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kanzlcr und die Herren Minister gerichtet, ohne eine Zurückweisung
zu erfahren.
Anfangs des Jahres 1879 beschäftigten sich die Stadtvcrordnctcn-
Lcrsammlungen vieler industrieller Städte mit Berathungen über die
beabsichtigte Aenderung der Wirthschaftspolitik. Der Oberbürgermeister
von Essen fragte bei dem Herrn Reichskanzler an, ob es genehm sei,
wenn die Stadtvcrtretungen sich mit der Angelegenheit befaßten.
Ter Herr Reichskanzler antwortete bejahend und erklärte, daß ihm
Kundgebungen städtischer Körperschaften über sein Programm erwünscht
wären.
Die Stadtverordneten-Versammlung zu Barmen wandte sich an
den Herrn Reichskanzler mit der Bitte um Schonung der Halbfabrikate
und erhielt direkte Antwort.
Die Berliner Stadtverordneten-Versammlung hat um dieselbe Zeit
in Gemeinschaft mit dem Magistrat eine Petition gegen die Getreide
zölle an den Reichstag gerichtet.
Weder die Staats- noch die Reichsbehörden haben in derartigen
Verhandlungen, obgleich dieselben über den Rahmen der korporativen
Interessen hinausgingen, eine Kömpetcnzüberschreitung erblickt. Was
damals dem obersten Beamten des Reichs als zulässig erschien, kann
heute nicht gesetzwidrig sein.
Entscheidender ist noch der Widerspruch, in den sich der Herr
Ober-Präsident mit dem 8- 32 der Verfassungsurkunde gesetzt hat.
Die Verfassung gewährleistet jedem Preußen das Petitionsrecht.
Petitionen unter einem Gesammtnamen sind nur Behörden und Korpo
rationen gestattet. Die Bestimmungen der Verfassung können durch
kein Spezialgesetz aufgehoben werden. Verfassungsänderungen sind nur
in Gemäßheit des Artikels 107 der Verfassung zulässig.
Die Städteordnung vom 30. Mai 1853 fand die Verfassung bereits
vor; sie hat am Art. 32 der Verfassung nichts geändert, sie konnte
nichts ändern, sie wollte nichts ändern. 8. 35 der Städteordnung
vom 30. Mai 1853 entspricht wörtlich dem 8- 33 der Gemeindeordnung
vom Jahre 1850 und der letztere ist dem §. 61 der Gemeindeordnung
für die Rheinprovinz nachgebildet. Diese Gemeindeordnung aber ist
vor der Verfassungsurkunde — am 23. Juli 1845 — erlassen. Die
mögliche Annahme, daß man in der Städteordnung von 1853 bewußter-
wcise das Petitionsrecht habe einschränken wollen, ist hierdurch widerlegt.
Als im Jahre 1863 im Anschluß an den Zirkular-Erlaß des Herrn
Ministers des Innern vom 6. Juni 1863 die Bedeutung und Trag
weite des §. 35 der Städteordnung vielfach erörtert wurde, hat einer
unserer hervorragendsten Staatsrechtslehrer, Professor llr. Gneist,
seine Auffassung in einer Denkschrift, wie folgt, niedergelegt:
„Der Sinn jener Beschränkung ist wohl niemals zweifel
haft gewesen, insoweit gemeint ist, daß die Kommune mit
Gegenständen, die zur Beschlußnahme des Landtages oder
anderer öffentlicher oder Privatkörperschaften gehören, sich nicht
zu befassen habe; derartige Beschlüsse würden auch von dem
ausführenden Organ, dem Magistrat, in keiner Weise aus
geführt werden können. Eine ganz neue Deutung und Be
schränkung ist es aber, wenn den gesetzlichen Vertretern der
Kommune in Zukunft verboten werden sollte, ihre Beschwerden
über allgemeine Maßregeln und Uebelstände, welche die
Kommunen im besonderen Maße treffen, zur Kenntniß höherer
Stellen zu bringen. Es handelt sich dann nicht um „Beschlüsse",
welche vom Magistrat auszuführen wären, sondern um das
Beschwerderecht, welches jedem Individuum und jeder Gesammt
heit, mit oder ohne Korporationsrecht, welches jedem Unter
thanen, auch jedem Beamten gegen seine Vorgesetzten, wie
jedem Privaten gegen die ihn verletzenden Anordnungen zusteht,
wo der Staat nach Gesetzen geführt wird." (Protokoll der
zur Berichterstattung über die Verfügung der Königlichen
Regierung zu Potsdam von der Stadtverordneten-Versammlung
zu Berlin ernannten Deputation.)
Endlich hat das Abgeordnetenhaus am 10. März 1865 mit über
wiegender Majorität eine Resolution angenommen, welche dahin lautet:
„Ministerial-Reskripte, welche den Magistraten und Stadt
verordneten das Petitions- und Beschwerderecht in öffentlichen
Angelegenheiten untersagen oder beschränken und die darauf
gerichteten Exekutiv-Maßregeln widerstreitem dem Artikel 32
der Verfassungs-Urkunde."
Die langjährige Praxis, die klaren Vorschriften der Verfassungs
urkunde, die Ansichten hervorragender Rechtsgelehrten und der Beschluß
des gesetzgebenden Körpers rechtfertigen unsere Ansicht, daß durch die
restriktive Interpretation des 8- 35 der Städteordnung seitens des Herrn
Ober-Präsidenten wohlerworbene und verfassungsmäßig gewährleistete
Rechte der Gemeindebehörden verletzt werden.
Was aber den in Rede stehenden Antrag selbst betrifft, so wird
man prinzipiell nicht in Abrede stellen können, daß die Frage, wie die
Einwohner der Stadt in den gesetzgebenden Körpern zu vertreten sind,
wie groß insbesondere die Zahl der Abgeordneten sein soll, für die
Stadtgemeinde von hohem Interesse ist, namentlich in Rücksicht auf
die zahlreichen Gemcindeangelegenheiten, welche in den gesetzgebenden
Körperschaften zur Berathung gelangen. Die Zahl der zu wählenden
Vertreter interessirt nicht bloß einzelne Bürger, nicht bloß gewisse Klassen
der Einwohner, sondern die Gesammtheit der Bürger. Selbst wenn
es berechtigt wäre, das Petitionsrccht der städtischen Behörden auf die
jenigen Angelegenheiten zu beschränken, welche als Gciucindcangclcgen-
heiten im engsten Sinne zu erachten sind, so erscheint selbst unter dieser
Beschränkung die Berathung des Antrages Singer als zulässig.
Zu 2 und 3.
In dem mehrerwähnten Erlaß hat der Herr Ober-Präsident aus
drücklich verboten, den fraglichen Antrag auf die Tagesordnung zu setzen.
Zu einem solchen Verbote fehlt es nach unserer Ueberzeugung auch an
dem Schein des Rechts. Die Tagesordnung enthält die Anzeige der
zu verhandelnden Gegenstände. (St.-O. 8- 41 •) Nach 8- 33 der Geschäfts
ordnung war der Vorsteher verpflichtet, den fraglichen Antrag,
welcher schon in der vorhergehenden Sitzung auf der Tagesordnung
stand, von Neuem auf dieselbe zu setzen. Ob die Versammlung dem
nächst in die Berathung eintrat, konnte fraglich sein, aber selbst bei der
weitgehendsten Ausdehnung des staatlichen Aufsichtsrechtes kann man nie
dahin gelangen, die bloße pflichtmäßige Anzeige der zu behandelnden
Gegenstände mit Strafe zu bedrohen.
Die Berechtigung und Verpflichtung des Vorstehers, auch Anträge,
welche nicht Gemeindeangelegcnheiten betreffen, auf die Tagesordnung
zu setzen, ist in der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 8. März 1865
(Stenogr. Ber. S. 366) selbst von dem Herrn Minister des Innern
anerkannt worden. Er erklärte wörtlich: „Er (der Stadtvcrordnetcn-
Vorsteher) kann, wenn er der Bestimmung nachkommen will, daß jeder
Gegenstand zum Vortrag gebracht werden solle, denselben ankündigen,
aber er mutz in demselben Augenblick sagen: Da der Gegenstand nicht
zur Kompetenz der Stadtverordneten-Versammlung gehört, so stelle ich
denselben nicht zur Berathung." Das Ankündigen ist gleichbedeutend
mit der im 8- 41 der Städte-Ordnung statuirtcn Pflicht der Anzeige
und mit dem in den 88- 3 ? ff- unserer Geschäftsordnung gebrauchten
Ausdruck „auf die Tagesordnung setzen." Auch die Kommission des
Abgeordnetenhauses hatte sich seiner Zeit (bei Gelegenheit der Breslauer
Beschwerde) eingehend mit der Frage beschäftigt, ob der Vorsteher
nach den gesetzlichen Bestimmungen berechtigt sei, einen Gegenstand nicht
ans die Tagesordnung zu setzen oder von der Tagesordnung abzusetzen.
In dem Kommissionsbericht Nr. 34 äo 1865 S. 22 heißt es in dieser
Beziehung:
„Die Städteordnung gewährt dem Vorsteher nirgends
eine überwiegende Stellung^ Daß unter Aufrechterhaltung
der Ordnung (in 8- 46 der Städte-O-) nur Aufrechterhaltung
der formellen Ordnung, der Ruhe der Berathungen, welche
alle Ansichten zur Geltung kommen läßt, zu verstehen ist -
leuchtet bei Prüfung der Paragraphen ohne Weiteres ein, cr-
giebt sich aber auch aus dem folgenden Satze, der von der
Entfernung derjenigen Personen spricht, welche Zeichen des
Beifalls und Mißfallens geben. Ueberhaupt enthält der 8- 46
nur formelle Bestimmungen und kann daher in keiner Weise
das materielle Recht der Stadtverordneten-Versamm
lung, über ihre Kompetenz zunächst selbst zu be
stimmen, beschränken."
Aber nicht nur dem Vorsteher, soudern auch der Stadtverordneten-
Versammlung gegenüber erachten wir jede Präventivmaßregel, welche
Berathungen und Beschlußnahmen zu verhindern bezweckt, für unstatthaft
und nicht im Einklang mit den Gesetzen.
Die Städteordnung ist ein in sich abgeschlossenes Ganze, dessen
einzelne Bestimmungen im Zusammenhang mit dem ganzen Gesetz
interpretirt werden müssen. Die Städteordnung enthält einen be
sonderen Abschnitt (Titel X) „von der Oberaufsicht über die Stadt
verwaltung". Hier sind die Fälle, in denen die Aufsichtsbehörde ein
zuschreiten berechtigt und verpflichtet ist, sowie die Art des Einschreitens
bestimmt. Eine Ausübung-des staatlichen Aufsichtsrechts außerhalb
des gesetzlich begrenzten Kreises ist selbstverständlich ausgeschlossen.
Findet sich im Gesetz eine Lücke, so kann diese nur durch Gesetz, nicht
durch Verfügungen der Verwaltungsbehörde ausgefüllt werden.
Es ist aber thatsächlich keine Lücke vorhanden.
Selbst wenn man nicht den unter 1 geltend gemachten Standpunkt
theilt, so wird man doch nach dem Geiste der Slädteordnung nicht in
Abrede stellen können, daß der Gesetzgeber der freigewählten Ver
sammlung und deren Vorsteher das Vertrauen geschenkt hat, die durch
Gesetz und Herkommen gezogenen Grenzen ohne äußeren Zwang inne
zu halten.
Zu der gleichen Auffassung führt die neueste Gesetzgebung. Bei
Gelegenheit der Berathung des Zuständigkeitsgesetzes vom 1. Augusts 883,
also in allerneuester Zeit, hat man die Bestimmungen der Städte
ordnung über das Aufsichtsrecht des Staates, namentlich den 8- 77
der Städteordnung, einer Revision unterzogen und abgeändert. Wäre
eine Lücke gefunden worden, so würde hier die geeignetste Gelegenheit
sich dargeboten haben, das Fehlende zu ergänzen. Aber weder im
Regierungs-Entwurf noch in den Motiven findet sich nach dieser
Richtung auch nur die mindeste Andeutung.
Das Gesetz kennt keine Präventivmaßregeln gegen eine Stadt-
vcrordneten-Versammlung, sonst hätten der Staatsbehörde auch die
Mittel gegeben werden müssen, von drohenden Mißbräuchen rechtzeitige
und zuverlässige Kenntniß zu erlangen. An solchen Mitteln fehlt
es gänzlich.