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Volume No. 39 (272-283), 3. Mai 1884

Full text: Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Berlin (Public Domain) Issue1884 (Public Domain)

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kanzlcr und die Herren Minister gerichtet, ohne eine Zurückweisung 
zu erfahren. 
Anfangs des Jahres 1879 beschäftigten sich die Stadtvcrordnctcn- 
Lcrsammlungen vieler industrieller Städte mit Berathungen über die 
beabsichtigte Aenderung der Wirthschaftspolitik. Der Oberbürgermeister 
von Essen fragte bei dem Herrn Reichskanzler an, ob es genehm sei, 
wenn die Stadtvcrtretungen sich mit der Angelegenheit befaßten. 
Ter Herr Reichskanzler antwortete bejahend und erklärte, daß ihm 
Kundgebungen städtischer Körperschaften über sein Programm erwünscht 
wären. 
Die Stadtverordneten-Versammlung zu Barmen wandte sich an 
den Herrn Reichskanzler mit der Bitte um Schonung der Halbfabrikate 
und erhielt direkte Antwort. 
Die Berliner Stadtverordneten-Versammlung hat um dieselbe Zeit 
in Gemeinschaft mit dem Magistrat eine Petition gegen die Getreide 
zölle an den Reichstag gerichtet. 
Weder die Staats- noch die Reichsbehörden haben in derartigen 
Verhandlungen, obgleich dieselben über den Rahmen der korporativen 
Interessen hinausgingen, eine Kömpetcnzüberschreitung erblickt. Was 
damals dem obersten Beamten des Reichs als zulässig erschien, kann 
heute nicht gesetzwidrig sein. 
Entscheidender ist noch der Widerspruch, in den sich der Herr 
Ober-Präsident mit dem 8- 32 der Verfassungsurkunde gesetzt hat. 
Die Verfassung gewährleistet jedem Preußen das Petitionsrecht. 
Petitionen unter einem Gesammtnamen sind nur Behörden und Korpo 
rationen gestattet. Die Bestimmungen der Verfassung können durch 
kein Spezialgesetz aufgehoben werden. Verfassungsänderungen sind nur 
in Gemäßheit des Artikels 107 der Verfassung zulässig. 
Die Städteordnung vom 30. Mai 1853 fand die Verfassung bereits 
vor; sie hat am Art. 32 der Verfassung nichts geändert, sie konnte 
nichts ändern, sie wollte nichts ändern. 8. 35 der Städteordnung 
vom 30. Mai 1853 entspricht wörtlich dem 8- 33 der Gemeindeordnung 
vom Jahre 1850 und der letztere ist dem §. 61 der Gemeindeordnung 
für die Rheinprovinz nachgebildet. Diese Gemeindeordnung aber ist 
vor der Verfassungsurkunde — am 23. Juli 1845 — erlassen. Die 
mögliche Annahme, daß man in der Städteordnung von 1853 bewußter- 
wcise das Petitionsrecht habe einschränken wollen, ist hierdurch widerlegt. 
Als im Jahre 1863 im Anschluß an den Zirkular-Erlaß des Herrn 
Ministers des Innern vom 6. Juni 1863 die Bedeutung und Trag 
weite des §. 35 der Städteordnung vielfach erörtert wurde, hat einer 
unserer hervorragendsten Staatsrechtslehrer, Professor llr. Gneist, 
seine Auffassung in einer Denkschrift, wie folgt, niedergelegt: 
„Der Sinn jener Beschränkung ist wohl niemals zweifel 
haft gewesen, insoweit gemeint ist, daß die Kommune mit 
Gegenständen, die zur Beschlußnahme des Landtages oder 
anderer öffentlicher oder Privatkörperschaften gehören, sich nicht 
zu befassen habe; derartige Beschlüsse würden auch von dem 
ausführenden Organ, dem Magistrat, in keiner Weise aus 
geführt werden können. Eine ganz neue Deutung und Be 
schränkung ist es aber, wenn den gesetzlichen Vertretern der 
Kommune in Zukunft verboten werden sollte, ihre Beschwerden 
über allgemeine Maßregeln und Uebelstände, welche die 
Kommunen im besonderen Maße treffen, zur Kenntniß höherer 
Stellen zu bringen. Es handelt sich dann nicht um „Beschlüsse", 
welche vom Magistrat auszuführen wären, sondern um das 
Beschwerderecht, welches jedem Individuum und jeder Gesammt 
heit, mit oder ohne Korporationsrecht, welches jedem Unter 
thanen, auch jedem Beamten gegen seine Vorgesetzten, wie 
jedem Privaten gegen die ihn verletzenden Anordnungen zusteht, 
wo der Staat nach Gesetzen geführt wird." (Protokoll der 
zur Berichterstattung über die Verfügung der Königlichen 
Regierung zu Potsdam von der Stadtverordneten-Versammlung 
zu Berlin ernannten Deputation.) 
Endlich hat das Abgeordnetenhaus am 10. März 1865 mit über 
wiegender Majorität eine Resolution angenommen, welche dahin lautet: 
„Ministerial-Reskripte, welche den Magistraten und Stadt 
verordneten das Petitions- und Beschwerderecht in öffentlichen 
Angelegenheiten untersagen oder beschränken und die darauf 
gerichteten Exekutiv-Maßregeln widerstreitem dem Artikel 32 
der Verfassungs-Urkunde." 
Die langjährige Praxis, die klaren Vorschriften der Verfassungs 
urkunde, die Ansichten hervorragender Rechtsgelehrten und der Beschluß 
des gesetzgebenden Körpers rechtfertigen unsere Ansicht, daß durch die 
restriktive Interpretation des 8- 35 der Städteordnung seitens des Herrn 
Ober-Präsidenten wohlerworbene und verfassungsmäßig gewährleistete 
Rechte der Gemeindebehörden verletzt werden. 
Was aber den in Rede stehenden Antrag selbst betrifft, so wird 
man prinzipiell nicht in Abrede stellen können, daß die Frage, wie die 
Einwohner der Stadt in den gesetzgebenden Körpern zu vertreten sind, 
wie groß insbesondere die Zahl der Abgeordneten sein soll, für die 
Stadtgemeinde von hohem Interesse ist, namentlich in Rücksicht auf 
die zahlreichen Gemcindeangelegenheiten, welche in den gesetzgebenden 
Körperschaften zur Berathung gelangen. Die Zahl der zu wählenden 
Vertreter interessirt nicht bloß einzelne Bürger, nicht bloß gewisse Klassen 
der Einwohner, sondern die Gesammtheit der Bürger. Selbst wenn 
es berechtigt wäre, das Petitionsrccht der städtischen Behörden auf die 
jenigen Angelegenheiten zu beschränken, welche als Gciucindcangclcgen- 
heiten im engsten Sinne zu erachten sind, so erscheint selbst unter dieser 
Beschränkung die Berathung des Antrages Singer als zulässig. 
Zu 2 und 3. 
In dem mehrerwähnten Erlaß hat der Herr Ober-Präsident aus 
drücklich verboten, den fraglichen Antrag auf die Tagesordnung zu setzen. 
Zu einem solchen Verbote fehlt es nach unserer Ueberzeugung auch an 
dem Schein des Rechts. Die Tagesordnung enthält die Anzeige der 
zu verhandelnden Gegenstände. (St.-O. 8- 41 •) Nach 8- 33 der Geschäfts 
ordnung war der Vorsteher verpflichtet, den fraglichen Antrag, 
welcher schon in der vorhergehenden Sitzung auf der Tagesordnung 
stand, von Neuem auf dieselbe zu setzen. Ob die Versammlung dem 
nächst in die Berathung eintrat, konnte fraglich sein, aber selbst bei der 
weitgehendsten Ausdehnung des staatlichen Aufsichtsrechtes kann man nie 
dahin gelangen, die bloße pflichtmäßige Anzeige der zu behandelnden 
Gegenstände mit Strafe zu bedrohen. 
Die Berechtigung und Verpflichtung des Vorstehers, auch Anträge, 
welche nicht Gemeindeangelegcnheiten betreffen, auf die Tagesordnung 
zu setzen, ist in der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 8. März 1865 
(Stenogr. Ber. S. 366) selbst von dem Herrn Minister des Innern 
anerkannt worden. Er erklärte wörtlich: „Er (der Stadtvcrordnetcn- 
Vorsteher) kann, wenn er der Bestimmung nachkommen will, daß jeder 
Gegenstand zum Vortrag gebracht werden solle, denselben ankündigen, 
aber er mutz in demselben Augenblick sagen: Da der Gegenstand nicht 
zur Kompetenz der Stadtverordneten-Versammlung gehört, so stelle ich 
denselben nicht zur Berathung." Das Ankündigen ist gleichbedeutend 
mit der im 8- 41 der Städte-Ordnung statuirtcn Pflicht der Anzeige 
und mit dem in den 88- 3 ? ff- unserer Geschäftsordnung gebrauchten 
Ausdruck „auf die Tagesordnung setzen." Auch die Kommission des 
Abgeordnetenhauses hatte sich seiner Zeit (bei Gelegenheit der Breslauer 
Beschwerde) eingehend mit der Frage beschäftigt, ob der Vorsteher 
nach den gesetzlichen Bestimmungen berechtigt sei, einen Gegenstand nicht 
ans die Tagesordnung zu setzen oder von der Tagesordnung abzusetzen. 
In dem Kommissionsbericht Nr. 34 äo 1865 S. 22 heißt es in dieser 
Beziehung: 
„Die Städteordnung gewährt dem Vorsteher nirgends 
eine überwiegende Stellung^ Daß unter Aufrechterhaltung 
der Ordnung (in 8- 46 der Städte-O-) nur Aufrechterhaltung 
der formellen Ordnung, der Ruhe der Berathungen, welche 
alle Ansichten zur Geltung kommen läßt, zu verstehen ist - 
leuchtet bei Prüfung der Paragraphen ohne Weiteres ein, cr- 
giebt sich aber auch aus dem folgenden Satze, der von der 
Entfernung derjenigen Personen spricht, welche Zeichen des 
Beifalls und Mißfallens geben. Ueberhaupt enthält der 8- 46 
nur formelle Bestimmungen und kann daher in keiner Weise 
das materielle Recht der Stadtverordneten-Versamm 
lung, über ihre Kompetenz zunächst selbst zu be 
stimmen, beschränken." 
Aber nicht nur dem Vorsteher, soudern auch der Stadtverordneten- 
Versammlung gegenüber erachten wir jede Präventivmaßregel, welche 
Berathungen und Beschlußnahmen zu verhindern bezweckt, für unstatthaft 
und nicht im Einklang mit den Gesetzen. 
Die Städteordnung ist ein in sich abgeschlossenes Ganze, dessen 
einzelne Bestimmungen im Zusammenhang mit dem ganzen Gesetz 
interpretirt werden müssen. Die Städteordnung enthält einen be 
sonderen Abschnitt (Titel X) „von der Oberaufsicht über die Stadt 
verwaltung". Hier sind die Fälle, in denen die Aufsichtsbehörde ein 
zuschreiten berechtigt und verpflichtet ist, sowie die Art des Einschreitens 
bestimmt. Eine Ausübung-des staatlichen Aufsichtsrechts außerhalb 
des gesetzlich begrenzten Kreises ist selbstverständlich ausgeschlossen. 
Findet sich im Gesetz eine Lücke, so kann diese nur durch Gesetz, nicht 
durch Verfügungen der Verwaltungsbehörde ausgefüllt werden. 
Es ist aber thatsächlich keine Lücke vorhanden. 
Selbst wenn man nicht den unter 1 geltend gemachten Standpunkt 
theilt, so wird man doch nach dem Geiste der Slädteordnung nicht in 
Abrede stellen können, daß der Gesetzgeber der freigewählten Ver 
sammlung und deren Vorsteher das Vertrauen geschenkt hat, die durch 
Gesetz und Herkommen gezogenen Grenzen ohne äußeren Zwang inne 
zu halten. 
Zu der gleichen Auffassung führt die neueste Gesetzgebung. Bei 
Gelegenheit der Berathung des Zuständigkeitsgesetzes vom 1. Augusts 883, 
also in allerneuester Zeit, hat man die Bestimmungen der Städte 
ordnung über das Aufsichtsrecht des Staates, namentlich den 8- 77 
der Städteordnung, einer Revision unterzogen und abgeändert. Wäre 
eine Lücke gefunden worden, so würde hier die geeignetste Gelegenheit 
sich dargeboten haben, das Fehlende zu ergänzen. Aber weder im 
Regierungs-Entwurf noch in den Motiven findet sich nach dieser 
Richtung auch nur die mindeste Andeutung. 
Das Gesetz kennt keine Präventivmaßregeln gegen eine Stadt- 
vcrordneten-Versammlung, sonst hätten der Staatsbehörde auch die 
Mittel gegeben werden müssen, von drohenden Mißbräuchen rechtzeitige 
und zuverlässige Kenntniß zu erlangen. An solchen Mitteln fehlt 
es gänzlich.
	        
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