E-PAPER
Digitalisierung
von Wirtschaft
und Gesellschaft
Roundtable
«Zukunftswerkstatt
Deutschland»
EIN BERICHT VON INGE KLOEPFER
Eine Publikation der Heinrich-Böll-Stiftung, April 2017
Digitalisierung von Wirtschaft und
Gesellschaft
Ein Bericht von Inge Kloepfer
Inhaltsverzeichnis
Einführung: Deutschland vor einer Aufholjagd
3
Thema I: Bildung 4.0 – Wie wir morgen lernen werden
4
Thema II: Arbeit 4.0 – Wie wir morgen arbeiten werden
10
Format Roundtable «Zukunftswerkstatt Deutschland»
16
Die Autorin
16
Impressum
17
Der Bericht beruht auf einem Fachgespräch, das am 25. Januar 2017 in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin stattfand. Das Fachgespräch ist Teil einer gemeinsam vom
Institut der deutschen Wirtschaft Köln und der Heinrich-Böll-Stiftung verantworteten
Reihe, die sich unter der Überschrift «Zukunftswerkstatt Deutschland» gesellschaftlichen und ökonomischen Zukunftsfragen zuwendet. Es widmete sich unter den Vorzeichen der Digitalisierung in zwei Themenblöcken den beiden Fragen, wie wir morgen
lernen (Teil 1) und wie wir arbeiten werden (Teil 2).
Weitere Informationen und Dokumente unter www.iwkoeln.de und www.boell.de.
Einführung: Deutschland vor einer
Aufholjagd
«Die digitale Revolution ist in aller Munde.» Mit diesen Worten eröffnete Ralf Fücks,
Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, die dritte Veranstaltung der Gesprächsreihe
«Zukunftswerkstatt Deutschland», die die Stiftung gemeinsam mit dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln ins Leben gerufen hat. Die Digitalisierung von Wirtschaft und
Gesellschaft sei in vollem Gange. Einer detaillierten Begründung bedürften die beiden für
die Veranstaltung gesetzten Themen «Bildung 4.0 – Wie wir morgen lernen werden» und
«Arbeit 4.0 – Wie wir morgen arbeiten werden» daher nicht. Angesichts der bevorstehenden Umwälzungen durch die Digitalisierung überwögen in Teilen der Öffentlichkeit Ängste
und Befürchtungen. Zwischen 15 und 40 % der Arbeitsplätze seien laut einigen Schätzungen durch die Digitalisierung und die Entwicklung künstlicher Intelligenz gefährdet. Wegen
der immer intelligenteren Maschinen werde wohl auch intellektuelle Arbeit betroffen sein.
Auch wenn die positiven Effekte und Chancen einer digitalen Transformation nur schwer
verlässlich zu prognostizieren seien, so sei doch anzunehmen, dass eine offene und marktwirtschaftliche Ökonomie eine Vielzahl dezentraler Innovationen schaffen werde. Dank
des digitalen Wandels entstünden neue Tätigkeitfelder, andere Arbeitsformen, individuelle
Bildungsmöglichkeiten und sogar neue Wirtschaftszweige.
Welche Balance sich zwischen Risiken und Chancen mittelfristig ergebe, hänge stark mit
der Fähigkeit einer Gesellschaft zusammen, Veränderungen anzunehmen und den Wandel
zu gestalten. «Da haben wir noch Luft nach oben», ermutigte Fücks. Um den gesellschaftlichen Dialog voranzutreiben, hätten sich das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln
und die Stiftung für dieses Fachgespräch zwei zentrale Felder der Digitalisierung vorgenommen: Bildung und Arbeit.
Fücks dankte den an der konzeptionellen Vorbereitung des dritten Roundtable «Zukunftswerkstatt Deutschland» Beteiligten: auf der Seite des IW Köln dessen Direktor Michael
Hüther und dem Leiter der Abteilung Wissenschaft, Hans-Peter Klös, sowie dem für
Bildung und Wissenschaft bei der Heinrich-Böll-Stiftung zuständigen Referenten Philipp
Antony.
Michael Hüther, Direktor des IW Köln und Moderator der ersten Diskussionsrunde, betonte
in seiner Einführung die Bedeutung von Hardware und Infrastruktur, ohne die sich eine
Gesellschaft nicht auf die Digitalisierung vorbereiten könne. Das gelte vor allem für die
Vernetzung des ländlichen Raums. Grundvoraussetzung für das Lernen und Arbeiten in der
Region sei schnelles Internet: «Oft sind es dort nur sechs MBit/s, nicht 16 MBit/s.» Nach
einem Dank an die Heinrich-Böll-Stiftung und einem Lob auf die inzwischen so hervorragend etablierte Diskussionskultur zwischen Stiftung und Institut leitete er umgehend zum
ersten Thema «Bildung 4.0» über. «Wie lernen wir künftig und was?», das sei die zentrale
Frage, der sich das Bildungssystem stellen müsse.
Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft
3 / 17
Thema I: Bildung 4.0 – Wie wir morgen
lernen werden
Selbstverantwortung im Netz
Den ersten Impuls gab Christoph Meinel, Professor am Hasso-Plattner-Institut für Internet-Technologien und Systeme. Er begann mit einem ernüchternden Befund: «Die Menschen denken, dass sie die Digitalisierung verstehen, weil sie ein Smartphone besitzen und
es bedienen können.» Gleichwohl fehle ihnen jegliches tiefer gehende Verständnis dafür,
was das Internet sei und was Digitalisierung bedeute. Entsprechend des Postulats der
Aufklärung, Menschen in die Lage zu versetzen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen,
brauche auch die Digitalisierung mündige Bürger/innen. «Wir müssen etwas für die digitale Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger tun», sagte Meinel. Bildung bedeute auch mit
Blick auf die Digitalisierung, Menschen in die Lage zu versetzen, sich selbstverantwortlich
im Netz zu bewegen. Das beginne schon bei so einfachen Fragen wie «Was ist das Internet?» und «Was passiert, wenn ich dort etwas hineinschreibe?». Die Menschen müssten mit
Verstand agieren und die Grundmuster des Umgangs mit der digitalen Welt verinnerlichen,
so wie es für sie längst zu Selbstverständlichkeit geworden sei, sich vor dem Essen die
Hände zu waschen.
Lernen als sozialer Prozess
Das Lernen über das Netz lasse sich wie ein großer Teil der Wissensvermittlung allgemein im Netz organisieren. Das Hasso-Plattner-Institut biete zum Beispiel Online-Kurse
(MOOCs, Massiv Open Online Courses) an und erreiche damit 10.000 Lernwillige auf einen
Schlag, die sich dazu weiterbildeten, wie sie sich sicher im Netzen bewegen könnten. Der
Kurs sei auf sechs Wochen angelegt. Nach einer Abschlussklausur erhielten die Lernenden
ein Zertifikat. Immerhin 3.000 von 10.000 hielten durch. Meinel wies allerdings darauf
hin, dass Lernen im digitalen Zeitalter immer auch ein sozialer Prozess sei. «Das dürfen
wir nie vergessen», mahnte er. Nur wenige Menschen würden vollkommen alleine lernen.
«Die meisten brauchen die Gruppe und ihre Dynamik.»
Die Begleiterscheinung der Digitalisierung ist nach Meinels Worten die Beschleunigung
von Veränderungen. Das betreffe schulische und berufliche Bildung ebenso wie die lebenslange Weiterbildung. «Berufliche Tätigkeiten und auch das Lernen selbst werden sich
immer wieder verändern», sagte er. Das sei zwar allseits bekannt und in unendlich vielen
Schlagzeilen wiederholt worden, nur falle die Umsetzung dessen in der Praxis schwer.
Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft
4 / 17
Lernen in der Cloud
Um die Menschen und Betriebe von der Notwendigkeit des lebenslangen Lernens und damit
auch der beruflichen Weiterbildung zu überzeugen, brauche es in allererster Linie Anreize,
aber auch Formate. Weiterbildung könne sich in dem notwenigen Ausmaß nicht mehr auf
Basis einer Eins-zu-Eins-Beziehung vollziehen. Dafür biete die Digitalisierung von Bildung enorme Chancen. Meinel verwies auf die Praxis bei SAP und deren umfangreiche
Schulungssysteme, nicht nur für die eigenen Mitarbeiter/innen, sondern vor allem auch für
Kund/innen. «Hier arbeiten wir unter anderem auch mit MOOCs», sagte er. In diese OnlineKurse hätten sich rund 1,5 Millionen Lernende eingeschrieben. «Es gibt Bedarf und Nachfrage.» Ohne die Digitalisierung wäre es überhaupt nicht möglich, all die Nutzer/innen der
SAP-Systeme weiterzubilden.
Kein gutes Haar ließ der Wissenschaftler an der schulischen Bildung in Deutschland. In
die Schulen habe die Digitalisierung noch längst nicht systematisch Einzug gehalten. Er
bezeichnete das als Katastrophe. Es bleibe dem Engagement einzelner Lehrer/innen überlassen, ob sie ihre Schüler/innen an die Digitalisierung heranführten oder nicht. «Eine
Schule, ein Lehrer, ein Projekt – ist der engagierte Lehrer weg, ist das Thema tot», formulierte Meinel es drastisch. Dabei gebe es auch und gerade an den Schulen keine Alternative
zur digitalen Aufklärung. Grundvoraussetzung dafür sei die Infrastruktur. Meinel plädierte
für die Einführung von Cloud-Technologien auch an Schulen, über die der Zugang zu Lerninhalten ermöglicht werde. In vielen Ländern sei dies bereits Standard, Deutschland
hingegen liege hier weit zurück. Es gebe Pilotprojekte in Schulen für ein Schulnetzwerk,
aber dabei dürfe es nicht bleiben. Zudem stelle sich die Frage, ob alle 16 Bundesländer hier
eine eigene Strategie verfolgen müssten. «Muss wirklich jeder alles selbst organisieren?»,
fragte Meinel.
Als Flaschenhals in den Schulen erweise sich zudem die Pflege der Systeme. Es fehle an
qualifiziertem Personal, das Rechner und Systeme in Ordnung halte. Nötig seien in jeder
Schule Administrator/innen – auch für die Sicherheit von Rechnern und Netzen. Erst dann
könnten die Türen für das Online-Lernen an den Schulen geöffnet werden.
Primat des Pädagogischen
Katja Dörner, stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die
Grünen, antwortete in vier Punkten auf den Impuls von Christoph Meinel.
–– Erstens: Bildung 4.0 bedeute «lernen mit digitaler Unterstützung» und «lernen in und
für die digitale Welt». Dies müsse allerdings dem Primat des Pädagogischen folgen,
nicht umgekehrt. «Nicht jede Neuerung muss eingeführt werden», sagte sie. Vielmehr
müsse diese daraufhin hinterfragt werden, ob sie den Bildungsauftrag erfülle.
–– Zweitens: Mit Bildung 4.0 stelle sich die Frage nach der individuellen Förderung.
Jedes Kind solle und könne gemäß den eigenen Fähigkeiten gefördert werden. Digi-
Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft
5 / 17
tale Bildung eröffne Chancen für ein gerechteres Bildungssystem. Niedrigschwellige
Angebote seien für ein inklusives Bildungssystem von großer Bedeutung.
–– Drittens: Wichtig sei die Anschlussfähigkeit. Digitale Bildung biete hier große Chancen. Lernen könne individuell gestaltet werden, weil sich Lernprozesse individualisieren ließen – auch durch die Technologie der Learning Analytics. Lehrkräfte könnten
über Plattformen entlastet werden.
–– Viertens: Cloud-Lösungen über Plattformen veränderten das Rollenverständnis von
Lehrenden. Sie würden zu Lernbegleiter/innen, die die Lernenden zur Selbstständigkeit befähigten. Frontalunterricht werde durch die Möglichkeiten des digitalen
Lernens zunehmend verdrängt.
Qualitätssicherung, Datenschutz und Open Access
Dörner sieht in einem digitalen Bildungsangebot auch die Chancen, die Dominanz der drei
großen Schulbuchverlage zu brechen. Allerdings dürfe diese Dominanz nicht durch ein
Monopol großer Plattformen ersetzt werden. Auch für das lebenslange Lernen böten sich
mit der Digitalisierung viele Möglichkeiten. Sie beträfen aufgrund der hohen Flexibilität
des Einsatzes die Vereinbarkeit von Beruf und Weiterbildung.
Die Politikerin der Grünen warf allerdings auch Fragen der Bildungsdigitalisierung auf.
Es stelle sich zum Beispiel die Frage nach der Qualitätssicherung des Angebots, die nach
pädagogischen Kriterien erfolgen müsse. «Welche Rolle spielt in Zukunft die Fachaufsicht?», fragte sie. Es müsse Konsens über die «richtigen» Inhalte hergestellt werden. Ein
schwieriges Feld sei der Datenschutz: «Das Internet vergisst nichts.» Schulische Leistungen der achten Klasse sollten später bei Einstellungsgesprächen und Bewertungen keine
Rolle mehr spielen dürfen. Sie fragte ferner danach, wie man sich eine Schul-Cloud vorstellen solle. Hier müsse das Prinzip des Open Access herrschen, des freien Zugangs. Die in der
Cloud hinterlegten Inhalte müssten auch der Öffentlichkeit zugutekommen können.
Flächendeckende Maßnahmen nötig
Ihr Fazit: «Wir brauchen jetzt mehr als nur Leuchtturm-Projekte.» Das Fünf-Milliarden-Programm der Bundesbildungsministerin sei ein guter Anfang für die notwendige
flächendeckende Offensive, aber eben nur ein Anfang. Das Kooperationsverbot zwischen
Ländern und Bund mache auf diesem Feld keinen Sinn. Notwendig sei zudem eine veränderte Ausbildung und Weiterbildung der Lehrenden, denn noch seien in Deutschland die
meisten der Lehrenden keine Digital Natives.
Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft
6 / 17
Zeitgemäße Bildung – zentrale Kompetenzen
In einem zweiten Kommentar kam Sabine Frank zu Wort, bei Google Deutschland für Regulierung, Verbraucher/innen- und Jugendschutz zuständig. Schüler/innen würden Informationen heute anders erlangen als früher. Diese seien in Echtzeit verfügbar. Es könne heute
nicht mehr nur um die Aneignung von Stoff gehen, sondern um den Umgang mit Informationen. Diese müssten eingeordnet und veredelt werden. «Wir wissen nicht, was die Zukunft
ist. Aber wir wissen, welche Kompetenzen eine Rolle spielen werden», sagte Frank. Die
Verfügbarkeit des Wissens brauche eine zeitgemäße Bildung. «Leistet das Schulsystem
dies heute oder nicht?», fragte sie. Die notwendigen Kompetenzen für die Welt von morgen
seien Fähigkeiten in der Problemlösung, der Entscheidungsfindung, der Kommunikation,
der Kollaboration und Kreativität. «Wie wird es uns gelingen, den Kindern ein mind- und
skill-Set mitzugeben, damit sie die Aufgaben von morgen bewältigen können?»
Für eine neue Lernkultur
Neben der schulischen Bildung seien die Weiterbildung und das lebenslange Lernen große
Herausforderungen. Dafür müsse es genügend Angebote und ausreichend berufliche Freiräume geben, Sabbaticals für Bildung sozusagen, vielleicht sogar die Möglichkeit, nach
der Hälfte der Karriere noch einmal ein neues Studium aufzunehmen. Die Technologie sei
nicht immer die Lösung dieser Frage, warnte Frank. Sie bedeute nämlich nicht automatisch eine tatsächliche Beteiligung an Bildung. Technologie könne lediglich helfen, das
lebenslange Lernen zu ermöglichen.
Frank forderte zudem eine Diskussion darüber, zu welcher Lernkultur wir in Deutschland
kommen wollen. Danach erst lasse sich darüber reden, welche Werkzeuge und damit welche Technologie sich dafür eigne.
Die Rolle der Lehrer/innen, so lautete auch ihre Prognose, werde sich radikal verändern.
Sie würden zu Lernbegleiter/innen, die den Schüler/innen das Lernen mit und über die digitalen Medien vermitteln. Wichtig ist Frank der spielerische Umgang mit den technischen
Möglichkeiten. Die Anzahl der Kinder, die selbst etwas produzierten, sei zu gering. «Sie
müssen Dinge selbst bauen, um sie zu begreifen», sagte Frank.
Aktiv und selbstbestimmt
Im Anschluss an die drei Vorträge entspann sich unter den Teilnehmer/innen des Roundtable eine Diskussion darüber, welche Inhalte vermittelt werden sollten. Ob die Fachaufsicht
hier noch die richtige Instanz sei, darüber zu urteilen, zog Wissenschaftler Meinel in Zweifel. Er forderte mehr Experimentierfreude. Im Netz gebe es keine Kommission als letzte,
umfassende Kontrollinstanz. Die Kontrolle übernehme die Community selbst. Im Netzwettbewerb setze sich stets das beliebteste Angebot durch. Anwendungen, die gut funktionierten, würden stärker genutzt als andere. Auch Google-Mitarbeiterin Frank forderte eine
Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft
7 / 17
schnellere und einfachere Qualitätssicherung, als sie die Fachaufsicht von heute leisten
könne.
Ein weiteres Thema war die soziale und kulturelle Flankierung dieses bevorstehenden und
notwendigen radikalen Wandels. Man solle, hieß es aus der Runde, nicht nur in Geräten
denken, die Gerätefrage enge alles ein. Viel wichtiger sei eine neue Lehr- und Lernkultur
– selbstorganisiert, kooperativ, bedürfnisgerecht. Schüler/innen wollten selbst aktiv und
selbstbestimmt sein, Lehrende ebenso. Sie, die diese neuen Prozesse begleiten sollten,
bräuchten neue Unterrichtskonzepte wie etwa eine an Aufgaben oder Projekten orientierte
Didaktik. Lernen müsse sich am Lösen von Aufgaben orientieren und darüber funktionieren, Schüler/innen sollten Arbeitsergebnisse digital präsentieren. Unumstritten blieb, dass
die Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden durch die Medien nicht zu ersetzen
ist.
Die richtigen Lehrer/innen – die richtige Schule
Deutlich wurde, dass die derzeitige Qualität des Lehrpersonals diesen Anforderungen nicht
gewachsen ist. Das hat vor allem einen Grund: Der Umgang mit und der Einsatz von digitalen Medien und Methoden sind nicht Ausbildungsinhalt des Lehramtsstudiums. Die Digitalisierung wird, wenn überhaupt, nur im Zusammenhang mit den MINT-Fächern diskutiert.
Dabei müssten Einsatz und Methodik in allen Lehrfächern Thema sein und im Unterricht
ihren Platz finden.
Diskutiert wurde darüber, ob heute wirklich alles so viel anders sei als früher. Wissen sei
auch früher immer verfügbar gewesen – wenn auch nicht im Internet, so doch in Büchern
und Bibliotheken. Das habe die Rolle des Lehrenden damals nicht verändert. Müsse heute
alles anders gemacht werden als früher? Dem hielten Veranstaltungsteilnehmer/innen entgegen, dass die Informationsbeschaffung tatsächlich nie so einfach gewesen sei wie heute.
Die Haltung der Lehrenden aber sei immer noch die, dass sie Vermittler/innen exklusiven
Wissens seien. Die technologische Entwicklung helfe den Lernenden, sich selbst etwas beizubringen. Der Fokus müsse in der Pädagogik fortan auf Individualisierung liegen. Wenn
nicht mehr alle alles im gleichen Tempo lernen müssten, ändere sich die Rolle der Lehrkraft.
Gleitzeit für Schüler/innen?
Wer die Möglichkeiten der Digitalisierung radikal weiterdenkt, kommt nicht nur zu einer
veränderten Rolle der Lehrer/innen, sondern zu einem völlig neuen Konzept von Schule.
Auch das wurde thematisiert. Lehrende werden zu Lernbegleiter/innen, Stundenpläne
werden obsolet, Unterrichtsräume müssen geöffnet und zu Fachräumen werden. Jede
Schülerin, jeder Schüler bekommt einen eigenen Plan, den sie oder er abarbeiten muss.
Wann aber Mathematik oder Deutsch oder ein anderes Fach in den jeweiligen Fachräumen
Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft
8 / 17
gelernt wird, kann den Lernenden überlassen bleiben. Sogar eine Gleitzeit für Schüler/
innen erscheint durch die Digitalisierung denkbar.
Im Spannungsfeld von Offenheit und Kontrolle
In welche Richtung sich Pädagogik und Didaktik entwickeln werden, ist – das wurde mehrfach deutlich – wohl kaum vorherzusehen. Nicht alle Fragen, die beim Experimentieren mit
dem Einsatz digitaler Möglichkeiten entstehen, können schon im Vorhinein beantwortet
werden. Offenheit sei gefordert in einer Welt der Vielfalt, die keine Wegweiser mehr kenne,
so der allgemeine Tenor. Immerhin kann die Nachhaltigkeit des Einsatzes digitaler Inhalte
und Methoden gemessen werden, weil der Lernende in den Systemen Spuren hinterlasse.
Im Rahmen der learning analytics ist die Bewertung digitaler Angebote sehr gut möglich,
wenn auch zu einem hohen Preis. Lernende hinterließen Daten, die nicht nur ihre Lernfortschritte zeigten, sondern Rückschlüsse auf Lernerfolge und Intelligenz zuließen und
sehr schnell zeigten, welche die guten und welche die schwächeren Schüler/innen seien,
wurde kritisiert. Das könnte den jeweiligen Lernenden ein Leben lang nachhängen. Personalisierte Daten darf es deshalb nicht geben. Die Regeln des Datenschutzes reichten aus,
dürften allerdings im Rahmen von Experimentierklauseln keinesfalls verwässert werden,
auch wenn die Computerindustrie «mehr Beinfreiheit» für den Einsatz eigens entwickelter
Software und Methoden in den Schulen fordere.
Bildungsziel Arbeitsmarkt?
Abschließend wurde zweierlei deutlich: Noch kommen zu wenige der neuen digitalen
Möglichkeiten in der Schule und beruflichen Weiterbildung zum Einsatz und damit bei den
Lernenden an. Die Politik allerdings beschäftigt sich auf Bund- und Länder-Ebene bereits
damit. Am 8. Dezember 2016 hat die Kultusministerkonferenz (KMK) mit ihrer Strategie «Bildung in der digitalen Welt» ein Handlungskonzept vorgelegt. Es beinhaltet einen
veränderten Bildungsauftrag. Das Lernen im Kontext der zunehmenden Digitalisierung von
Gesellschaft und Arbeitswelt sowie das kritische Reflektieren darüber werden zu integralen
Bestandteilen des Bildungsauftrages. Die Bundesregierung ihrerseits steuert im Rahmen
eines Digitalpaktes fünf Milliarden Euro zur Infrastruktur bei. Mit der KMK hat sie sich
auf das Primat des Pädagogischen verständigt. Gleichwohl könnte die Abstimmung zwischen den Gebietskörperschaften besser sein.
Alles in allem führt die Digitalisierung bis zu einem gewissen Grad zu Kontrollverlust.
Beispiele aus der Praxis zeigen, dass Lernende oder Studierende sich im Rahmen der
vielen Möglichkeiten zwar selbstständig bewegen, dann aber doch beim Lehrpersonal eine
gewisse Führung einfordern.
Bildung hat nach Michael Hüther das Ziel, zum Arbeitsmarkt zu führen. Er beschloss die
Diskussion mit einem Hinweis auf den folgenden Themenblock Arbeit 4.0. Die Signale aus
der Arbeitswelt seien unterschiedlich. In den Vereinigten Staaten sei der Anteil der techni-
Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft
9 / 17
schen Bachelor-Abschlüsse von 18 auf 40 % gestiegen. Gleichzeitig hätten die Unternehmen dort im vergangenen Jahr erstmals wieder mehr Geistes- und Sozialwissenschaftler/
innen eingestellt.
Thema II: Arbeit 4.0 – Wie wir morgen
arbeiten werden
«Die Zukunft der Arbeit können wir nicht vorhersehen.» Mit diesen Worten führte Ralf
Fücks, Moderator der Diskussionsrunde zu diesem Thema in den Nachmittag ein. Klar
sei nur, dass sich die Arbeitswelt in einem tief greifenden Wandel befinde, der disruptive
Kräfte entfalte. Branchenstrukturen lösten sich auf, die Anforderungen an menschliche
Arbeit änderten sich radikal. Nicht nur die Industrie, auch der Dienstleistungssektor sei
betroffen. Die Bundesregierung hat die Digitalisierung zu ihrem Thema gemacht und über
das Bundesarbeitsministerium einen Dialogprozess über die bevorstehenden und zum Teil
schon stattfindenden Veränderungen begonnen. Ergebnis sei 2015 ein Grünbuch gewesen.
Derzeit sei ein Weißbuch des Bundesarbeitsministeriums in Vorbereitung, das mit Empfehlungen Orientierung geben könne.
Vom Grünbuch zum Weißbuch
Den Impuls gab Benjamin Mikfeld, Leiter der Abteilung Grundsatzfragen des Sozialstaats
und der sozialen Marktwirtschaft im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Die
Zukunft der Arbeit befinde sich in einem Spannungsfeld zwischen technologischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen. Der technologische Fortschritt bringe
eine exponentielle Leistungssteigerung der Informations- und Kommunikationstechnologien mit sich, künstliche Intelligenz, Big Data und Cloud-Computing. Gesellschaftlich veränderten sich das Rollenverständnis von Männern und Frauen sowie – nicht zuletzt durch
den demografischen Wandel – auch das Generationenverhältnis und die Konsumgewohnheiten. Die Wirtschaft bringe mit der Industrie 4.0 veränderte Arbeitsbedingungen, smart
services, Plattformen und die share economy.
Das Bundesministerium für Arbeit hat am 22. April 2015 darüber einen Dialogprozess
mit den Verbänden begonnen und sie zu Stellungnahmen aufgefordert. Es befragte auch
die Bürger/innen zum Thema Arbeit 4.0 und initiierte zudem Fachgespräche. Auf dieser
Basis erstellte das Ministerium zunächst ein Grünbuch und dann ein Weißbuch mit Handlungsempfehlungen, das nun mit den anderen Ressorts diskutiert werden soll. «Mit diesem
Weißbuch liefern wir nichts Fertiges», sagte Mikfeld, denn der Wandel der Arbeitswelt sei
längst nicht abgeschlossen.
Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft
10 / 17
Das Ende der Arbeit?
Die Prognosen zur Zukunft der Arbeit könnten unterschiedlicher nicht sein, stellte Mikfeld
fest. Einerseits werde – im Rahmen einer sehr verengten technikdeterministischen Sicht
– durch die weitreichende Automatisierung von Berufen eine Krise oder sogar das Ende
der Arbeit vorhergesagt. Prognosen wie diese mündeten regelmäßig in die Forderung nach
einem bedingungslosen Grundeinkommen. Andererseits werde ein Wandel von Kompetenzen, Berufen und Branchen prognostiziert, der allerdings nicht mit Beschäftigungsverlusten einhergehe.
Für das Bundesarbeitsministerium stellt sich die Frage, wie man diese Anpassungsprozesse vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und im Hinblick auf ein gewisses
Marktversagen organisiert, das zum Teil in der Zurückhaltung der Unternehmen gründe,
sich auf diesen Wandel vorzubereiten.
Bessere Arbeitsbedingungen oder
Dequalifizierung?
Die Flexibilitätsanforderungen an die Unternehmen und ihre Mitarbeiter/innen sind nach
Mikfelds Worten hoch – mit allen Chancen und Risiken. Sie beträfen alle Felder eines
Unternehmens, von der Flexibilisierung der Arbeit über das Outsourcing bis hin zu räumlicher Dezentralisierung. Die Kunst sei es, im Rahmen dieser Veränderungen den Betrieb als
sozialen Ort zu erhalten mit Normalarbeitsverhältnissen und der Mitbestimmung als einem
wichtigen Element der sozialen Marktwirtschaft. Flexibilisierung und Digitalisierung seien
die Fliehkräfte in der Gesellschaft – positiv für die einen, eine Zumutung für andere. Die
Ansprüche an die Arbeit und an die Erwerbsbiografien würden sich weiter verändern. Sie
seien heute schon äußerst heterogen – von der Hoffnung auf ein sorgenfreies Leben durch
die Arbeit über den Wunsch, in einer starken Solidargemeinschaft zu arbeiten, bis hin zur
erstrebten Selbstverwirklichung.
Die Zukunft all dessen ist offen: «Wir wissen nicht, ob menschliche Arbeit aufgewertet
wird oder dequalifiziert», sagte Mikfeld. Es gebe durchaus die Möglichkeit verbesserter
Arbeitsbedingungen durch die neuen Technologien, aber eben auch das Risiko der Dequalifizierung. Dabei werde das Plattformgeschäft eine entscheidende Rolle spielen: sowohl zur
Vermittlung von Billig-Arbeitskräften, wie es etwa bei dem Start-up Helpling der Fall ist,
als auch für das Crowdworking, vor allem für qualifizierte IT-nahe Dienstleistungen. Die
Plattformen entwickeln dabei eine gesellschaftlich verändernde Kraft und können mittelständische Strukturen verdrängen.
Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft
11 / 17
Neue sozialpartnerschaftliche Vereinbarungen
Vor dem Hintergrund der Frage, ob die Zukunft den Normen der sozialen Marktwirtschaft
noch gerecht wird, ergeben sich nicht nur für die Politik zentrale Gestaltungsaufgaben:
die Entwicklung von Geschäftsmodellen und intelligenten Regulierungsrahmen für «gute
Arbeit», die Ausrichtung der Weiterbildungspolitik und Arbeitsförderung auf Beschäftigungsfähigkeit, die Unterstützung von diskontinuierlichen Erwerbsbiografien und von
sozial- und betriebspartnerschaftlichen Flexibilitätskompromissen. Dazu kommen der
Arbeitsschutz 4.0 mit Blick vor allem auf die psychischen Aspekte der Arbeitsbelastung
sowie die Absicherung atypischer und vor allem selbstständiger Erwerbsformen.
Mikfeld betonte, dass staatliche Regeln hier oft nicht so gut funktionierten wie sozialpartnerschaftliche Vereinbarungen. Dafür aber brauche man auf Dauer wieder eine höhere
Tarifbindung.
Gestaltungsaufgabe sei ferner das gemeinsame Lernen in und aus der Transformation. Hier
brauche es Experimentierräume und Praxislabore für die Mensch-Maschine-Interaktion,
für künstliche Intelligenz, unterschiedliche Arbeitszeiten und agile Arbeitsformen. Mikfeld
ließ keinen Zweifel daran, dass der Bund hier Mittel zur Verfügung stellen müsse, um den
Prozess zu begleiten. Er schloss mit den Worten: «Die Digitalisierung gibt es nicht. Sie
verläuft in unterschiedlichen Formen und Geschwindigkeiten.»
Suche nach der «guten Arbeit» im digitalisierten
Umfeld
In ihrem Kommentar zu Mikfelds Ausführungen stellte die Bundestagsabgeordnete Brigitte
Pothmer, arbeitsmarktpolitische Sprecherin bei Bündnis 90/Die Grünen, die Notwendigkeit
der Orientierung in der sich rapide wandelnden Arbeitswelt für die Menschen heraus. «Wir
brauchen Vertrauen in den Prozess», sagte sie. Seit zehn Jahren herrsche in Deutschland
eine gute, zuletzt sehr gute Arbeitsmarktsituation. Trotzdem seien nicht alle Menschen
integriert. Es gebe jetzt schon Outsider/innen. Und es gebe viele, die nicht daran glaubten,
dass die Arbeitswelt 4.0 ihnen Vorteile bringen werde – im Gegenteil. Pothmer konzentrierte sich in ihrem Kommentar im Weiteren auf verschiedene Aspekte «guter Arbeit». Auf
den Feldern Qualifizierung, Weiterbildung und lebenslangem Lernen sei Deutschland ein
Entwicklungsland. Das gelte vor allem für Geringqualifizierte, Ältere und Migrant/innen.
«Hier tun wir zu wenig. Und wenn, dann nur in homöopathischen Dosen», sagte sie. Wenn
Lernen ein sozialer Prozess sei, stelle sich die Frage, wie man ihn gerade für diese Gruppen organisieren müsse. Nur mit Technologie werde das nicht gehen. Pothmer plädierte
für einen weitreichenden Umbau der Bundesagentur für Arbeit, deren Hauptaufgabe in
Zukunft die Qualifizierung der Bevölkerung sein solle. Sie forderte ferner ein Erwachsenen-BAföG, um so den Staat an den Kosten für die Weiterbildung der Menschen zu beteiligen. Weiterbildung koste Zeit und Geld. Das gelte es besser zu organisieren.
Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft
12 / 17
Mit Bezug auf die Chancen, die die Digitalisierung für die flexiblere Gestaltung der
Arbeitszeit bringe, verwies die Bundesabgeordnete auf das Konzept von Bündnis 90/Die
Grünen zur Wahlarbeitszeit mit flexiblen Grenzen zwischen Vollzeit und Teilzeit. «Teilzeit
soll nicht mehr die minderbemittelte Schwester der Vollzeit sein», sagte sie. Auch für
Paare sei das besser, denn sie könnten die Fürsorge für die Familie, Arbeit, Weiterbildung
und Karriere besser zusammenbringen.
Einheitliches System der sozialen Sicherung
Pothmer warnte jedoch davor, den Arbeitsschutz im Rahmen des Arbeitsschutzgesetzes
zurückzufahren. «Vormittags im Büro, nachmittags bei den Kindern, abends zu Hause
wieder für den Arbeitgeber am Schreibtisch – wie lange geht so etwas gut?», fragte sie. Es
liege nicht nur im Interesse der Unternehmen, sondern der Gesellschaft als Ganzes, dass
Menschen mit ihren Kapazitäten haushalten und ein Leben lang arbeiten könnten.
Pothmer forderte für die Zukunft einen Umbau der Arbeitslosenunterstützung. Auf Dauer
seien die zwei Systeme aus Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung nicht haltbar,
weil durch die Veränderung der Arbeit immer weniger Menschen, die in die Versicherung
einzahlen, tatsächlich auch Arbeitslosengeld bekämen. Sie erfüllten auf Dauer die Anwartschaften nicht mehr. «Wir werden künftig nicht mehr zwei Kreisläufe, sondern ein einheitliches System brauchen, weil sich die Formen der Arbeit so stark ändern.»
Mehr Experimentierräume für Unternehmen
In seinem Kommentar lobte Oliver Stettes, Leiter des Kompetenzfeldes Arbeitsmarkt und
Arbeitswelt beim IW Köln, den sachlichen Dialogprozess, den das Bundesarbeitsministerium in Gang gesetzt habe. «Manche Visionen zur Arbeitswelt 4.0 aber sind noch sehr weit
weg. Wir sind weit davon entfernt, das Endstadium erreicht zu haben.»
Er stellte fest, dass sich das Weißbuch sehr reserviert zu den Untergangsszenarien verhalte, die gemeinhin in der Bevölkerung kursierten und auch von Teilen der Fachwelt
beschworen würden. Einem Umbau der Bundesagentur für Arbeit, wie ihn Pothmer vorgeschlagen hatte, erteilte er eine Absage. Dieses Ansinnen berge die Gefahr, in Formalismus
auszuarten. Der informellen, arbeitsplatzbezogenen Weiterbildung in den Unternehmen
selbst komme eine viel bedeutendere Rolle zu. Die Forschung zeige, dass hier vor allem für
ältere Beschäftigte und reintegrierte Arbeitskräfte große Chancen lägen. Innerbetrieblich
seien diese allemal besser als formale Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit. Eine
Absage erteile Stettes auch der Idee einer Reorganisation der Arbeitslosenversicherung.
Er warnte: «Hier kommen wir in die Debatte, die wir bereits vor 16 Jahren geführt haben.»
Alles in allem würden empirische Daten zeigen, dass die Digitalisierung der Arbeitswelt
mehr Chancen als Gefahren berge. Zwar bestehe das Risiko der Entgrenzung der Arbeit
durch die Digitalisierung im Zuge einer ständigen Erreichbarkeit und Einsatzbereitschaft,
Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft
13 / 17
doch stünden auf der Positivseite mehr Zeitsouveränität, mehr räumliche Souveränität und
auch eine größere inhaltliche Souveränität. «Die Menschen wollen das mehrheitlich – und
die Unternehmen auch», sagte Stettes und verwies darauf, dass diese neuen Spielräume
auch nur gemeinsam genutzt werden könnten, beide Seiten des Arbeitsverhältnisses müssten das wollen.
Der Arbeitsmarktexperte bezweifelte, dass dies immer über die Mitbestimmung organisiert
werden müsse. Hier gehe ihm das Weißbuch nicht weit genug. Als Vertreter eines wirtschaftsnahen Instituts forderte er mehr Experimentierspielräume für alle Unternehmen.
«Will die Regierung die Unternehmen wirklich in die Mitbestimmung drängen?», fragte er.
Keine Bundesagentur für die Weiterbildung
In der sich anschließenden Diskussion ging es zunächst um die Frage, ob sich derartige Veränderungen der Arbeitswelt in den vergangenen 60 Jahren schon einmal vollzogen hätten.
Eine klare Antwort wurde darauf nicht gegeben. Trotz der umfangreichen Transformation
gehe es nicht darum, Großszenerien zu entwerfen, sondern evidenzbasiert auf die Veränderungen zu reagieren, hieß es.
Wenig Anklang fand die Idee, die Bundesagentur für Arbeit zu einer zentralen Qualifizierungsagentur umzubauen. Qualifizierung müsse zunächst der betrieblichen Logik der
Unternehmen und der biografischen Logik der einzelnen Menschen überlassen bleiben.
Eine zentrale Agentur könne nicht entscheiden, welche Zusatzqualifikationen am Markt
gebraucht würden. Gleichwohl wurde es als staatliche Aufgabe gesehen, Weiterbildung und
lebenslanges Lernen zu fördern. Dabei müsse nach der Grenze der betrieblichen und der
staatlichen Verantwortung gefragt werden. Es wurde darüber hinaus auf eine Befragung
der Unternehmensberatung Accenture unter 1.000 deutschen Arbeitnehmer/innen verschiedener Branchen verwiesen. Die Bereitschaft zur Weiterbildung sei hoch, Kritik äußerten die Beschäftigten vor allem an den mangelnden Angeboten ihrer Arbeitgeber/innen.
Mehr Kontrolle oder größere Spielräume?
Schwieriger erschien die Frage nach neuen Regelungen für die Arbeitszeit zu sein. Unternehmen verschließen vielfach die Augen davor, dass ihre Mitarbeiter/innen aufgrund
betrieblicher Notwendigkeiten permanent gegen die geltenden Arbeitszeitregelungen
verstoßen. Niemand schaut genau hin. Das gilt sowohl für die Industrie als auch für den
Dienstleistungssektor. Um die Einhaltung der geltenden Arbeitszeitregelungen zu gewährleisten, bräuchte man offensichtlich mehr Kontrolle oder größere Spielräume. Diese müssten ausgehandelt werden – sei es zwischen den Tarifvertragsparteien oder auf Basis von
Betriebsvereinbarungen. Freiräume für Arbeitszeiten wurden von manchen Diskussionsteilnehmenden vor allem für die Start-Up-Szene gefordert. Zudem wurden verschiedene
Fragen danach gestellt, auf welcher Basis sich Arbeitszeitregelungen ändern könnten – bei
den Tages- oder Wochenarbeitszeiten etwa oder auf Jahresbasis. Außerdem: Was geschehe
Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft
14 / 17
mit den Wege- und Ruhezeiten? Eine Verkürzung der Ruhezeiten von elf auf neun Stunden
erschien dem Gros der Teilnehmenden für bestimmte Beschäftigungen konsensfähig. Allerdings muss darauf geachtet werden, dass sich die Menschen nicht in jungen Jahren derart
verausgaben, dass sie jenseits der 50 kaum noch arbeitsfähig sind.
Hohe Arbeitszufriedenheit
Ein weiteres Thema war der allgemeine Arbeitsschutz, der durch die Digitalisierung der
Arbeit vor allem die psychische Belastung betreffe. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz
und Arbeitsmedizin untersucht derzeit die Gründe für die erhöhte Stressbelastung der
Erwerbstätigen. Wenn darüber Klarheit herrscht, sollen im Bundesministerium für Arbeit
neue Instrumente entwickelt werden, um den Arbeitsschutz zu regeln. Die Schwierigkeit
liegt offenbar darin, dass sich Unternehmen und die Arbeit zwar verändern, allerdings
nicht nach einem einheitlichen Paradigma.
Die Digitalisierung ermöglicht das Arbeiten zu Hause (Homeoffice). Dies werde deutlich
mehr nachgefragt, als von den Unternehmen angeboten. Hierfür, so lautete eine Forderung, müssten Regeln getroffen werden, damit sich Arbeitnehmer/innen nicht gänzlich
ausbeuteten und vor allem Ruhezeiten einhielten. Auch in der Arbeitswelt 4.0 wird sich
das Weisungsverhältnis zwischen Arbeitgeber/in und Arbeitnehmer/in nicht grundsätzlich
ändern, weil das abhängige Beschäftigungsverhältnis weiterhin Standard sein werde, hieß
es. Das verkompliziert die Lage, nicht zuletzt, weil die Interessen der Arbeitnehmer/innen
unterschiedlicher nicht sein könnten. Die einen wollen flexibel arbeiten, die anderen nicht,
wieder andere wünschen sich mehr Heimarbeit, so mancher geht dagegen lieber ins Unternehmen. Klar wurde, dass das Ausbalancieren dieser Interessen jenseits aller staatlichen
Regelungen in den Unternehmen selbst stattfinden müsse. Den Arbeitgeber/innen bleibe, so
die Annahme, langfristig gar nichts anderes übrig, als auf die Interessen ihrer Mitarbeiter/
innen einzugehen. Die Arbeitszufriedenheit in Deutschland sei hoch. Allzu großen Bedarf,
Regeln und Gesetze zu ändern, gibt es, vor allem aus Sicht der Unternehmerinnen und
Unternehmer, nicht.
In einem Schlusswort fasste IW-Direktor Hüther die Veränderungen in den Beziehungsfeldern der Wirtschaft durch die digitale Transformation noch einmal zusammen. Das Verhältnis von Unternehmen zu Kund/innen (B to C, Business to Consumer/Customer) werde
durch skalierungsfähige Geschäftsmodelle verändert, die Beziehung der Verbraucher/innen
untereinander (C to C) durch Plattformen, über die Communitys entstünden – etwa zum
Mitwohnen oder Mitfahren. Die Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen (B to B)
erführen im Rahmen von Industrie 4.0 einen Paradigmenwechsel, weil individuelle Lösungen bei gleicher Kosteneffizienz zunehmend möglich würden. Die Beziehung von Verbraucher/innen zu Unternehmen (C to B) werden sich, so seine abschließende Einschätzung, vor
allem durch die Möglichkeiten im Rahmen von Big Data wandeln.
Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft
15 / 17
Format Roundtable «Zukunftswerkstatt
Deutschland»
Unter der Überschrift «Zukunftswerkstatt Deutschland» veranstalten das Institut der deutschen Wirtschaft Köln und die Heinrich-Böll-Stiftung eine gemeinsame Fachgesprächsreihe zu gesellschaftlichen und ökonomischen Zukunftsfragen. Wir sind überzeugt, dass
eine Gesprächskultur unter Einbeziehung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und
politischer Richtungen nötig ist, um tragfähige Antworten auf die anstehenden Herausforderungen zu finden. Dabei geht es um Themen wie die unvollendete Energiewende, Herausforderungen in der Bildung, die Zu- und Einwanderung, um die digitale Revolution sowie
Deutschland und Europa in der globalen Ökonomie.
Ziel der Gespräche ist es, einen Raum des Austauschs zu schaffen, der die Auseinandersetzung um das bessere Argument ebenso ermöglicht wie das Entdecken von Gemeinsamkeiten und neuen Perspektiven. Immer wieder bringen wir dafür Expert/innen aus dem grünen
Umfeld und der Wirtschaft ebenso wie aus anderen Politikfeldern und institutionellen
Hintergründen miteinander ins Gespräch.
Die Autorin
Inge Kloepfer (Jahrgang 1964) wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach dem Abitur 1983 studierte
sie in Bonn Japanologie und Sinologie. Nach zwei Jahren schrieb sie sich mit einem Stipendium des DAAD/der Studienstiftung des Deutschen Volkes an der Shifan-Universität
in Taipeh ein. Nach ihrer Rückkehr wechselte sie zum Studium der Volkswirtschaftslehre
nach München und schloss dieses 1991 mit Prädikatsexamen als Dipl.-Volkswirtin ab.
Im Januar 1992 wurde sie Mitglied der Wirtschaftsredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Von 1995 bis 2000 schrieb sie über Geldpolitik, Finanzmärkte sowie die
deutschen Großbanken. Von 2001 bis 2008 berichtete sie für die Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung (F.A.S.) als Wirtschaftskorrespondentin aus Berlin. Seither arbeitet sie
als freie Autorin für die F.A.S. und andere Medien. Darüber hinaus schreibt sie Bücher. Für
ihren Bestseller über die Verlegerin Friede Springer wurde sie mit dem Preis des «Wirtschaftsjournalisten des Jahres» ausgezeichnet. Danach folgten viel beachtete und weithin
besprochene Werke wie ein Gesprächsband mit dem Ex-VW-Manager und Arbeitsmarktreformer Peter Hartz «Macht und Ohnmacht», die Sachbücher «Aufstand der Unterschicht»
und «Glucken, Drachen, Rabenmütter», eine Biografie des weltberühmten Dirigenten Kent
Nagano «Erwarten Sie Wunder!» sowie das Opern-Buch «Die Angst, das Risiko und die
Liebe. Momente mit Mozart» mit dem israelischen Dirigenten Omer Meir Wellber.
Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft
16 / 17
Impressum
Herausgeberin: Heinrich-Böll-Stiftung
Verantwortlich: Philipp Antony (Heinrich-Böll-Stiftung),
Schumannstraße 8, 10117 Berlin
Dr. Hans-Peter Klös (Institut der deutschen Wirtschaft)
Erscheinungsort: www.boell.de
Erscheinungsdatum: April 2017
Lizenz: Creative Commons (CC BY-SA 3.0).
www.creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/.
Die vorliegende Publikation gibt die Meinung der Verfasser und nicht die
der Heinrich-Böll-Stiftung wieder.
Weitere E-Books zum Downloaden unter
www.boell.de/publikationen
Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft
17 / 17