Abb. 1 / Dorf Wossiiz im Dorniger Werder im Mittelalter I Wiederherstellungsversuch auf Grund des Planes von 1852
DER ARCHITEKT UND DIE GESCHICHTE
VON OTTO KLOEPPEL, DANZIG
Zwei Tatsachen charakterisieren das hinter uns liegende Jahr
hundert menschlicher Entwicklung. Auf der einen Seite vollständige
Abkehr von den Grundlagen der Vergangenheit infolge ungeahnter
technischer Fortschritte, auf der anderen liebevollstes Versenken
in diese Vergangenheit durch intensivste geschichtliche Studien.
Alles, was die früheren Jahrtausende technisch geleistet haben,
erscheint uns heute als eine Spielerei gegenüber dem, was das
letzte Jahrhundert auf diesem Gebiete vor sich brachte und eben
so ist in den letzten drei Menschenaltern mehr Geschichte ge
schrieben worden, als in der ganzen vorhergehenden Zeit mensch
licher Geistesbetätigung. Und so haben wir die seltsamsten Dinge
erreicht. Wir schweben wie ein Vogel durch die Lüfte und ver
mögen abends im Lehnstuhl die Geräusche einer ganzen Welt
an unser Ohr zu zwingen. Wir kennen die religiösen An
schauungen des Neandertalmenschen ebensogut, wie die kosme
tischen Mittel, deren sich vor Tausenden von Jahren eine ägyp
tische Königin zu Erhaltung ihrer Schönheit bediente. Aber der
an und für sich sehr berechtigte Stolz auf diese Erfolge wird
doch immer wieder durch eine peinliche Frage getrübt. Ist durch
unser großes Können und Kennen diese Welt nun schöner und
sind wir dadurch klüger geworden? Denn diese Frage, so über
flüssig sie manchem erscheinen mag, hat metaphysisch genommen,
doch ihre tiefe Berechtigung. Wir fühlen in uns ein natürliches
starkes Widerstreben gegen die Annahme, daß all dieses Kennen
und Können nur Selbstzweck sein sollte. Es muß da doch einen
tieferen Sinn, ein höheres Ziel geben, dem dies alles zu dienen
hat. Der Materialist und Idealist werden in dieser Zielsetzung
sehr verschiedener Meinung sein können. Ich denke als Idealist
und so kann mein Kennen und Können nur einen Sinn, nur ein
Ziel haben, und das ist, immer klüger zu werden, um diese meine
Welt immer schöner zu gestalten. So klein ich bin, ich fühle mich
doch als Glied einer großen Kette, die sich um den Zentralpunkt alles
Daseins dreht. Das Losungswort heißt: „So schaff’ ich am sausenden
Webstuhl der Zeit und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.“
Unter diesem Gesichtswinkel erscheint also unsere Frage eben
so wichtig wie berechtigt. Hat uns das verflossene Jahrhundert
klüger gemacht und ist die Welt in seinem Verlaufe schöner ge
worden? Auf beide Teile dieser Frage kann man ehrlich nur mit
einem Nein antworten, sobald man nicht die Klugheit und Leistung
des Einzelnen, sondern die der Gesamtheit ins Auge faßt. Noch
nie hat die Entwicklung der Menschheit weniger unter dem Ein
fluß gesunder geschichtlicher Erkentnisse gestanden, noch nie hat
das öde, uferlose Schlagwort soviel vermocht als heute. Und was
der Welt Schönheit betrifft, so ist ja die von einer Zeit ge
schaffene sichtbare Kultur immer der klare Spiegel der von ihr
getragenen Gesamtkultur gewesen. Und da zeigen sich nun Gegen
sätze, wie sie schroffer nicht gedacht werden können.
Stellen Sie sich einmal vor, wir wären 100 Jahre zurückversetzt.
Sie führen mit dem Postwagen die Straße von Dirschau über
Praust-Ohra an Danzig vorbei, die Pelonkerstraße bis Zoppot,
Welch eine Fülle von schönen Bildern bereitete Ihnen damals alles,
was menschliche Hand in diese von Natur so gesegnete Land
schaft hineingesetzt. Und heute, was ist daraus geworden? Ich
glaube, es erübrigt sich hier ins Einzelne zu gehen. Jeder, der
überhaupt Empfindung für diese Dinge hat, weiß was ich meine.
Also, unser eifriges Geschichts-Studium hat uns nicht klüger
gemacht, und durch die technischen Errungenschaften ist die Welt
nicht schöner geworden. Worin mag das seinen Grund haben?
Vielleicht liegt er im Verhältnis der technischen Wissenschaften
zur geschichtlichen Wissenschaft, vielleicht fehlt es hier an einer
Wechselwirkung, die allein das erträumte Ziel sicherstellen könnte.
So lohnt es sich wohl einmal, das Verhältnis dieser beiden zu
einander zu betraditen, wobei ich mich in der Hauptsache auf mein
besonderes Arbeitsgebiet — die Architektur —- beschränken werde.
Nehmen wir hier die Geschichte zur Hilfe, so zeigt uns diese,
daß früher der Architekt der Techniker kat’ exochen gewesen,
in dessen Hand tatsächlich alle technischen Aufgaben lagen. Ein
Zustand, der auch noch das 17. und 18. Jahrhundert umfaßte,
man braucht nur an den Begriff der Architektura Universalis
zu denken, wie er sich bei den Theoretikern jener Zeit entwickelt
findet. Hiermit in vollem Einklang steht, daß früher jedes technische
Erzeugnis zugleich eine Gestaltung war, d. h. als plastisch körper
liches Gebilde die denkbar schönste Form erhielt, die sich sein
Schöpfer vorstellen konnte. Die ausgesprochene Arbeitsteilung
ist erst ein Kind des 19. Jahrhunderts, als Umfang und Inhalt
der einzelnen technischen Disziplinen zu groß wurden, um noch
von einer Persönlichkeit umfaßt werden zu können. Zunächst
spaltete sich so der Maschinenbau von der Architektura
Universalis ab, dann folgte wesentlich spater der Ingenieurbau,
so daß für den Architekten nur noch das blieb, was wir heute
unter Hochbau verstehen, wobei aber dessen technisch schwieriger
statischer Teil auch in der Hand des Bauingenieurs Hegt. Zu
nächst blieb eine gewisse Erinnerung an die ursprüngliche Ein
heit der drei technischen Disziplinen gewahrt und dies beruhte
auf einem Rest jener eben erwähnten alten Vorstellung, daß jedes
technische Erzeugnis auch eine Gestaltung zu sein habe. So holte
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Städtebau 1927, Heft 1
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