkstattarbeiter waren und daß sie auch nach ihrem
Ausscheiden aus der Werkstatt in ihren wirthschaftlichen Verhältnissen
den Arbeitern weit näher stehen als den selbstständigen Gewerbe-
treibenden, führt dann dazu, in ihnen Heimarbeiter zu sehen. Eine
Beseitigung dieses höchst mißlichen Zwiespalts der Meinungen ist auch
von einer allmählich sich einbürgernden Praxis nicht zu erwarten, da
hierfür die betreffenden gewerblichen Verhältnisse viel zu mannig-
faltig sind. Die Streitfrage würde dagegen sofort beseitigt werden,
wenn durch die Ausdehnung des Versicherungszwanges auf die
Hansindustriellen wieder eine gleichmäßige Behandlung für sie und
die Heimarbeiter eingeführt würde. Die an sich naheliegende Be-
sorgniß, es würde an Stelle des jetzigen Streites über die Abgrenzung
der Heimarbeiter von den Hausindustriellen nach Einführung der
Zwangsversicherung für die letzteren der Streit über die Abgrenzung
dieser Personen gegen die vollständig selbstständigen Gewerbetreibenden
treten, ist nach dem Gutachten der vernommenen Auskunftspersonen
nur zu einem kleinen Theil begründet, da nur für die Holz- und
Metalldreherei, die Kürschnerei und die Sattlerei Schwierigkeiten ge
fürchtet werden. Es wird also in jedem Falle ein erheblicher Fort
schritt gegen den jetzigen Zustand erzielt werden.
Die für die Arnien-Direktion so lästige Streitfrage über „Heim
arbeit" oder „Hausindustrie" hat für die Krankenkassen noch schlimmere
Wirkungen und läßt von ihrem Standpunkt aus den Wunsch nach
Ausdehnung der Zwangsversicherung noch mehr berechtigt erscheinen.
Die zahlreichen Ansprüche nämlich, die die Armen-Direktion auf Grund
ihres oben erwähnten Rechts gegen die Krankenkassen geltend macht,
werden im Streitfälle von den Verwaltungsgerichten entschieden und
von diesen ist der hiesige Bezirksausschuß sehr geneigt, zu Gunsten
der Versicherungspflicht zu entscheiden und demgemäß die Kassen zur
Zahlung der Unterstützung zu verurtheilen. Wenn dann aber die
Kassen nach einer solchen Entscheidung vom Arbeitgeber der unter
stützten Person Beiträge einziehen wollen, stoßen sie in der Regel
auf Widerstand und sind dann zur Verfolgung ihrer Ansprüche —
nach einer Vorentscheidung der Gewerbe-Deputation — auf den ordent
lichen Rechtsweg angewiesen. Auf diesem Jnstanzenzuge ist aber
mehr Neigung vorhanden, die Versicherungspflicht zu verneinen. So
kommt es, daß die Kaffen häuflg in derselben Sache vom Ver
waltungsgerichte vernrtheilt werden, Unterstützungen zu gewähren, vom
ordentlichen Gerichte aber mit ihrem Ansprüche auf Beiträge ab
gewiesen werden. Es liegt auf der Hand, daß dieser Zustand sowohl
wegen des Schadens, den die Kaffen an ihrem Vermögen dadurch
erleiden, als wegen der schweren Verletzung des Rechtsgefühls, ein
unhaltbarer ist.
Auch sonst haben die Kassen von den, jetzigen Rechtszuftand
erhebliche Nachtheile. Einmal besteht der jetzt freiwillig versicherte
Theil der Hausindustriellen fast ausschließlich aus kränklichen und
schwächlichen Personen, die weit mehr Unterstützungen erhalten, als sie
an Beiträgen leisten. Sodann findet eine Ausbeutung der Kassen
durch die Hansindustriellen vielfach in der Art statt, daß Haus
industrielle sich erst dann, wenn eine Krankheit sich bei ihnen schon
bemerkbar macht, durch ihren Arbeitgeber als versicherungspflichtige
Heimarbeiter bei der Kaffe anmelden lassen und damit einen Anspruch
auf Unterstützungen erwerben, deren Kosten in gar keinem Verhältniß
zu den für kurze Zeit gezahlten Beiträgen stehen. Die Arbeitgeber
folgen dabei einem sehr begreiflichen, aber in seinen Folgen bedenk
lichen Mitgefühl, und die Kassen können sich dagegen fast nie schützen,
da Arbeitgeber und Hausindustrielle in solchen Fällen wohl immer
die einzigen Zeugen für die Natur des Arbeitsverhältnisses sein
werden und dieses sich bei der unsicheren Grenze zwischen Heimarbeit
und Hausindustrie ebenso gut als das eine, wie als das andere dar
stellen läßt.
Der Einwand, daß die Krankenkassen die Versicherung der Haus
industriellen wegen ihrer schlechten gesundheitlichen Verhältnisse nicht
tragen könnten, ohne ungebührlich hohe Beiträge zu erheben, kann
nicht als begründet anerkannt werden. Wenn z. B. die Orts-Kranken-
kasse der Gastwirthe, trotz der bekannten erheblichen Erkrankungsgefahr
der bei ihr versicherten Kellnerinnen, bei mäßigen Beiträgen eine
durchaus günstige Entwickelung gezeigt hat und noch jetzt zeigt, ob-
wohl ihr neuerdings durch Errichtung der Jnnungs-Krankenkasse der
Gastwirthe ein erheblicher Theil der gesundheitlich besseren Mitglieder
entzogen ist, so ist damit der Beweis geliefert, daß auch bei un-
günstigen gesundheitlichen Verhältnissen sich eine geordnete Versicherung
durchführen läßt, sofern nur durch den allgemeinen Versicherungs-
zwang auch die gesunden Angehörigen eines Gewerbszweiges zur
Theilnahme an den Lasten der Versicherung herangezogen werden.
In jedem Falle wird der Schaden, den die Ausdehnung des Ver
sicherungszwanges auf die Hausindustriellen den Kaffen zufügen
kann, nicht größer sein wie der, den jetzt die geschilderten Mißstände
mit sich bringen.
Als wenigstens mittelbar an der Krankenversicherung betheiligt
sind endlich die Aerzte zu erwähnen. Sie erkennen zwar auch an,
daß eine wirksame ärztliche Fürsorge für die große Menge der
Hausindnstriellen im Interesse der Volksgesundheit gefordert werden
muß; sic fürchten aber von einer allgemeinen Ausdehnung der Ver
sicherungspflicht auf die Hausindustriellen eine Schmälerung der freien
Praxis namentlich für die jüngeren Aerzte, weil diese im Anfang
ihrer Thätigkeit fast ausschließlich auf Bevölkerungskreise wie die der
Hausindnstriellen angewiesen seien. Diese Besorgniß wird unseres
Erachtens wenn nicht überhaupt, so doch zum allergrößten Theil da
durch beseitigt, daß wir die Ausdehnung der Versicherung nur auf
die minder Bemittelten beabsichtigen. Bei dieser Beschränkung werden
jedenfalls von denjenigen Hausindustriellen, die bisher durch an
gemessene Bezahlung den Aerzten wirklich Gewinn brachten, nicht
allzuviel der freien Praxis entzogen werden. Sollten aber die Aerzte
an ihnen doch noch einen Ausfall erleiden, so wird dieser größten-
theils wieder dadurch ausgeglichen werden, daß ein anderer, sicher
erheblicher Theil der Hausindustriellen durch Ausdehnung des Ver
sicherungszwanges erst wieder der ärztlichen Praxis zugeführt werden
wird. Denn es kann keinem Zweifel unterliegen, daß zahlreiche
Hausindustrielle zur Zeit von Armenärzten behandelt werden und daß
viele andere von ihnen zwar nicht „arm" im Sinne des Gesetzes,
aber doch so unbemittelt sind, daß sie die Kosten ärztlicher Behand
lung scheuen und sich deshalb, so lange es irgend geht, ohne ärztliche
Hilfe zu helfen suchen. Auf alle Fälle wird der Schaden, der etwa
1 000 Aerzte treffen könnte, in keinem Verhältniß stehen zu den offen
baren Vortheilen, die wir für viele Tausende von Hausindustriellcn
erstreben und herbeizuführen hoffen.
Mit der eingehenden Würdigung aller für und wider geltend
gemachten Erwägungen ist unseres Dafürhaltens der Nachweis dafür
erbracht worden, daß jedenfalls ganz überwiegende Gründe die Aus-
dehnung der Krankenversicherungspflicht auf den weitaus größten
Theil der Berliner Hausindnstriellen als nothwendig erscheinen
lassen. Im Folgenden glauben wir überzeugend darzuthun, daß
diese Versicherungspflicht auf dem von uns vorgeschlagenen Wege
auch sehr wohl durchführbar ist.
Hierbei ist zunächst hervorzuheben, daß eine Heranziehung der
Hausindustrie in dem vollen, vom Gesetz zugelassenen Umfang nicht
beabsichtigt wird. Es ist schon daraus hingewiesen, daß sich unter
den Hausindustriellen auch solche befinden, bei denen sich wegen ihrer
Vermögenslage ein Zwang zur Krankenversicherung nicht rechtfertigen
läßt. Um daher nicht ohne Noth in die freie Willensbestimmung des
Einzelnen einzugreifen, mußte eine Grenze gefunden werden, welche
die der Zwangsversicherung nicht bedürfenden Hausindnstriellen von
den übrigen scheidet. Eine solche Grenze wird von den
sozialpolitischen Gesetzen mehrfach gegeben, indem bei Betriebs
beamten, Werkmeistern, Technikern, Handlungsgehilfen u. A. die
Zwangsfürsorge davon abhängig gemacht wird, daß der Arbeits
verdienst dieser Personen an Gehalt oder Lohn 6 2 / 3 M für den
Arbeitstag oder 2 000 JC fürs Jahr berechnet nicht übersteigt. Diese
Grenze ist indessen für unsere Zwecke nicht zu verwerthen, weil sie
hier viel zu schwer erkennbar wäre. Denn während Betriebs
beamte u. s. w. wohl ausschließlich gegen feste Bezüge thätig sind,
welche jeder Zeit die Feststellung leicht ermöglichen, ob Versicherungs
pflicht vorliegt oder nicht, richtet sich bei den Hausindnstriellen aus-
nahmslos der Lohn nach dem stets wechselnden Umfange der geleisteten
Arbeit. Es müßte also bei einem Hausindnstriellen immer wieder
beim Beginn eines neuen Arbeitsverhältnisses ermittelt werden, wie
viel er im Jahre durchschnittlich verdienen würde. Es liegt auf der
Hand, daß derartige Ermittlungen beim Mangel einer geordneten
Buchführung seitens der Hausindnstriellen stets ein sehr unsicheres
Ergebniß liefern und dabei allen Betheiligten einen ganz ungebühr
lichen Aufwand an Zeit und Mühe zumuthen würden. Es liegt
nahe, die Einkommenssteuer als ein Mittel zur Umgehung dieser
Schwierigkeiten etwa in der Art zu benutzen, daß man die Ver-
sichernngspflicht auf diejenigen beschränkt, die ein Einkommen bis zu
1800 oder bis p 2100 M versteuern. Aber auch dem stehen
erhebliche Bedenken entgegen. Einmal ist die damit verbundene,
ziemlich weitgehende Offenlegung des Gesammteinkomniens niit der
durch die Steuergesetzgebung gewährleisteten Geheimhaltung der Ein-
kommensverhältnisie kaum vereinbar. Sodann aber würde hierdurch
nicht nur das gewerbliche, sondern auch das gesammte übrige Ein
kommen der Hausindnstriellen berücksichtigt werden, und damit würde
denjenigen — allerdings kaum sehr zahlreichen — Hausindustriellen,
die außer ihreni Arbeitsverdienst noch andere Einnahmequellen haben,
ein nicht zu verkennender Vortheil vor den übrigen eingeräunit.
Denn da sie eher in der Lage wären, auch ohne volle Ausnützung
ihrer Arbeitskraft ein Einkonimen zu erzielen, bei dem die Ver
sicherungspflicht fortfiele, so würden sie voraussichtlich von den nicht
wenigen Arbeitgebern bevorzugt werden, die Werth darauf legen, mit