DER STÄDTEBAU
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EINGEBAUTE ODER FREIGELEGTE KIRCHEN?
Geschichtliche und künstlerische Probleme.
Von Dr. FRITZ HOEBER, Frankfurt (Main).
2. Die künstlerische Wirkung mittelalterlicher
Kirchen im Stadtbild.
Der Wandel der verschiedenen Stile hat ebensoviele
verschiedene Wirkungsarten des architektonischen Kunst
werks gezeitigt. 1 ) Die drei stereometrischen Faktoren der
Fläche, des Körpers und des Raumes, letzterer eine Ver
einigung der wesentlich optischen Flächenwirkung mit den
taktisch körperhaften Massen, erscheinen, sich nacheinander
ablösend, in Führerstellung in der Kunstgeschichte. In
Führerstellung wohlgemerkt, denn Architektur wird immer
Raumkunst bleiben und auch bei Flächen- oder Körper
architekturen wird das Räumliche mitempfunden werden
müssen. Nur tritt es dann gegenüber jenen anderen Fak
toren als nur untergeordnet zurück.
Der frühchristliche und der romanische Stil baut seine
Architekturen noch wesentlich flächenhaft auf, sowohl in
dem er die Wände als solche in reliefmäßig glatter, einheit
licher Oberfläche eines Gebäudes beläßt, ohne sie in zu
starken Vertiefungen oder Vorsprüngen körperhaft zu be
wegen, als auch indem er die verschiedenen Ansichten für
den Betrachtenden scharf voneinander trennt: Auf diese
Weise gibt es nur streng frontale Fassaden
bilder, aber keine Übereckansichten,
Je mehr nun die romanische Flächenkunst sich durch den
Übergangsstil zur Gotik hin entwickelt, desto mehr gelangt
der Grundgedanke des Körperhaften zu reicher Ent
faltung. Das Relief der Raumwände nimmt in mannigfacher
Weise zu durch immer stärker werdende Gliederungen: die
Portale tiefen sich stufenförmig ein, den Mauern werden
Strebepfeiler, Halbsäulen, Lisenen usw. vorgelegt, im Grund
riß gebrochene Chöre und Erker treten aus der Wandfläche
hervor. Die schlichte Planprojektion wird zugunsten der
mehr verwickelten, lebendig kraftvolleren Übereckansicht
für die künstlerische Betrachtung aufgegeben.
Es ist das für die Gotik Eigentümliche, daß sie vor
zugsweise Eckansichten zeigt. Auch die Kathe
drale will möglichst schräg gesehen werden, der Chor nicht
nur als ein in seiner polygonalen Form besonders reizvoller
Teil, sonderp auch die Fassade, um die Türme in ihren
plastischen Massen, die Portalgeschosse in dem Licht- und
Schattengegensatz ihrer tief ausgebuchteten Laibungen, der
reichen Galerien und großartigen Maßwerkrosen stark zu
unterscheiden. ~~ Die mannigfaltig gekrümmten Gäßchen
des gotischen Stadtgrundrisses unterstützen noch diese
architektonischen Schrägwirkungen und die daraus folgende,
gesteigerte Körperlichkeit.
Die Renaissance endlich und die sich ihr formal an
schließenden Stile des 17. und 18. Jahrhunderts vereinen das
körperhafte Empfinden der Gotik mit dem klaren Flächen-
*) Ich verweise hier dankbar auf das vorzügliche Werk von Re-
glerungsbaumelster Hermann'Sörgel; Einführung in die Architektur-
Ästhetik. Prolegomena zu einer Theorie der Baukunst. München 19x8,
VZ. Kap. 8. [48 f.; Wesen der Architektur als raummäfilge Kunst.
bewußtsem der frühmittelalterlichen Baukunst zu einem
neuen räumlichen Ausdruck. Die kubisch fest begrenzten
und gegliederten Massen werden in ein bewußtes System
von Vertikal- und Tiefenachsen, von stark horizontal wir
kenden Verbindungen eingestellt, das auch dem Betrachter
an jedem Punkt des stadtbaulichen Ganzen seinen bestimmten
Platz anweist. Es ist die starke und unlösbare Verknüpfung
aller Einzelglieder mit dem Ganzen, der geometrisch-musi
kalische Organismus, dessen erster Verkünder Leon ßattista
Alberti war. 1 ) — Sobald freilich das Gefühl für diese auch
wesentlich räumliche Einheit nachläßt, wird die groß
gedachte Form zum leeren Formalismus: Diesen Weg ist,
wie oben bereits angedeutet, der Stadtbau des 19. Jahr
hunderts leider gegangen, indem er die plastisch gebundene
Symmetrie der monumentalen Renaissance- und Barock
bauten, z, B. auch der Kirchen, zu einer völlig haltlosen
Isolierung verflüchtete und damit jeden organischen
Zusammenhang von körperhaftem Architekturwerk und um
gebendem Luftraum auflöste. * 2 )
Der ästhetische Grundgedanke des neueren Stadtbaus
besteht in der Schaffung geschlossener Architekturbilder. 3 )
In der Gotik herrscht ein noch unbewußtes Gefühl dafür, das
erst in der Renaissance, mehr noch im Barock zu vollem Be
wußtsein, vor allem aber zu mannigfaltig sich betätigendem
Ausdruck gelangt.
Daß schließlich auch unsere Zeit für solche Bildhaftig
keit im Stadtbau wieder Organe gewonnen hat, verdanken
wir den erfolgreichen Arbeiten von Camillo Sitte, Karl
Hocheder (nicht zum geringsten auch wohl unserer Zeit
schrift. D. S.), A. E. Brinckmann 4 ) u. a.: Der Platz, der Archi-
tffkturraum im allgemeinen wird als ein künstlerisches
Ganzes auf gef aßt, in welchem zwischen dem Nahen und dem
Abgerückten, den Seiten und der Mitte das bildähnliche Ver
hältnis von Rahmen und Füllung besteht. In solchem ge
schlossenen „Architekturbild“ herrschen dann naturgemäß
auch bestimmte feste Maßstäbe nach allen drei Richtungen:
ein Tiefenmaßstab durch Wiederholung des gleichen Bau
*) ln einem Schreiben an Matteo de Paatl vom 18.November 1453:
Le miaure e proporzionl de’pilastrl, tu vedl onde eile nascono. Ciö che
tu muti discorda tntta quelle musica.
a ) S, August Grisebach, Die Baukunst im ig. und 20. Jahrhundert
(Handbuch der Kunstwissenschaft, Lief. 59, Berlin-Neubabelsberg), S. 22ff.
Denkmalpflege: Daß man gotische Kathedralen von Gebauten säubert
und auf weitem Platze freilegt, beruht auf der klassizistischen Vor
stellung, die Lage eines antiken Tempels sei auch für die gotische Kirche
maßgebend.
s ) Vgl. Professor Karl Hocheder: Gesichtssinn und baukünstlerisches
Schaffen. Festrede, gehalten bei der Akademischen Jahresfeier der Tech
nischen Hochschule zu München am 7. Dezember 1909. — Internationale
Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik. 4. Jahrgang, Nr» a,
8. Januar 19x0, S. 34—50.
4 ) A, E« Brinckmann: Platz und Monument, Berlin 1908, Deutsche
Stadtbaukunst in der Vergangenheit. Frankfurt (Main) 1911. Stadtbau
kunst des 18. Jahrhunderts (Städtebauliche Vorträge aus dem Seminar
für Städtebau an der Technischen Hochschule zu Berlin. Bd. VII, Heft x)
Berlin 19x4.