Nr. 19. Städtische Jrrenpffege.
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111. Bericht über die 111. Irrenanstalt in Buch.
A. Allgemeines.
Am 1. April 1906 wurde die HL Irrenanstalt zu Buch (mit
1555 Krankenbetten) eröffnet: es wurde das Bureau eingerichtet,
Oekonomie und Küche in Betrieb gesetzt, Pflege- und Dienstpersonal
angestellt, nachdem uns bei Beschaffung des Inventars und der sonstigen
Einrichtung der Anstalt Herr Hauskurator Dr. Kuhlmann hilfreich zur
Seite gestanden hatte.
Am 1. Mai traf der erste Krankentransport ein. Es wurden
vom 1. Mai 1906 bis 16. März 1907 aus den Anstalten Dalldorf
und Herzberge und der nun aufgelösten Privatanstalt der Frau
Di - . Richter in Pankow sowie aus der Dr. Edel'schen Privatanstalt
in Charlottenburg in 52 Transporten 1465 Patienten (819 Männer
und 646 Frauen) aufgenommen.
Außerdem gingen der Anstalt bis 31. März 1907 17 Patienten
(12 Männer und 5 Frauen) von anderweit zu und vom 7. Februar
1907 ab die Kranken der Königlichen Charitö (bis 31. März 1907
104 Kranke, 52 Männer und 52 Frauen).
Der Gesamtzugang vom 1. Mai 1906 bis 31. März 1907 be
trug also 1586 Patienten (.883 M.. 703 SB.).
Die Transporte vollzogen sich ohne alle Schwierigkeiten und
wurden in Kremsern bewerkstelligt.
Der ärztliche Dienst gestaltete sich so, daß bereits vom 1. April
1906 ab, namentlich zur Untersuchung des anzustellenden Personals,
drei Assistenten (Dr8. Lomer, Zendig und Löwenstein) in der Anstalt
sich befanden. Der Direktor, Sanilätsrat Dr. Richter, siedelte am
10. April von Dalldorf, wo er bis dahin I. Oberarzt gewesen war,
nach Buch über, in demselben Monat der I. Oberarzt, Dr. Werner,
der bis dahin Oberarzt in Dalldorf gewesen war. Der II. und III.
Oberarzt, Drs. JuniuS und Sklarek, die bis dahin Assistenten in Dall
dorf waren, siedelten im Juni 1906 nach Buch über.
Im Mai und Juni 1906 gingen weiter zu die Assistenzärzte
Drs. Müller und Levy; Dr. Müller verließ die Anstalt jedoch im
Juni 1906 bereits wieder, Dr. Lomer im Juli 1906. Im September
1906 ging Dr. Schwenke zu, statt dessen trat Dr. Löwenstein ivieder
aus, um eine Assistenten stelle in Herzbergc zu übernehmen. Im Ok
tober 1906 traten die Drs. Franke, Vieregge, Castner und Döblin in
den Dienst der Anstalt, im Februar 1907 Dr. Salinger, im März
Drs. Hanel, Bischoff und Schauß, während Dr. Schwenke die Anstalt
wieder verließ.
So bestand am Schluß des Etatsjahres 1906 das ärztliche Per
sonal aus einem Direktor, drei Oberärzten und 10 Assistenten: zwei
Volontärarztstellen fanden keine Bewerber.
Die Leitung des Bureaus der Anstalt übernahm vom 1. April 1906
ab der Magistratssekretär Gebhardt, als Oekonomieinspektor wurde
der frühere Verwaltungsassistent in Dalldorf Wasserführer vom gleichen
Tage an überwiesen.
Die ersten Kranken, welche eintrafen, wurden des leichteren Ueber-
blickes und der sichereren Behandlung halber in den lleberwachungs-
häusern untergebracht, dann wurden die offenen Häuser belegt, dann
die Aufnabmehäuser, weiter die vorderen Pflegehäuier, schließlich die
Hinteren Pflegehäuser, im Oktober 1906 wurde das erste Männer
landhaus belegt, im Dezember das zweite, im Februar 1907 das
dritte und in demselben Monat das erste Frauenlandhaus. Unbelegt
blieben noch 2 Frauenlandhäuser, die Jnfektionsbaracke und das Ver
wahrungshaus.
Schwierigkeiten verursachte es und verursacht es noch, genug
Kranke für die beiden offenen Häuser (ä 100 Betten) zu finden, und
ebenso konnte nur ein Männerlandhaus (L 40 Belten) mit Arbeits
fähigen belegt werden, während in zwei Männerlandhäusern (gleich
falls ü 40 Betten) um die Betten auszunützen, zunächst ambulante
und bettlägerige Sieche untergebracht werden mußten.
Der Bautypus der III. Irrenanstalt in Buch schließt sich im
wesentlichen an den Typus der Anstalten Dalldorf und Herzberge
an: die überwiegende Anzahl der Kranken ist in großen Häusern von
IM bis 155 Belten, die Minderzahl in kleineren resp. Landhäusern
(drei Männerlandhäuser zu 40, zwei Frauenlandhäuser zu 30 Betten)
untergebracht
Als besondere bauliche Momente sind jedoch hervorzuheben: die
Entfernung des Verwahruugshauses (46 Betten) vom Hauptkomplex
(360 m Luftlinie vom hintern Ausgang der Umwährungsmauer bis
zum Eingang in das Verwahrungshaus, 670 m Luftlinie vom Ver
waltungsgebäude, 880 m von da zu gehen), die Loggien der vier
Pflegehäuser, die Infektionsabteilungen (in die Jnfektionsbaracke sollen
nur ruhige Infektiöse kommen) und chirurgischen Zimmer in denselben
(jedes Pflegehaus hat eine Infektionsabteilung zu 4 Betten und ein
chirurgisches Zimmer — das eine Pflegehaus außerdem ein „aseptisches"
chirurgisches Zimmer). Sodann ist baulich außerordentlich wichtig, daß
in den vier Pflegehäusern von den vier Ecksälen beider Geschosse
(jeder 12—13 Betten) die Giebelflügel in ihrer ganzen Tiefe einge
nommen werden, sodaß eine lebhafte Ventilation durch Gegenzug
innerhalb dieser Säle erzielt werden kann, ein Vorteil, den man in
den mit Unreinen belegten Sälen sofort verspürt: auch läßt sich bei
dieser Bauart bei Inanspruchnahme der Gardinen entweder der öst
lichen oder der westlichen Fenster der Zufluß der Lichtfülle gut regu
lieren. Sämtliche Familienwohnungen (abgesehen an einer Oberarzt
wohnung), auch die neunzehn der fünf Pflegerhäuser liegen außerhalb
der Umwährungsmauer (nur die des Dienst- und Küchenpersonals
innerhalb derselben), die des Oberpflegepersonals an den äußeren
Giebelseiten und kein fremdes Fuhrwerk (außer den Krankenwagen)
braucht in der Regel im Anstaltsinnern vorzufahren; so herrscht im
Anstaltsinnern unverkennbar große Ruhe, denn zu demselben hat
außer den Aerzten und Beamten für gewöhnlich nur das Pflege- und
Dienstpersonal Zutritt; schließlich sei erwähnt, daß das Pflegepersonal
grundsätzlich nicht in den mit Kranken belegten Räumen und nur als
Reservepersonal in den mit Kranken belegten Geschossen schläft oder
wohnt, auch ein Umstand, welcher an die Zahl der Wachen und des
Pflegepersonals überhaupt erhöhte Ansprüche stellt.
Die sanitären Verhältnisse der neu eröffneten Anstalt waren
günstige, jedoch erkrankte im August 1906 ein Pfleger an Kopfrose
(starb im Krankenhause), im Oktober kamen drei weitere Fälle hinzu,
von denen einer tätlich verlief, im November trat der 5. Fall auf
und verlief gleichfalls tätlich, Dezember kam ein 6. Fall hinzu, der
im Januar 1907 ein Rezidiv bekam und im Mai 1907 nach einem
2. Rezidiv tätlich verlief, März 1907 traten zwei weitere Fälle auf,
davon einer mit tätlichem Ausgang, und im April kamen noch vier
Fälle hinzu, von denen gleichfalls einer tätlich verlief (also im ganzen
in neun Monaten 12 Fälle mit 6 Todesfällen).
Es wurde selbstverständlich stets Räumung und Desinfektion der
betreffenden Räume k. und Isolierung der Erkrankten verfügt.
Der erste Todesfall unter den Patienten der neu eröffneten An
stalt war leider ein Selbstmord (Erhängen), der jedoch mit aller
höchster Wahrscheinlichkeit verhindert worden wäre, wenn die betreffende
Nachtwache pflichtgemäß die elektrische Kontrole bedient resp. den be
treffenden Schlafsaal begangen hätte. Eine Gaumen- pp. Verätzung
(Säure? Lauge?), an deren Zustandekommen das Personal höchst
wahrscheinlich garnicht schuld war, wurde von der Staatsanwaltschaft
nicht strafrechtlich verfolgt, da die Untersuchung der betreffenden Lcichen-
teile seitens des gerichtlichen Chemikers ein negatives Resultat ergeben
hatte. Eine andere Vergiftung (Lysol) betraf eine Geistesgesunde,
welche in der Nachbarschaft aufgefunden, zur Anstalt gebracht wurde
und hier nach einigen Tagen verstarb.
Sonstige Unglücksfälle ereigneten sich nicht. Es kamen 42 Männer-
entweichungen vor, darunter brachen drei gemeinsam aus einem
Klosett des Aufnahmehauses aus, indem sie den gesamten Eisengitter
rahmen entfernten: einer brach aus einem Landhaus aus, einer ging
durch die oberen Drahtflügel einer Zelle des Ueberwachungshauses
(welch letzterer Ausbruch zu einem Beschluß der Deputation auf
weitere Sicherung der Jsolierräume des resp. Hauses führte), vier
wurden durch einen pflichtvergessenen Pfleger aus dem Ueberwachungs-
hause gelassen — es erfolgte Strafantrag, der zu einer Verurteilung
des Pflegers wegen vorsätzlicher Gefangenenbefreiung zu 6 Monaten
Gefängnis führte.
Die 33 sonst Entwichenen entwichen von der Außenarbeit und
hätten trotz ihrer Vorstrafen ihre Entlassung ruhig abwarten können.
Auch neun Frauen entwichen; darunter ließen sich zwei aus dem
Obergeschoß des Ueberwachungshauses.an einer selbst gefertigten Leine
herab, nachdem sie die Gitter mit einem Messer durchgefeilt hatten,
zwei entwichen durch das durchgeschnittene Gitter des Erdgeschosses
desselben Hauses unter Hilfe von außen, darunter eine hoch Gravide,
drei entwichen durch unvcrgitlcrte Fenster (eine nach emporgehobener
Hemmung des Drehflügels).
Die 42 entwichenen Männer waren zuni größten Teil bestraft
und von den neun entwichenen Frauen waren drei bestraft, darunter
eine mit Zuchthaus; auch bereits an diesem Material zeigt sich der
große Freiheitsdrang der Vorbestraften.
Im ganzen betrug die Zahl der Entlassenen (118), Entwichenen
(51), Toten (117) und Jnpflegegegebenen (14), 300. (214 Männer,
86 Frauen), so daß Ende März 1907 als Bestand in der Hauptanstatt
1286 (669 Männer und 617 Frauen) Patienten verblieben
(1586—3M = 1286).
Die Anstalt empfing im Berichtsjahre zahlreiche Besuche von den
städtischen Körperschaften und anderen interessierten Kreisen und
Personen.