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Nr. 31. Gewerbegericht.
Gerade das gewaltige Getriebe einer Millionenstadt läßt früher
als jedes andere kleinere Gemeinwesen die Schäden sichtbar an die
Oberfläche treten, an denen ganze Stände kranken, und so konpte
schon im Jahre 1897 das Gewerbegericht Berlin in seinem amtlichen
Bericht von einem Notschrei sprechen, der aus der großen Masse der
Handlungsgehilfen fast täglich in seinen Amtsräumen widerhallt und
flch deshalb erhebt, weil den Angehörigen dieses Standes versagt ist,
ebenso schnell und kostenlos Recht zu finden, wie die gewerblichen
Arbeiter.
„Fortgesetzt", so heißt es in jenem amtlichen Berichte, „entstehen
zahllose Kompetenzkonflikte ans der Frage, ob die betreffende Partei
als Handlungs- oder Gcwerbegehilfe anzusehen sei. Abgesehen hiervon
wäre es aber auch sozialpolitisch von nicht zu unterschätzendem Werte
für den Staat, durch schnelle Justiz, wie die Gewerbegerichte sie üben,
die Massen der Unzufriedenen zu vermindern. Wir sehen in unseren
Amtsstuben die Bestürzung, die sich auf den Gesichtern der Recht
suchenden abmalt, wenn ihnen bei Vorbriugung ihrer Klage eröffnet
werden mutz, daß die Handlungsgehilfen nicht vor das Gewcrbegericht,
sondern vor das Amtsgericht gehören, und wir glauben ihnen, wenn
sie erklären, daß sie die wenigen Tage, die das Gewerbegericht zur
Entscheidung braucht, sich wirtschaftlich durchgerungen hätten, daß sie
aber der Not in die Arme getrieben werden, wenn sie noch einige
Wochen, ja Monate warten müssen, bis ihnen ihre oft widerrechtlich
einbehaltenen Gehaltsbezüge zugesprochen seien."
Dieses sind Worte, diktiert von Tatsachen, welche zu Gunsten
des baldigen Erlasses eines Gesetzes, betreffend Kaufmannsgerichte
und der Ängliederung der kaufmännischen Schiedsgerichte an die Ge-
iverbegerichle in die Wagschale fallen.
Auch wir erstreben mit unserer Resolution Abhilfe für diese Not
stände und begehreti Beschleunigung und Verbilligung des Prozeß-
versahrens für die Handlungsgehilfen. Wir wissen, daß in überaus
zahlreichen Fällen die Anstrengung der gerechtesten Klage nur unter
bleibt, weil der Gehilfe nicht in der Lage ist, den Kostenvorschub zu
erschwingen. Wir fürchten aber auch, daß bei der jetzigen Gestaltung
der Amtsgerichte, bei dem notorischen Richtermangel und bei der ge
botenen Beobachtung der Zivilprozeßordnung eine Besserung ausge
schlossen ist.
Bei den Gcwerbegerichten wirkt alles erfolgreich und glücklich zu-
sammen, insbesondere das Laienelement, welches aus Sachverständigen
durch Wahl berufen ivird und welches in seiner Verhandlung und
Beratung von, Vorsitzenden geleitet wird. Die Auffassung dieses
Kollegiums, welches mehr in der praktischen und menschlichen, als
juristischen Beurteilung des Falles wurzelt, rriti an die Parteien zu
vörderst als ein Rat, eine Belehrung, nicht als ein gerichtliches Urteil
heran, und auf Grund dieses Rates, dieser Belehrung, erkennt der
Beklagte den klägerischen Anspruch an, oder zieht der Kläger seine
Klage zurück, oder endlich geben beide Teile nach und vereinigen sich
im Vergleich. Diesem Verfahren gereicht auch die vom Gesetz vor
gesehene Unmittelbarkeit des Verhandelns mit den Parteien, d. h. der
Ausschluß geschäftsmäßiger Prozeßvertretung, zum Segen und endlich
ist die Rücksicht zu beachten, mit welcher, im Gegensatz zu dem Ver
fahren vor den Amtsgerichten, hier das Gesetz das Zustandekommen
von Vergleichen erleichtert, und den kostenlosen Vergleich für voll
streckbar erklärt. Nur einer solchen Art des Verfahrens sind segens
reiche Erfolge zuzuschreiben, welche die Gewerbegerichte zu verzeichnen
haben. Erfolge, welche selbst die Gegner anerkannt haben und diese
nach und nach verstummen lassen.
Zum Beweise hierfür spricht die Statistik, 56,9 pCt. aller anhängig
gewordenen Sachen haben die deutschen Gewerbegerichte in weniger
als einer Woche erledigt, während die Amtsgerichte zur Erledigung
von 68,epCt. drei Monate brauchten. Fast die Hälfte aller Sachen
(45 pCt.) haben die Gewerbegerichte durch Vergleich beendet, den
Amtsgerichten gelang es nur bei 14 pCt.
Diese Zahlen klingen wie eine Anklage, sie lassen erkennen, wie-
viel Kraft, Zeit und Geld verloren wurde durch ein Prozeßsystem,
das den Bedürfnissen nicht mehr entspricht. Wir bemerkten schon, daß
viele Klagen von den Handlungsgehilfen erst garnicht angestrengt
wurden, weil ihnen Zeit und Geld mangelte, ihr Recht zu verfolgen.
Die Anzahl der bisher ausgeklagten Ansprüche der Handlungsgehilfen
bietet daher auch keine Unterlage für die Zahl der zwischen Gehilfen
und Chefs entstandenen Differenzen. Dem Einwand aber können wir
ans Grund unserer Erfahrungen entgegentreten, daß durch bessere und
billigere Gelegenheit die Neigung zum Klagen gesteigert wird, und
und wir bedienen uns zum Beweise hierfür wiederum der Angaben
in, letzten Verwaltungsbericht des Berliner Gewerbegerichts: „Trotz
der Zunahme der Bevölkerung sowohl, wie der gewerblichen Unter
nehmungen ist seit dem Bestehen der Gewerbegerichte die Zahl der
verhandelten Sachen nicht nur fast die gleiche geblieben, sondern, und
dieses ist besonders als klarster Beweis für das wachsende Vertrauen
zu den Gewerbegerichten anzusehen, die Zahl der Klagen der Arbeit
gcber hat sich fast um das Dreifache gegen den Anfang vermehrt
und ist von Jahr zu Jahr im Steigen begriffen."
Hinsichtlich der Wahlen kaufmännisch gebildeter Beisitzer möchten
wir darauf hinweisen, daß der Begriff für „Gewerbetreibender", „Fabri-
kant" oder „Kaufmann" heute bereits so eng mit einander verschmolzen
ist, daß die Praxis schon lange vorausgeeilt ist und wir in Berlin
schon seit Beginn der Tätigkeit unseres Gewerbegerichtes unter unseren
Arbeitgeberbeisitzern eine große Anzahl von Kaufleuten besitzen. Auch
der Vorteil verdient Aufmerksamkeit, daß sich bei einer Angliederung
der Schiedsgerichte für die Handlungsgehilfen an die Gewerbegerichte
der Kaufmann, Gewerbetreibende und Fabrikant bei Klagen mit seinen
Angestellten in Zukunft nur mit einem Gericht und nicht teils mit
dem Gcwerbegericht, teils mit dem Amtsgericht zu befassen hätte.
Nach der Gewerbegerichtsnovelle muß in Orten mit über
20 000 Einwohnern ein Gewerbegericht errichtet werden. Fast alle
Städte im deutschen Reiche, soweit sie über 20 000 Einwohner zählen,
haben bereits ein Gewerbegericht. Soll aber der Gesamtheit der Be
völkerung mehr und mehr das segensreiche Schaffen der Gewerbe
gerichte zugute kommen, so müffen die Grenzen für obligatorische
Errichtung derselben bedeutend mehr ausgedehnt werden.
Durch Angliederung der Schiedsgerichte für Handlungsgehilfen
an die Gewerbegerichte' würden diese auch in den kleinsten Orten
dauernd lebensfähig bleiben.
Die Angehörigen des deutschen Handels erreichten aber durch die
Ängliederung ein schnell und billig arbeitendes Gericht.
Wir ständen hier ans keinem Versuchsfeld, Oesterreich ist uns
bereits beispielgebend vorangeschritten. Durch das Gesetz vom 27. No
vember 1896 hat es seinen Gewerbegerichten die Streitigkeiten für
alle bei Handelsgewerben zu kaufmännischen Diensten verwendeten
Personen zugewiesen und wie schon jetzt sich gezeigt hat, zum größten
Segen seines Landes. Auch das deutsche Volk wird es seinen Gesetzgebern
danken, wenn hier, dem Bedürfnis folgend, ein Gleiches geschieht.
Nur dürfte freilich die Wahl der Beisitzer nicht, wie jetzt projektiert
sein soll, nach Art der Wahl der Schöffen erfolgen. Hier wollen wir
erwähnen, daß seinerzeit der Abgeordnete Stumm auch von den
Gewerbegerichtsbcisitzcrwahlen durch die Gewerbetreibenden selbst nichts
wissen wollte (Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik Bd. XIV,
Seite 169 a. E. u. ff.). Er wünschte die Auswahl der Gewerbe-
gerichtsbeisitzer ähnlich so, wo dieselbe für die Schöffengerichte vor
genommen wird. Zum Nachweise der Güte seines Vorschlages berief
er sich auf den verstorbenen Abgeordneten Windthorst, welcher am
3. Mai 1878 erklärte, daß es seinen Anschauungen sehr viel mehr
entsprechen würde, wenn die Konstruktion der Gewerbegerichtsbehörden
autoritativ geschähe. Der Abgeordnete Windthorst hat aber auch in
derselben Sitzung im Anschluß an seinen Vorschlag, die gewerblichen
Rechtsstreitigkeiten einfach durch den Amtsrichter unter Zuziehung
gewerblicher Elemente entscheiden zu lassen, geäußert: „Wenn man
einmal diese nach meiner Ansicht allein richtige Idee nicht durch
führen will, dann bin ich der Meinung, daß die Gewerbegerichte, die
man hier vor Augen hat. keinerlei Effekt haben, keinerlei Vertrauen
finden werden, wenn man nicht den Beisitzer wählen läßt." Dieses
Vertrauen genießen die Gewerbegerichte und zwar nach unseren Er
fahrungen lediglich, weil die Gewerbetreibenden sich ihre beisitzenden
Richter selbst wählen können. Aus diesen Gründen würde man nur
Recht tun. wenn man die Beisitzer der Kaufmannsgerichte ebenso Wähler?
ließ, wie die Gewerbegerichtsbeisitzer. Nur so werden die Kaufmanns-
gerichte die Sympathien der interessierten Bevölkerung gewinnen.
II. Wir müssen nunmehr noch mit wenigen Worten auf den
durch die Preffe bekannt gewordenen Gesetzentwurf, betreffend Kauf-
mannsgerrchte kommen?) Das Gewerbegericht hat vor einigen Monaten
einen von seinem Ausschüsse beratenen Antrag an Reichstag und
Bundesrat abgeschickt. Derselbe, welcher infolge des am 30. April
1903 eingetretenen Schlusses des Reichstages nicht zur Beratung und
Beschlußfassung gelangt ist und hiermit wieder aufgenommen wird, lautet:
1. Das Kaufmannsgericht hat in einem bei ihm anhängigen
Prozesse, für welchen ein anderes Gericht zuständig ist, durch
Beschluß seine Unzuständigkeit auszusprechen und den Rechts
streit an das zuständige Gericht zu verweisen.
Mit der Verkündung des Beschlusses gilt der Rechtsstreit
als bei dem anderen Gericht anhängig.
Die Vorschriften des Absatz 1 und 2 finden auf das Ver
fahren vor dem anderen Gericht entsprechende Anwendung.
2. Zur Vorbereitung von Gutachten und Anträgen über gewerb
liche Fragen, welche Handel und Gewerbe berühren, sind in
Gemeinden, wo Gewerbegerichte und Kaufmannsgerichte bestehen,
die Ausschüsse dieser Gerichte berechtigt, zu gemeinsamer Be
ratung zusammenzutreten.
3. Die 88 62—74 des Gewerbegerichtsgesetzes (über die Tätigkeit
als Einigungsamt) finden auf die Kaufmannsgerichte entsprechende
Anwendung^
Der Antrag zu 1 bezweckt, die Erledigung der Prozesse der
Gewerbetreibenden (Kaufleute, Handwerker usw.) möglichst zu be
schleunigen. Es würde hier eine Vorschrift vorteilhaft sein, dahin
gehend.'daß das beschließende Gericht seine Akten kurzer Hand an das
zuständige Gericht abzugeben hat. Das Berliner Gewerbegericht hat
bei Zuständigkeit des Jnnungsschiedsgerichts auf Antrag der Parteien
bisher regelmäßig die Prozeßakten dem zuständigen Gericht übersandt.
*) Das Gesetz, betr. Kaufmannsgerichte ist inzwischen (unterm 6. Jnli 1904)
zustande gekommen.