NEUES VERFAHREN ZUR UNTERSUCHUNG VON KLEINWOHNUNGS-GRUNDRISSEN
VON ALEXANDER KLEIN, BERLIN
Trotz aller Wohnungsnot hat auch die Zeit nach dem Kriege
entscheidende Fortschritte im Kleinwohnungsbau bisher kaum
gebracht, Erst in allerjüngster Zeit setzen gründliche Unter
suchungen mit dem Ziele einer Typisierung, Normung usw, ein.
Wenn diese Arbeit erfolgreich sein soll, muß sie systematisch
geschehen. Sie scheiterte bislang namentlich an dem Fehlen
eines objektiven Maßstabes für die Beurteilung der Wohnform
und des daraus entspringenden Wohnungsgrundrisses. Denn
es geht nicht an, nur ein Wohnflächenminirnum bei höchstmög
lichem Nutzeffekt anzustreben; bei aller Wohnungsnot wollen
und dürfen wir nicht auf jede „Wohnkultur“ verzichten. Wenn
auch Krieg und Nachkriegszeit die stetige Entwicklung dieser Be
strebungen unterbrachen, so sollten wir es doch nicht vergessen,
daß jeder Wohnungsgrundriß ein zusammengesetztes und ver
wickeltes Ganzes darstellt. BedingtwirddessenFormerstcnsdurch
die Lebensgewohnheiten und zweitens durch die Forderung, alle
Lebensvorgänge der Bewohner in denkbar einfachster Weise sich
abspielen zu lassen. Daher muß alle Entwurfsarbeit zu ganz ein-
wandfrcienErgebnissen führen,bis herab zu den Fragen der Möblie
rung. Für diese ist neben der Zweckmäßigkeit besonders die Über
sichtlichkeit des optischen Raumeindruckes wichtig. Diese kann
nur erreicht werden, wenn die Möbelgruppen zueinander und
zum Raume sorgfältig abgewogen und in Form- und Farb
gebung aufeinander abgestimmt sind. Wichtig ist vor allem,
wie erwähnt, das optische Raumbild und dafür sind die Gesetze
des binokularen Sehens entscheidend. Es sei daran erinnert,
daß der Mensch beim Betrachten eines Gegenstandes unbewußt
zuerst dessen senkrechte Achse ins Auge faßt, da er infolge der
physiologischen Eigenschaften seiner Augen zentral sieht. Erst
von dieser Achse aus schweift der Blick nach beiden Seiten und
umfaßt den Umriß des Gegenstandes; der vollständige Eindruck
eines Gegenstandes entsteht optisch erst allmählich.
Sind nun verschiedene Gegenstände, z. B. Möbel gut gegen
einander abgewogen, sind sie gar symmetrisch angeordnet, d. h.
in einfachster Weise gegeneinander abgewogen, so genügt nach
dem optischen Erfassen der senkrechten Achse das Erfassen nur
einer Seite, da die andere sich als symmetrisch sofort auto
matisch im Gehirn ergänzt: das Sehen ist nicht lediglich ein
physiologischer, er ist zugleich ein zerebraler Vorgang.
Fehlt eine solche Ausgeglichenheit, so wird es dem Be
trachter schwer fallen, das Bild einheitlich zu erfassen,
der Raum wirkt unruhig, zerrissen. Selbstverständlich kann
hierauf erwidert werden, daß solche optischen Eindrücke sub
jektiv sind, daß es auch Menschen gibt, denen beständige Er
regungen an Stelle ausgeglichener Ruhe Bedürfnis und
denen die Wirkungen jeder Art von Gleichgewicht gleichgültig,
ja sogar unangenehm sind, ln diesen Fällen taucht die Frage
auf, ob das Verlangen nach ständigen optisch-sinnlichen Er
regungen nicht vielleicht eine Abweichung von der Norm dar-
stcllt, ähnlich wie manche Individuen an den ständigen Gebrauch
von narkotischen Mitteln, anregender Getränke, gewürzter
Speisen und dergleichen gewöhnt sind. Ist dieser Vergleich
berechtigt, so ist es auch die Annahme, daß zur Vermeidung
ständigen und unproduktiven Verlustes an Nervenkraft die
Wirkung von Wohnräumen eine möglichst „ruhige“ sein soll.
Die durch ruhige Räume erzielte Schonung der Nervenkraft ist
wenigstens ebenso wichtig, wie die Schonung der physischen
Kraft der Hausfrau bei der Küchenarbeit.
Für die objektive Beurteilung von Kleinwohnungs-Grund
rissen isr in W T asmuths Monatsheften Jahrgang 1927 Seite 296ff.
die vorläufige Veröffentlichung eines graphischen Verfahrens
erfolgt, die hier ergänzt wird.
Der für Anwendung des Verfahrens gewählte Grund
riß (Abb. l) soll nur als typisches Beispiel dafür gelten,
daß bei der sich verringernden Wohnfläche bisher ungewohnte
Überlegungen nötig werden. Auf Grund solcher Überlegungen
ist der Gegenvorschlag (Abb. 2) entstanden, der also keine
Kritik des ausgeführten Grundrisses darstellen soll.
Die in den Abbildungen gezeigten graphischen Darstellungen
untersuchen die wichtigsten (primären^Eigenschaften jedes Grund
risses. Raumhöhen, Farbengebung, Behandlung der Wände,
völlige Möblierung sowie künstliche Beleuchtung bleiben außer
Betracht als Dinge, die den Gesamteindruck natürlich günstig
oder ungünstig beeinflussen aber doch bei aller Wichtigkeit leicht
abgeändert werden können und daher nur sekundäre Bedeutung
für die objektive Bewertung von Wohnungen besitzen.
1. Anordnung der Verkehrswege und Verlauf der Ganglinien.
Sie kennzeichnen die Bewirtschaftungsmöglichkeit und die
Finfachheit der Wohnungsnutzung in bezug auf rein physikali
schen Kraftaufwand (Abb. 3, 4). Als zweiter Faktor tritt der
Flächenverlust an Verkehrsstreifen, welche freigehalten werden
müssen, hinzu (Abb, 5, 6).
3. Konzentration der Bewegungsflächen.
Als Bewegungsfläche gilt die Fläche, die nach Aufstellung der
unerläßlichen Möbel (wie z. B. der Betten im Schlafzimmer)
verbleibt. Von dieser Konzentration hängt in erster Linie die
Behaglichkeit und Geräumigkeit der Wohnung, sowie die Auf-
stellungsmöglichkeit weiterer Möbel (Abb. 7, 8) ab.
Als zweiter Faktor, der optische und physische Einflüsse be
dingt und sie steigert, tritt noch die Beschattung durch Brüstun
gen, Öfen und Möbelstücke hinzu (Abb. 9, Io).
j. Geometrische Ähnlichkeiten und Zusammenhang der Grundriß
elemente,
Als Grundrißelement gilt der Raumumriß in Augenhöhe, der
beim Betreten des betreffenden Raumes einheitlich aufgefaßt
wird. Von diesem Element hängt der Gesamteindruck der
Wohnung ab, der von den Bewohnern bewußt oder unbewußt
empfunden wird (s. Abb. 11, iz). Die Nervenbeanspruchung bei
Benutzung der Wohnung steigt mit der Anzahl von Eindrücken,
die von den Grundrißelementen abhängig sind, und zwar von
ihrem Umriß und ihrer Abfolge, den Niveau-Unterschieden, den
Windungen der Verkehrswege, dem Wechsel von hell und dunkel
bei Tagesbeleuchtung. Um diese Eindrücke zu ermitteln, wird
der Zusammenhang der im täglichen Leben benutzten Räume
paarweise untersucht (Abb. 11 — 26).
4. Zersplitterung der tVandfiäche und Beengung des Raumes.
Dieses wird durch an den Wänden stehende Möbelstücke, die
etwa die Hälfte der Raümhöhe übersteigen und über die
Augenhöhe hinausragen, geschehen (Abb. 27 — 33).
Als zweiter Faktor, der die optische und physische Wirkung
dieser Erscheinungen steigert, tritt noch die Schattenbildung
hinzu (Abb. 34—37).
Mit diesen Darstellungen kann man die Brauchbarkeit eines
Grundrisses bereits vor der Ausführung messen.
So deutet eine große Zahl von Windungen bei kurzen Ver
kehrswegen einen überflüssigen physischen Kräfteverbrauch an,