DER STÄDTEBAU
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Es ist richtig, daß das Wohnungsgesetz der fraglichen
Bestimmung in § 3 des Baufluchtliniengesetzes eine vor
sichtige Fassung gegeben hat, indem es im Gegensatz zu
der zu gleicher Zeit zum Ausdruck gebrachten bedungenen
Rücksicht auf das Wohnungsbedürfnis die Verunstaltung
des Orts- und Landschaftsbildes nur verbietet. Es ver
lohnt jedoch vielleicht einer Betrachtung, ob sich in diesem
negativen Kleide nicht doch etwas Positives verbirgt.
Zunächst muß davon ausgegangen werden, daß der
Artikel 1 des Wohnungsgesetzes, in dem der § 3 steht,
die Überschrift „Baugelände“ trägt. Hierdurch wird
deutlich, daß sich die Vorschriften jedenfalls auch, und
zwar in erster Linie, auf die Grundstücke in solchen Be
zirken beziehen, in denen bisher Gebäude noch nicht er
richtet sind, also auf neue Siedelungen. Die Bebauungspläne
für solche Anlagen können auf Straßen, Plätze und Orts*
bilder keine Rücksicht nehmen, da solche nicht vorhanden
sind. Wohl aber müssen sie bei der Führung und An
ordnung der Straßen und Plätze und bei der Feststellung
der Straßen- und Baufluchtlinien darauf bedacht sein, daß sich
der Plan und die Siedelung harmonisch dem Landschafts
bilde einfügen, schönheitliche Werte der Natur erhalten und
für die künstlerische Erscheinung der Siedelung verwerten.
Es ist selbstverständlich, daß dem Städtebaukünstler
bei der Schaffung des Bebauungsplanes ein bestimmter
Aufbau vorschwebt, daß der Plan gleichsam einen abstrakten
Begriff von der baukünstlerischen Wirkung der Siedelung
gibt. Dies ist nicht so zu verstehen, als ob nun nur der
Aufbau, wie der Künstler ihn sich denkt, die künstlerischen
Werte des Planes voll entfalten kann. Das wäre ein
schlechter Bebauungsplan, der allen zeitgenössischen Archi
tekten und Städtebaukünstlern sowie ihren Nachfolgern die
Flügel bände und sie in ein starres System entwicklungs-
und abwandlungsunfahiger Formen sperrte. Die Beweg
lichkeit, die für jeden Bebauungsplan mit Rücksicht auf die
anderen gleichzeitig lebenden Künstler verlangt wird, kommt
zugleich der Fortentwicklung des Entwurfs in der Zukunft
zugute. Sie gibt aber trotzdem nicht jedem Anbauenden
das Recht, sich in den Grenzen seines Grundstückes so
aufzuführen, wie es ihm beljebt. Hier verlangt die All
gemeinheit, daß er sich ihren berechtigten Wünschen an-
bequemt; und diese sind die Regeln, die der Bebauungs
plan für den Aufbau stellt. Nur im Rahmen des Be
bauungsplanes steht dem einzelnen Freiheit zu. Sowie er
nicht über die Grenze seines Grundstücks in das Siedelungs
gebiet hineinbauen darf, in das Grundstück des Nachbars
oder in die Straße, so muß er sich auch in den künst
lerischen Grenzen des Bebauungsplanes halten. Er darf
nicht in den Raum hineinbauen, der für das Siedelungs
gebiet gemeinsam ^ geschaffen und künstlerisch gestaltet
worden ist. Er muß aber auch den ihm überlassenen
Raum erfüllen. Er darf aus dem gemeinsamen Straßen
raum keine Stücke reißen oder ihm Beulen schlagen.
Wenn also hei der Feststellung der Fluchtlinien darauf
Bedacht zu nehmen ist, daß eine Verunstaltung des Land
schaftsbildes nicht eintritt, dann muß außer der sorgsamen
Schaffung des Bebauungsplanes Vorsorge getroffen werden,
daß die im Bebauungsplan abstrakt beruhenden allgemeinen
Aufbaugesetze beachtet werden, und daß die künstlerische
Abhängigkeit des Aufbaues vom Bebauungsplan in Siche
rungen zum Ausdruck kommt, die die Erfüllung der Forde
rungen des Planes gewährleisten.
Zu diesem Zwecke enthält das Gesetz nun im Artikel 4
§ 1 zunächst nur die magere Bestimmung, daß der Ver
putz, der Anstrich und die Ausfugung der Wohngebäude
geregelt werden können, und dehnt diese Befugnis in ganz
unbestimmter und unbegrenzter Weise auf „die einheitliche
Gestaltung des Straßenljildes“ aus. Es darf nicht verkannt
werden, daß diese Beschränkung und Vorsicht zum Teil
ihren Grund in der Schwierigkeit derartiger Bestimmungen
haben, die selbst dann, wenn sie vollkommen wären, in
böswilliger oder ungeschickter Hand in einzelnen, aber
bedeutungsvollen Fällen, zur Unterbindung künstlerischen
Schaffens oder zur Fortschleppung eines verfehlten Planes
durch lange Zeit führen könnten. Aber es wäre doch wohl
möglich gewesen, nicht nur die für Verputz und Anstrich
gegebenen Regeln auf die Form und die Höhe der Gebäude
auszudehnen, sondern darüber hinaus wenigstens in großen
Linien die Wege zu zeigen, auf denen die Auswertung der
im Bebauungsplan steckenden schönheitlichen Werte er
folgen könnte. Es hätten vielleicht auch die Baupolizei
behörden daran erinnert werden müssen, daß es. ihre Pflicht
ist, nun das zu tun, wovor der Gesetzgeber sich scheute.
Er nahm mit einer gewissen Berechtigung von einer all
gemeinen Regelung Abstand. Aber die ihm zur Seite
stehenden Gründe sind für die Stadt- und Kreisverwaltungen
keine ausreichende Entschuldigung. Die genaue Kenntnis
der Örtlichkeit, der herrschenden Baugewohnheiten und
Bauweisen, Baustoffe und Bauformen machen es ihnen
leicht, für die Kommunalverbände die Vorschriften zu
finden, deren Festsetzung für das ganze Gebiet Preußens
fast unmöglich ist. Wenn dies von den berufenen Ver
waltungen in ausreichendem Maße geschähe, so stände zu
hoffen, daß es auch mit den dürftigen Gesetzen gelingen
würde, Befriedigendes in den Neusiedelungen zu schaffen,
ohne daß die polizeilichen Baugenehmigungen von schön
heitlichen Voraussetzungen abhängig gemacht werden. Daß
dies allerdings wünschenswert ist, ist füglich nicht zu be
zweifeln, wenn auch die Bedenken gegen eine derartige
Regelung nicht übersehen werden dürfen. In keinem Falle
dürfen aber die Stadterweiterungen und Neusiedelungen, die
ein neues Geschlecht baut, so aussehen, wie die aus der
Zeit nach 1870. Auch auf diesem Gebiete müssen wir den
Hinweis unserer Väter auf „die gute alte Zeit“ zurückweisen
und zeigen, daß wir etwas gelernt haben und danach han
deln können, auch wenn uns gesetzliche Vorschriften nicht
dazu zwingen.
Was die Frage angeht, wie auf Grund der geltenden
Gesetze ein dem Bebauungsplan künstlerisch entsprechender
Aufbau herbeigeführt werden kann, so ist zunächst auf das
in ihrem Wesen durchaus verschiedene Gepräge neuer
Stadtteile hinzuweisen. Hier soll ein Wohn- und dort ein
Gewerbevicrtel entstehen. Hier ist eine Neustadt geplant mit
Reihenhäusern und vielen Stockwerken, bald für Wohnungen
mit acht bis fünfzehn, bald für solche mit zwei bis drei
Zimmern, dort eine Landhaussiedelung im Einzel- oder
Doppelbau, Und selbst wenn zwei Viertel dem gleichen
Zwecke dienen sollen und diesen in derselben Weise zu er
füllen streben, so sind doch ganz verschiedene künstlerische
Gesichtspunkte für ihre Entstehung, selbst unter Berück
sichtigung des künstlerischen Gepräges der alten Stadt maß
gebend, wenn die eine vielleicht im Süden der Stadt am
Abhang eines Hügels liegt und die andere im Osten an einem
Wasserlauf. Und das ist nun der seltsame Gegensatz zu