Verwaltungsbericht
des
Magistrats zu Berlin
für
das Ltatsjcchr 1905.
J\t. 31a.
Wericht über das Hewerbegericht zu WerLin.
A. Allgemeiner Teil.
Im vorigen Jahre konnten wir berichten, daß das Anwachsen
der Dienstgeschäfte gegen das Vorjahr (Etatsjahr 1908) nur ein
mäßiges gewesen. Nicht so im vorliegenden Berichtsjahr. Ganz un-
verhältnismätzig groß gegen das Vorjahr (Etatsjahr 1904) ist sowohl
die Anzahl der Prozeffe (von 12 069 auf 12 827 — rund 7 v. H.) wie
die Anzahl der Einigungsverhandlungen gewesen. Wir wollen vor
weg bemerken, daß z. B. die Anrufungen bei Lohnbewegungen von
beiden Seiten (Arbeitgebern und Arbeitnehmern zugleich) allein
von 11 auf 32 gestiegen sind — rund 200 v. H. Dieses Anwachsen
ist offensichtlich nicht so bedingt durch die stete Fortentwickelung des
gewerblichen Lebens und eine gewiffe Steigerung der Lohnbewegungen
überhaupt, als durch die allseits, insbesondere auch auf seiten der
Arbeitgeber allmählich mehr und mehr durchdringende Einsicht, daß
das Gewerbegericht nach seiner Stellung und Stellungnahme zu den
gewerblichen Zwistigkeiten doch die berufenste Instanz ist, in solchen
Streitfällen zu vermitteln und sie zu schlichten.
Bei der Zunahme der Prozesse sind fast alle 8 Kammern beteiligt.
Auffallend hierbei ist, daß außer Kammer 8 wiederum die sogenannten
Baukammern (3 und 5) verhältnismäßig den größten Zuwachs be
kamen. Nur bei Kammer 1 ist 1>ie Prozeßanzahl abermals in fast
gleichem Prozentsatz wie im vorigen Jahre gesunken.
Die nachfolgende Tabelle gibt ein Gesamtbild.
Es wurden verhandelt im Geschäftsjahr
1904
1905
weniger
mehr
bei Kammer 1: Schneiderei und Näherei
- - 2: Tertil-, Leder-, Putz-
2 671
2 460
211
—
industrie
760
831
—
71
-
3: Baugewerbe ....
1 750
2 006
—
256
-
- 4: Holz- und Schnitzstofie .
727
815
—
88
- 6: Mx,agx
- 6: Nahrung, Beherbergung
1 429
1 590
161
und Erquickung . . .
- 7: Handel und Verkehrs-
2 400
2 568
168
gewerbe
1 444
1 492
—
48
-
- 8; Allgemein
888 1 065
—
177
in Summe:
12 069Ü2827
—211
+ 969
+ 758
Daß die Vorarbeiten für das am 2. Juni 1905 in Tätigkeit
getretene Kaufmannsgericht vom Gewerbegericht, dem es räumlich
angegliedert worden, ausgeführt sind, haben wir im vorigen Bericht
bereits erwähnt. Ueber die Tätigkeit des Kanfmannsgerichls in seinem
ersten Geschäftsjahr ist ein besonderer Bericht erstattet.
Um Mißverständnissen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern
vorzubeugen und unnötige Klagen zu verhüten, haben wir seit einer
Reihe von Jahren hier über die Erfahrungen und Wahrnehmungen
berichtet, die die hiesigen Gewerberichler in den einzelnen Kammern
gemacht. Wir fügen folgendes hinzu:
1. Der Streit um die „Arbeitspapiere" erfordert in den einzelnen
Kammern einen Teil fast jeder Sitzung. Zu dem hierzu schon früher
Berichteten haben wir weiter anzuführen:
a) Die Arbeitnehmer sind vielfach der Ansicht, das bloße Ab
handenkommen der Arbeitspapiere berechtige sie schon, vom
Arbeitgeber Schadenersatz zu verlangen, während oft das eigene
Verschulden des Arbeitnehmers die Ersatzpflicht ausschließt oder
doch mindert (§ 254 B.G.B.). Sie unterlassen meist die natür
lichsten Wege, ihre Papiere zu erhalten. Andere nehmen an,
daß die Papiere ihnen ohne Aufforderung zugestellt werden
müssen, obgleich § 284 B.G.B. eine vorhergehende Mahnung ver
langt, um einen „Verzug" auf seiten des Arbeitgebers zu kon
struieren. Oesters und besonders bei kürzerer Arbeitsdauer
befinden sich die Papiere noch bei der Krankenkasse oder ans
anderen Gründen auf dem Polizeibureau. Hier nehmen die
Arbeiter irrig oft an, daß eine BeschaffungsPflicht des Arbeit
gebers vorliegt. Auch die Bestimmungen der Preußischen An
weisung vom 17. Ikovember 1899 über die Beschaffung des
Ersatzes von verloren gegangenen oder zerstörten Quittungs
karten sowie des § 138 Jnv.-V.-G. find häufig ganz unbekannt.
Andrerseits wird beobachtet, daß manche Arbeitgeber immer
noch nicht sorgfältig genug die Quittungskarlen, Krankenkaffen-
bücher und Zeugnisse aufbewahren.
Von einzelnen Richtern wird den Arbeitgebern, um alle
Klippen bezüglich der Papiere zu vermeiden, geraten, diese den
Arbeitern überhaupt nicht mehr abzunehmen, sondern sie sich
nur, so oft erforderlich (zum „Kleben" k.) vorlegen zu lassen.
b) Die Vorenthaltung des Lohnes gibt dem Arbeiter nicht das
Recht, die Annahme der gehörig angebotenen Arbeits
papiere abzulehnen.
Aus Arbeiterkreisen ist jedoch schon wiederholt die Ansicht
vertreten worden, „daß man ohne Geld die Papiere nicht an
zunehmen brauche." Man geht dabei offenbar von dem ge
setzlich anerkannten Grundsätze aus, daß der Schuldner zu
Teilleistungen nicht berechtigt ist (§ 206 B.G.B.). Voraus-
setzung seiner Anwendbarkeit ist aber eine einheitliche Schuld.
Eine solche Einheit liegt jedoch in obigem Falle nicht vor. Die
Verpflichtung zur Löhnung hängt mit der Verpflichtung zur
Herausgabe von Arbeitspapieren an sich nicht zusammen. Jene
folgt aus dem Arbeitsvertrage unter der Voraussetzung ge
höriger Arbeitsleistung, diese aus dem besonderen Neben-(Ver-
wahrungs)verlragc unter der Voraussetzung, daß der Arbeiter
ihre Rückgabe gefordert hat oder die Zeit der Verwahrung ab
gelaufen ist. Diese Zeitdauer wird sich vielfach nach der Dauer
des Arbeitsverhällnistes bestimmen. Das ist aber etwas äußer
liches; ein innerer Zusammenhang zwischen beiden Verpflich-
tungen besteht nicht.
Hiernach kommt der Arbeiter, welcher in solchem Falle die
Annahme der Papiere ablehnt, in Verzug und kann daher für
den Lohnausfall, der ihm etwa infolge Nichtbesitzes der Papiere
entsteht, incht den Arbeitgeber verantwortlich machen,
e) Es findet sich auch die gewissermaßen entgegengesetzte Aus-
faffung, man brauche in solchem Falle die Papiere deshalb
nicht zu nehmen, weil sich das Arbeitsvcrhältnis und insbe
sondere das Recht auf fortlaufenden Lohnbezug — trotz der
ausgesprochenen Entlassung — bis zum Zeitpunkt der Zahlung
des rückständigen Lohnes fortsetze, man also einstn eilen nicht
nötig habe, sich um andere Arbeit zu beniühen. und folglicb
auch der angebotenen Papiere, die ja so wie so bei dem je-
weiligen Arbeiter belassen würden, noch nicht bedürfe.
Auch diese Anficht beruht auf Rechtsirrtum. Weder setzt sich
das Arbeitsverhältnis fort, noch besteht schon wegen bloßen Zahlungs
verzuges ein Anspruch aus Lohnvergütung für die Dauer des Bcr-
zuges. An sich ist vielmehr nur einAnspruch auf Verzugs zinsen gegeben.
(§ 288 B.G.B.) Die Geltendmachung eines weiteren Schadens
ist zwar nicht ausgeschlossen, ist aber von dem Nachweis abhängig.