DER STÄDTEBAU
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Versäumtes unendlich schwerer nachzuholen wie je zuvor.
Das reichsstatistische Amt stellt fest, daß gegen 1913 der
Durchschnitt der Lebenshaltung auf den 14 fachen Betrag
zu berechnen sei. Die Lohnerhöhungen aber betragen das
7~8fache, in seltenen Fällen das 9—lOfache des Friedens
lohnes. Das wachsende Heer der Arbeitslosen bleibt nach
wie vor noch weit unter diesen Sätzen. Die Lebenshaltung
der arbeitenden Massen ist also um ca. 50% niedriger zu
veranschlagen. Das gilt nicht nur für Deutschland. Von
Amerika wird beispielsweise berichtet, daß, ein Jahresein
kommen von 3000 Dollar als untere Grenze leidlich erträg
licher Lebenshaltung vorausgesetzt, 96% aller Einwohner
der Vereinigten Staaten unter diesem Niveau leben.
Was Deutschland betrifft, so berichtet Graf Keßler in
der „Deutschen Nation“, daß nach Feststellungen des Direk
tors des Statistischen Amts in Berlin-Schöneberg noch nicht
10% der Groß-Berliner Familien über das Existenzminimum
verfügen. Man bedenke wenige Minuten nur diese Zahlen,
die nichts umschreiben wie eine ungeheure Masse von Elend,
vor allem, da die Nahrungsmittel und Kleidung Vorgehen,
im Wohnungswesen.
Es erscheint notwendig, hier einige Daten zu geben, die
jene Verhältnisse weit über ein irgendwie erwartetes Maß
hinaus beleuchten werden. Was z. B. Wien betrifft, so hat
sich die Sterblichkeit unter den Jugendlichen in erschrecken
der Weise erhöht, um volle 60%. Die Gesamtzahl der
Schulkinder Wiens ist in den Jahren 1910—1919 von 242000
auf 195000 gesunken. Daran hat die Tuberkulose den Haupt
anteil, die von 18,7% im Jahre 1910 auf 41,3% im Jahre
1919 gestiegen ist. Sie wetteifert an Ausdehnung mit der
zwar selten tötlichen, aber dafür mit ewiger Gebrechlich
keit schlagenden Rachitis, die unter den Wiener Kindern
im Ausmaß von 89% verbreitet ist.
Eine Meldung aus München vom 15. Januar bringt die
Feststellungen eines Kongresses von Ärzten, Juristen und
Pädagogen über Kinderelend. Unter anderm berichtet ein Stadt-
arztüber die Wohnungsnot. Bei den von derUntersuchung er
faßten Einzimmerwohnungen kamen auf das Zimmer durch
schnittlich 4—5 Personen (im Jahre 1907 galt eine Zahl von 1,8
Personen schon als Überfüllung). Der vierte Teil der Woh
nungen entsprach nicht entfernt den minimalsten hygienischen
Anforderungen. Allein in 900 Haushaltungen wurden 165
Tuberkulose angetroffen.
In der kleinen Vorortgemeinde Berlin-Treptow wurden
kürzlich 156 Kleinwohnungen als überfüllt ermittelt. Der
Brief eines Berliner Arbeiters berichtet, daß er mit seiner
Frau und 11 Kindern, also 13 Personen, in Stube und Küche
zu hausen genötigt sei.
In einem Bericht der Berliner allgemeinen Ortskranken
kasse, die seit vielen Jahren durch die Krahkenbesucher
Einblicke in Kleinwohnungsverhältnisse hat, wird fest
gestellt: „Nicht wenige der Einzimmerwohnungen beher
bergen vielköpfige Familien mit 7, 8, 9 und 10 Personen.
Sieben Personen haben 3 Betten zur Verfügung, in anderen
Fällen sind für 10 Personen 5 bzw. 4 Betten verfügbar
(hier konnte das fünfte Bett wegen Raummangel nicht auf
gestellt werden). In den Zweizimmerwohnungen geht die
Belegung bis zu 14 Personen.“ Der Bericht einer bürger
lichen Berliner Zeitung schließt den Abdruck der Fest
stellungen der Ortskrankenkasse mit den Worten:
„Wir sollten diese Blätter lesen und immer wieder
lesen und endlich im innersten Herzen begreifen, daß
Menschen unter uns leben, die nicht sagen können, daß
sie „leben“, die mühsam einherpendeln zwischen Leben
und Sterben.“
*
Für den Architekten von morgen ist hier eine Aufgabe
gegeben von unermeßlicher Tragweite. Mehr wie das.
Die Verantwortung für Wesentlichstes, aus dem Zukunft
erwächst, ist ihm auferlegt. Sollen wir warten, bis die
steigende Kurve der Weltwirtschaft den überzählig vor
handenen Industrieraum wieder füllt und Neubauten fordert?
Bis Museen, Theater, Rathäuser u. dgl. Einzelobjekte viel
leicht wieder möglich sein werden? Sollen wir weiter
an dem, was mehr als Aufgabe ist, was Mission zu
nennen vielleicht richtig wäre, vorüberstarren
nach Aufgaben einer Zukunft, die in sehr fernen
Zeiten vielleicht die unerbittlich harte soziale
Bindung der Baukunst von heute nicht mehr
kennt?
Zwar geben Reichs-, Staats- und Gemeindebehörden
dauernd ungeheure Zuschüsse, die das Bauen überhaupt
erst gestatten. Diese Kapitalien sind fast ausnahmslos als
verloren anzusehen. Könnten aber die gleichen Behörden
nicht wenigstens in Erkenntnis ihrer überaus ernsten Ver
antwortung an diese Zuschüsse Bedingungen knüpfen, die
auf eine Fortentwicklung und endliche Lösung dieser
sozialen und formal in gleicher Weise bedeutenden Aufgaben
zwingend hinführen? Und wäre es nicht Pflicht der Archi
tekten, da die Behörden als unschöpferischer Organismus
so oft notwendigerweise versagen müssen, sich ihrerseits
einer Aufgabe anzunehmen, die so überaus schwer und
zugleich im Endziel so schön ist wie nur irgend denkbar?
In den Gleichnissen des Dschuang-Dsi heißt es: „Man
kann vom Meere nicht zu einem Brunnenfrosch sprechen.
Er ist das Geschöpf eines begrenzten Kreises. Man kann
vom Eise nicht zu einem Schmetterling sprechen; er ist
das Geschöpf einer begrenzten Zeit. Man kann vom
Leben nicht zu einem Fachmann sprechen; er ist das
Geschöpf einer begrenzten Erkenntnis.“
Wäre eben dieses nicht endlich möglich für diesen
und jenen: Mehr zu sein wie ein Fachmann? Sollen wir
weiter Museen, Meßpaläste, Wolkenkratzer projektieren,
die auszuführen Unfug, fast Verbrechen wäre, gemessen
an der zwingenden Not der Zeit? Muß weiter auch in der
Baukunst, in jenen bombastischen Phrasen fortgelärmt
werden zur Selbstbetäubung gegenüber der wachsenden
Größe eines Schicksales, dem kaum einer . . . trotzdem . . .
gewachsen scheint?
Es ist mehr wie die Zukunft Deutschlands, Europas,
der Welt, die hier an einem entscheidenden Punkt berührt
wird. Es ist die Zukunft, das Schicksal des
Menschen, um die es geht, des Menschen, durch
den Nationen und Kontinente, durch den Staat und
Macht doch erst bedingt werden.
Dem Menschen von morgen das Haus zu richten, den
zukünftigen Raum gestaltend ihm zu formen, neue Quellen
für eine neue und große Freude am Leben in schöpferischer
Arbeit zu erschließen, das ist die schwere, gute und schöne
Aufgabe des Architekten von heute.
H, de Fries