DER STÄDTEBAU
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zu begeifern. Wie sie das kollegiale Zusammenwirken von
Deutschen und Franzosen im Jahre 1911 mit Haß und Eifer
sucht in den Schmutz gezogen hat, wie sie auch heute noch
die art boche — worunter hauptsächlich die deutsche Archi
tektur zu verstehen ist — in der widerwärtigsten Weise be
schimpft, so ist von ihr kaum so viel Vernunft zu erwarten,
daß sie einem solchen Plane ihre Unterstützung leihen würde.
Vielleicht aber erweist sich der Kreis der französischen
Architekten, den ich mit einigen Namen charakterisierte,
schon als so stark, daß er ohne und sogar gegen die Presse
einen Plan durchsetzt, der im höchsten und in einem be
deutungsvollen Sinne der europäischen Kulturgemeinschaft
dienlich sein würde.
Kraft und Einfluß besitzt dieser Architektenzirkel.
Unter zustimmender Mitwirkung von Parlamentariern
leiten diese Künstler im Verein mit Kunstpädagogen
eine Umbildung der künstlerischen Erziehungsmethoden
ein. Alle Zweige des Kunstunterrichts sollen von Grund
auf reformiert werden. Von diesen Reformen ist schon
oftmals gesprochen worden; aber dieses Mal scheint
die Bewegung umfassender, allgemeiner und kraftvoller
als früher zu sein; und es ist kaum anzunehmen,
daß die alten „Pompiers“ noch einmal triumphieren
werden. Siegen aber die Jungen, so wird auch das
gesamte Städtebauwesen in Frankreich eine Umwandlung
erfahren.
DAS AMERIKANISCHE PROJEKT FÜR REIMS.
Die beiden letzten Tafeln dieses Heftes stellen die bitter
umkämpfte Stadt Reims dar, einmal die Zerstörung des
Stadtkerns durch die Beschießung, ohne deren Darstellung
sich keine auch nur entfernt zureichende Unterlage für den
zweiten Plan gewinnen ließe: das Projekt des amerikanischen
Architekten Ford für den Wiederaufbau von Reims. Wer
das erste Blatt eindringlich betrachtet und den ineinander
gewachsenen Organismus dieser alten Stadt durchfühlt hat,
wird keine Möglichkeit haben, dem zweiten Blatt An
erkennung zuteil werden zu lassen. Da ist einmal ein Stadt
körper, der im Lauf der Jahrhunderte sich im wesentlichen
ringförmig vom Herzen aus nach außen erweitert hat und,
mit den repräsentativen Bauten kirchlicher und weltlicher
Macht im Zentrum, den überzeugenden Eindruck eines nach
inneren Notwendigkeiten Gestalteten ausübt.
Nun hat der amerikanische Architekt über diesen teil
weise zerstörten, dennoch in seiner Wesensform höchst
lebendigen Organismus das Netz eines sehr kaltherzigen und
nüchternen Systems gelegt. Das Stadtzentrum ist über
mäßig monumental betont, so hat man südlich der Place
Royal den Häuserblock fortgeschafft, der bisher den Platz
und seinen repräsentativen Bauten, Charakter gab, der in
seinem südwestlichen Teile aber den Dimensionen der
Kathedrale Maß und Beziehung zutrug, durch die erst sie zu
jenem tiefen Eindruck aufwachsen konnte, der heute an das
rührt, was — übernational — das Gewissen der Welt ge
nannt werden könnte.
*
Diese Freilegung gotischer Kirchen, in Deutschland seit
Jahren als Unfug erkannt, feiert in dem Fordschen Projekt
eine unerwartete Auferstehung. Über den alten Stadtplan
ist dann ein nüchternes System von Vertikal- und Horizon
talstraßen gelegt, das, mit ein wenig mehr Liebe, schließlich
mit dem Plan des alten Reims hätte zusammengebracht
werden können. Dann aber kommen die Diagonalstraßen,
die wohl den bösesten Teil dieser Art von Stadtplanung be
deuten.
Da ist südlich des verschwundenen Zentralblocks ein
Stcrnplatz projektiert, mit zwei neuen Monumentalbauten,
einer Bibliothek und einer Musikakademie. Wohntechnisch
äußerst unglückliche Blockrestc zwischen teils vorhandenen,
teils projektierten Straßen bleiben übrig. So geht’s fast über
all auf dieser Planung zu, an die miserablen spitzwinkligen
Blöcke und die Wirkung der sich hieraus notwendig ergeben
den Grundrißbildung auf die Wohnungen und die Bewohner
scheint niemand gedacht zu haben. (So was kommt übrigens
nicht nur in Amerika vor, Deutschland selbst hat hinreichend
schöne Beispiele für monumentale Stemplätze, für die dar
aus folgende, mehr wie mangelhafte Block- und Wohnungs
gestaltung.) Am Ostrande der Planung betrachte man sich
z. B. die Neugestaltung der Esplanade Ceres. Früher hatte
dieser Platz schon reichlich viel Öffnungen, im neuen Pro
jekt sind die noch gebliebenen geschlossenen Platzkonturen
ganz aufgelöst, eben wieder durch jene ebenso beliebten wie
unglücklichen Diagonalstraßen, die die Platzgestaltung mehr
in Trümmer schlagen, wie die Beschießung es vermocht
hätte. Weiter südlich die Überschneidung des Boulevard de
la Paix durch ein ganz tolles Ding von Diagonalstraße, ein
Beispiel für vieles Gleichartige in jener Planung, das der
Leser auch ohne besonderen Hinweis sicher selbst finden
wird.
Der Plan von Ford ist von den Franzosen nunmehr,
nicht mit Unrecht, abgelehnt worden, und der Verfasser ist,
Zeitungsmeldungen zufolge, in seine Heimat zurückgekehrt.
Ganz abgesehen von dem speziellen Fall sind es wohl zwei
Hauptfehler dieser wie auch vieler deutscher Stadtplanungen.
Erstens das festgelegte, rein artistische Schema, nach dem
gearbeitet wird. Unterwertung alles organisch Ge
wachsenen, Folge des Zeitalters der Maschine und des Typs.
Sodann und vielleicht ausschlaggebend die planimetrische
Auffassung der ganzen Aufgabe. Städtebauplanungen sind
keine Angelegenheit von Papier und Linien, und unsere Leser
werden sich aus dem Jahrgang 1920 gewiß der vollständig
modellplastisch durchgearbeiteten Teile von Helsingfors
erinnern, wie an Flugzeugbilder u.a.m. In diesem Jahrgang,
und zwar bereits in den ersten Heften wie auch später wird ge
zeigt werden, wie im „Städtebau“ stereometrische Grund
lagen für jede Planung mehr und mehr Geltung gewinnen.
Diese stereometrische, raumschöpferische Anschauung
städtebaulicher Planungen scheint mir die Bedeutung jener
entscheidenden Wende zu haben, die die letzte Vergangen
heit mit ihren geometrisch-ornamentalen Begriffen von der
Zukunft scheidet, die Körper modelliert, Räume schafft, und
der die entscheidende dritte Dimension der Tiefe, die von
der Oberfläche fortführt, mehr zu bedeuten beginnt, wie ein
fachmännisches Problem, nämlich eine innere seelische Not
wendigkeit.
H. de Fries.