DER STÄDTEBAU
DER NEUE FRIEDHOF IN BERLIN-SCHÖNEBERG.
Von Architekt LEBERECHT MIGGE, Worpswede. Hierzu die Tafeln 35—39.
Abb. 22.
I.
Der Friedhof steht seit langem im Zeichen durchgreifen
der Wandlungen. Von der Parteien Haß und Gunst ent
stellt, schwankte seine Form; unsicher durchlief er alle
Arten der Garten- und Parkgestaltung, ähnlich wie es auch
unserer Stadtgestaltung erging.
Er ist vielleicht das unglücklichste Kind unserer Zivili
sation; denn er entbehrt der wichtigsten Grundlagen einer
Kultstätte, eben des festen kultlichen Hintergrundes. Die
Bestattung unserer Toten vollzieht sich nicht
rituell auf dem Boden einer festen religiös
gebundenen Anschauung der Zusammenhänge
von Leben und Tod oder einer erkenntnismäßig-
naturwissenschaftlichen basierten Lebensan
schauung. So bleibt der Bestattungsakt
abgesehen von dem erschütternden persönlichen
Moment, das keine Idee beiseite schieben
kann — inhaltsleer. Kein Wunder, daß auch
die Form der Totenstätten unsicher wurde.
Über die Grundfrage Feuer- oder Erdbestattung
hinaus gab es keine Einigung. Und als mit
der formauflösenden Tendenz jener geistigen
Strömungen um 1800, die wir als „Romantik“
zu bezeichnen uns gewöhnt haben, die Form
unserer Städte im Auftriebe einer materieller
und äußerlicher werdenden Zeit unsicher und
schwankend wurde, da verlor auch die Ge
staltung der Friedhöfe ihren letzten Halt.
Raumbildungen von architektonisch stretlger
Tendenz wichen immer mehr zugunsten von
individualistisch-aufgelöst gestalteten „Park
friedhöfen“. In der Hervordrängung des Einzel
grabes und seiner Ausschmückung ging alle
Würde der Gesamtanlage unter, die auch im
Gräberfeld eine einheitliche Formidee immer mehr verlor.
Auch Schöneberg hat, wie fast alle Städte, einen älteren
Friedhof an der Eythstraße, der ganz individualistisch
romantisch angelegt ist. In „interessanter“ Mischung sind
die verschiedenen Grabarten unmittelbar nebeneinander und
durcheinander vorhanden. Das Vegetationsbild ist ohne Rhyth
mus und Ordnung, Wege und Straßen geben keine orientierend -
gliedernde Teilung der Gesamtanlage. Alles in allem erschien
es nicht verantwortlich, diesen Weg bei der Vergrößerung
der Anlage weiterzugehen, um so mehr, als das
Erweiterungsgebiet nach seiner Größenab
messung durchaus die Möglichkeit, ja Notwen
digkeit ergab, ;Von ihr aus beim zweiten Be
legungsumlauf die Gesamtanlage durchgreifend
zu reorganisieren (vgl. Plan der Vollbelegung).
Was Schönebergs alter Friedhof im kleinen
erweist, ist nichts anderes als das, was sich
aus Großfriedhöfen, wie dem Ohlsdorfer,
gleichermaßen ablesen läßt; daß die Ge
staltungsmittel der romantisch-individualis
tischen Anlage, so unermeßlich ihre aus der
Natur unmittelbar abgeleiteten Wirkungen
theoretisch scheinen, in Wirklichkeit nicht ge
eignet sind, auch nur kleine Bildungen räumlich
eindrucksvoll zu gestalten. Es verliert sich
jede Orientierung und jede Raum- und Größen
vorstellung, weil diese grundlegenden Faktoren
alles räumlichen Gestaltens an gewisse, dem
menschlichen Gefühl faßbare Einheiten oder
ihre organische Zusammenfügung gebunden
sind. Alles geht in einem gestaltlosen Inein
anderwogen auf. Das Einzelgrab, in diesem
Zusammenhänge auf sich allein gestellt, ver-
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Abb. 23.