1
JAHRG. XVII
1920
HEFT 1/2
PER STÄPTEBAU
MONATSHEFTE FÜR STÄDTEBAU UND SIEDLUNGSWESEN
HERAUSGEBER H. DE FRIES, BERLIN
GEGRÜNDET VON THEODOR GOECKE UND CAMILLO SITTE VERLAG VON ERNST WASMUTH A.-G., BERLIN W8
INHALTSVERZEICHNIS: Einführung. — Wolkenkratzer auf Manhattan-Island. Dazu die Tafel i. — Denkschrift betreffend eine Ergänzung des
Gesetzentwurfes zur Bildung eines Stadtkreises Groß-Berlin. — Die Umgestaltung des St. Jakobsplatzes und des Angerviertels in München nach den
Entwürfen von Prof, Dr.-Ing. Grässel, München. Von Dr.-Ing. Albert Gut, München. Dazu die Tafeln a—5. — Anzuchtsfelder und Studiengärten als
Glieder unserer Grünanlagen. Von Harry Maaß, Lübeck. Dazu die Tafeln 6—9. — Junge Baukunst. Von H. de Fries, Berlin. Dazu die Tafeln
g ia, Bücherbesprechung. Chronik.
Nachdruck der Aufsätze ohne ausdrückliche Zustimmung der Schriftleitung verboten.
EINFÜHRUNG.
Diese Zeitschrift hat kein Programm, wenn nicht das
Wort „Baukunst“ ein solches bedeutet.
•
Die Zielrichtung einer periodisch erscheinenden Druck
schrift weist naturnotwendig von Vergangenem in Zukünf
tiges. Vergangenheit bleibt sich Bewegendem stets weiter
zurück, Zukunft wird stets näher deutlich. Nur sie wird
leidenschaftlich erstrebt, in ihr allein liegen Möglichkeiten
der Erfüllung jener Ideen und Ideale, an denen die Ver
gangenheit baute, ohne sie vollenden zu können.
Es ist das gute und schwere Schicksal unserer Zeit,
daß sie eine der schwersten Kulturkrisen durchleben muß,
die Deutschland, Europa, die Welt je gekannt haben. Ver
schweigen wir uns nicht, daß Kriege, Revolution, daß Haß
und Hunger nur äußerliche Symptome sind, Geburtswehen
einer neuen Zeit, der ein anderes Weltbild, andere An
schauung von Menschendasein und Menschenwert vor
schwebt. Einer Zeit, die unter fieberhaften Zuckungen
leidenschaftlich sich bemüht, jenseits hohlgewordener Formen
das Herz der Menschen und der Dinge wiederzufinden.
Was die Baukunst betrifft, so mußte sie naturgemäß
das Schicksal einerKulturteilen, der die Frontwandanschauung
letztes Gesetz geworden war. Im betont Repräsentativen,
äußerlich Schematischen, übertrieben Dekorativen, phrasen
haft Betonten endete Vergangenheit. Die Künstler legten — und
legen — weit mehr Wert auf Standesfragen, auf die Organi
sation von Interessenten-Gruppen, auf Verbände und Ver
tretungen, auf Kunstphrasen und Reklamelärm als auf die
Kunst selbst, der zu dienen sie vorgeben. Sekundäres war
auch hier herrschend geworden, die Mittel, wie in Politik
und Armee, zum Selbstzweck. Es ist äußerst gleichgültig,
welche Menschen das Recht haben, sich „Architekt“ zu
nennen, welche Leute die Ehre haben, den Vorsitz der
Interessenten-Verbände zu zieren. Aber es ist ganz und gar
nicht gleichgültig, was — neben und zwischen diesem Lärm —
mit der Baukunst geschieht.
Im Grunde hängt beides, Menschen und Art ihrer Kunst
äußerung, innigst und untrennbar zusammen. Daß die
Vereinler der Reaktion wie die Verbändler des Radikalismus
ihre Aushängeschilder, ihre Programme, ihre Absichten so
lebhaft loben und propagieren, daß sie weit mehr Wert auf
Literatur, Reden, Programme, Sitzungen, Vereinswesen legen,
als auf den Bau selbst, ist natürliche Begleiterscheinung
einer Kultur der Frontwand-Anschauung. Ein Mensch,
dessen Wesen eingestellt ist auf Persönlichkeits-Wirkung,
Repräsentation, Machtbetonung, also auf Oberflächen-
Wirkung, ist unfähig, in der dritten Dimension der inner
lichen und äußerlichen Tiefe wesentliches zu leisten. Er
ist vielleicht ein guter Vorsitzender, Direktor, Literat,
Programmatiker.
Er ist niemals Baukünstler!
Beweis geben die Häuser, Straßen, Plätze, Städte letzter
Jahrzehnte. Unerhörtes an Verschandelung Europas ist ge
schehen, Die Seuche jener Kultur der Frontwand-Anschauung
ist am eigentlichen Objekt der Baukunst, dem Bau, am
schärfsten in Erscheinung getreten. In unseren Städten
drängen sich Fassaden an Fassaden, jede bemüht, die Nach
barn herabzusetzen, zu erdrücken, jede bemüht, „Fassade“
zu sein, ohne Rücksicht auf Zusammenklang im Raum.
Einzig betont nur das Bestreben, mit der Phrase des Stucks
möglichst laut sich bemerkbar zu machen. Hinter diesen
Fassaden — nichts von Belang, Kein einziger neuer Ge
danke im Haus-Organismus, in der Raumform, in der
Durchbildung des erweiterten Gewandes des Menschen, der
Wohnung. Hinter der schreienden Front Stille in der dritten
Dimension, Leere, Unfähigkeit. Hinter den so wechsel-
reichen wie häßlichen Dekorationswänden der Baublöcke
Kleinwohnungen zum Erbarmen, die bis zur Stunde noch
nicht einmal den dringendsten kulturellen Erfordernissen