DER STÄDTEBAU
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DIE OBERNEUSTADT IN CASSEL.
Von Dipl.-Ing. R. WEISS, Dresden. Hierzu die Tafeln 24 und 25.
Die seit den letzten zwei Jahrzehnten gepflogene städte
bauliche Schulung der Architekten hat es mit sich gebracht,
daß ein Zug zu größerer Schlichtheit und Einheitlichkeit,
besonders auch beim Bau ganzer Häuserblöcke immer
mehr hervortritt. Zugleich entstand diese Bewegung als
Rückwirkung gegen den Stilwirrwarr, dem wir in den
meisten Straßen aus den vergangenen Bauperioden be
gegnen, und damit ist sie mehr als eine Modeerscheinung,
ist sie ein Gesundungsvorgang, den es gilt zu fördern und
zu vertiefen.
Werfen wir einmal einen Blick aus der heutigen
Zeit des Konkurrenzkampfes, da ein jeder seinen Nach
bar überschreien möchte, zurück in die stille alte Zeit
vor etwa 200 Jahren, da die Freiheit des einzelnen von den
Landesfürsten noch arg beschnitten war. Da finden wir
denn so manches Beispiel, bei dem mit bewußt künst
lerischem Ziel auf eine einheitliche Ausgestaltung nicht nur
von Blockfronten, sondern
auch von ganzen Stadtteilen
hingewirkt wurde. Der Wille
eines Fürsten, der unbe
schränkte Macht besitzt,
spricht aus solchen Schöp
fungen wie Karlsruhe, Mann
heim, Rue Rivoli, Place
Vendome in Paris, Place de la
Carriere u. a. in Nancy usw.
Das Erbe dieser rührigen
Fürsten ist leider von den
Kommunen in keiner Weise
gewahrt worden. Heute muß
es schon meist das Motiv
der Not sein, das zur
schnellen einheitlichen Er
bauung von Stadtvierteln
führt, sei es der Neuaufbau
verseuchter Gegenden wie in Stuttgart, sei es die Wiederher
stellung eingeäscherter Ortschaften wie in Ostpreußen, oder
sei es auch der Bau von Flüchtlingsstädten, der sich not
wendig macht, wie es früher schon bei den Religions
verfolgungen um 1700 der Fall war.
Die Oberneustadt in Cassel verdankt beiden Momenten,
Not und Herrscherwillen, ihre Entstehung. „Wie die
Casseler Oberneustadt aussieht, so sind alle Hugenotten
städte gebaut“, sagt C. Gurlitt; darum lohnt es sich wohl,
sie als Beispiel einheitlicher Bauweise etwas näher zu be
trachten.
Die fortgesetzten Unterdrückungen und zunehmende
Verfolgung der Reformierten in Frankreich unter Ludwig XIV.
führten dazu, daß eine Menge derer, die ihrem Glauben
nicht untreu werden wollten, außer Landes flüchteten, nach
Holland, England, Brandenburg und auch nach Hessen-
Cassel. Diese Länder waren bereit, die Flüchtlinge gast
lich aufzunehmen. Hessen war besonders besucht. Ein
mal kam der Strom derjenigen durch, die nach Brandenburg
wollte^, dann aber war es gerade der Landgraf Karl von
Hesseü, der die Flüchtigen ebenso herzlich wie dringend
einlud, sich in seinem Lande niederzulassen. Er hatte dazu
nicht nur als Reformierter religiöse Gründe, sondern auch
solche höchst praktischer Art.
Am 18. April 1685 tat er den ersten Schritt und erließ
seine „Freiheits-Konzession und Begnadigung für fremde
Manufakturisten“. Diese müssen sich den Landesgesetzen
unterwerfen. Für ihren Gottesdienst dürfen sie sich eigene
Kirchen bauen. Auf zehn Jahre sollen sie von allen Lasten
und Steuern, auch von Einquartierung und Wachen befreit
bleiben. Nur das gewöhnliche sogenannte „Geschoß“ ist
an die Stadt zu entrichten. Schließlich wird für die Haus
geräte usw. Zollfreiheit gewährt.
Auf diesen Aufruf hin kam eine ziemliche Anzahl
französischer Familien; aber der Landgraf war nur halb
befriedigt. Er hatte auf seinen Reisen, vor allen Dingen
in Holland, eine Reihe blühender, gewerbfleißiger Städte
kennen gelernt und hatte den Ehrgeiz, auch Cassel zu
ähnlicher Blüte zu bringen.
Die zentrale Lage seiner
Residenz schien ihm für
eine Handels- und Manu
fakturstadt sehr geeignet.
Er machte einen zweiten
Versuch, Manufakturisten
heranzuziehen, als im De
zember 1685 die Aufhebung
des Edikts von Nantes be
kannt wurde und weitere
Auswanderungen erfolgten.
Der Aufruf an die Flücht
linge wurde erneuert und
eine rosige Schilderung der
Stadt beigegeben. Unter
anderem heißt es darin:
Cassel, die Haupt- und Re
sidenzstadt sei groß, fest und
gut gebaut, sie habe schöne Straßen, bequeme Häuser,
einen guten Marktplatz und in allen Straßen Brunnen mit
fließendem Wasser. Aber die größte Zahl gewerbfleißiger
Franzosen zog lieber in das benachbarte und gut be
kannte Holland und England, als nach Hessen, von dem
sie wohl noch nie etwas gehört hatten. Eine persönliche
Einladung durch einen Gesandten an die Waldenser, die
sich aus der Dauphinee und aus Piemont nach der
Schweiz geflüchtet hatten, brachte eine große Zahl Land
leute nach Hessen, die wohl zur Urbarmachung mageren
Bodens geeignet waren, aber zur Hebung des Gewerb-
fleißes wenig beitragen konnten.
Nichtsdestoweniger gab Landgraf Karl seinen Lieblings
plan nicht auf, Cassel zu einer Fabrikstadt zu machen, ein
Ehrgeiz, wie ihn leider heute auch die meisten Kommunen
hegen, der jedoch bei den damaligen Verhältnissen des
Gewerbes durchaus nichts Ungesundes an sich hatte. Es
schwebten ihm immer die Bilder der gewerbfleißigen Städte
vor Augen, die er in Holland kennen gelernt hatte, und weil
er solche nur auf flachem Boden gesehen hatte, so dachte
er nicht anders, als ein solches Viertel auch bei Cassel
Abb. 5. Cassel, Obere Karlstraße mit Rathaus.