DER STÄDTEBAU
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wünschenswert und notwendig wäre; es ist demnach sehr
wichtig; wenn endlich festgestellt wird, daß das Wohnhaus
ein Gebrauchsgegenstand und als solcher auch dement
sprechend zu gestalten sei. Daraus folgt, daß das Äußere
eines Gegenstandes unmöglich eine künstlerische Aufgabe
bilden kann, wenn dessen Bestimmung und inneres Wesen
für die Hervorbringung künstlerischer Ideen ungeeignet ist.
Eine Hausbaukunst im strengen Sinne gibt es nicht und hat
es auch nie gegeben; was als solche bisher verstanden
wurde, gehört nicht in das Kunstgebiet.
Es mag zugegeben werden, daß die gelegentliche oder
dauernde Ausschmückung von Gebrauchsgegenständen dem
gleichen Bedürfnisse nach Schönheitsempflndung entspringt,
welches beim Eintreffen gewisser Voraussetzungen die Kunst
hervorbringt. Es wäre aber falsch, aus diesem Grunde
einen geschmückten Gegenstand oder auch ein selbständiges
Schmuckstück als Kunstwerk erklären zu wollen, wie es
in den Kunstgeschichtsbüchern allgemein üblich ist, und
durch welche auch tatsächlich die bestehende Verwirrung
verursacht wurde. Die beim Hausbau seit undenklichen^
Zeiten üblichen und von der jeweiligen Kunstrichtung ab
hängigen Schmuckformen sind unter einem ganz anderen
Gesichtswinkel zu betrachten als Architekturwerke, welche
idealen, in der Weltanschauung begründeten Zwecken der
inneren Sehnsucht dienen, in deren Wesen die Vorbedingungen
zur Entwicklung künstlerischer Ideen enthalten sind, 'wie denn
jenes selbst außerhalb der Verstandesgrenzen gelegen ist.
Es wird keine Baukunst geben, solange wir so an
spruchslos sind, in jedem Arbeiterhause und in jeder Zins
kaserne einen geeigneten Gegenstand künstlerischer Gestal
tung erblicken und aus dem Begriffe der Kapital Verzinsung
künstlerische Ideen herauspressen zu wollen; andererseits
wird die Hausbautechnik hinter den anderen, streng sach
lich und praktisch aufgefaßten technischen Gebieten, nach
hinken, so lange sie ‘sich durch falsche Behandlung ver
meintlicher, gar nicht vorhandener Kunstaufgaben beirren
läßt und sich nicht zur freimütigen Bekennung ihres wahren
Wesens entschließt.
Der Mangel wahrer künstlerischer Kultur in der Neu
zeit bedarf keiner weiteren Beweise als der neuerlich so
beliebten, in den Mantel der Volkstümlichkeit gehüllten
Profanisierung wahrer oder vermeintlicher Bestrebungen
auf dem Gebiete der bildenden Kunst in einer Zeit, die noch
nicht besitzt,- was sie zu spenden vorgibt: Die erste Vor
bedingung zur Entwicklung und zum Ausreifen der bildenden
Kunst, die neue Weltanschauung, ist in Kristallisierung be
griffen und wird erst von einzelnen mehr geahnt als bewußt
empfunden. Musik und Dichtung mögen immerhin, weil
nicht an 1 Körperlichkeit gebunden, ihrer Zeit vorauseilen-
diese Fähigkeit besitzen aber nicht die an Gestaltung starrer
Körper gebundenen Künste, deren Ausdrucksmittel erst beim
Vorhandensein einer gefestigten Weltanschauung ausgebildet
werden können. Die Schönheit und die Kunst auf die Stufe
der Volkstümlichkeit bringen zu wollen, ist unter allen Um
ständen ein müßiges Beginnen. Ihrer teilhaftig zu werden,
bleibt immer ein unveräußerliches Vorrecht der wenigen,
welche sich durch die innere Kraft derNotwendigkeitzu jenen,
die weitgehendste Demokratisierung der menschlichen Ge
sellschaft überragenden Höhen emporzuschwingen vermögen.
Man verzeihe eine Abschweifung, welche notwendig
erschien, um das Verständnis für das Wesen der Kunst, im
Gegensatz zu jenem des Alltags, zu erleichtern. Der Haus
bau als ein den Bedürfnissen des Alltagslebens dienender
Arbeitszweig hätte künftig in dem Gebiete der Technik be
wußt seinen Platz einzunehmen, trotzdem allezeit das Be
dürfnis nach reicherer oder bescheidener Ausschmückung
der Häuser empfunden wird. Die letztere wird immer dann
von gutem Geschmack Zeugenschaft ablegen können, wenn
in der Ausschmückung jene Grenzen ‘eingehalten werden,
innerhalb welcher das Haus als Gebrauchsgegenstand und
als Werk der Technik unzweifelhaft erkenntlich bleibt und
auch nicht als etwas anderes gelten will.
Es ist nicht anzunehmen, daß sich in der Zeit einer auf
nüchternen Berechnungen beruhender Entwicklung aller
technischen Gebiete gerade nur die Hausbautechnik durch
falsche Voraussetzungen und Schlagworte dauernd beirren
und von ihrer natürlichen Entwicklungsbahn abdrängen
lassen könnte.
Die Menschheit liefert soeben die gewaltigste Probe aut
die einzig richtige Auffassung der Freiheit, weiche Kraft
genug besaß, die alte Weltanschauung zu sprengen, aber
die in Wirbel geratenen Kräfte noch nicht zu binden ver
mochte: sie wird nur in der Unterordnung des Einzelwillens
unter die Gebote des Gesamtwohls zu suchen sein. Auch
auf dem Gebiete des Geisteslebens und der Kunst ist die
schrankenlose Freiheit aller gleichbedeutend mit der stetig
wechselnden Herrschaft weniger zum Nachteil der Gesamt
heit, im vorliegenden Falle mit dem unerfreulichen Ergeb
nisse, daß die vielgepriesene künstlerische Freiheit eines
ganzen Jahrhunderts in der Baukunst, trotz des größten
Kraft- und Willenaufgebotes, nicht den Wert jener landes
fürstlichen Weisheit zu erlangen vermochte, welche in
früheren Zeiten durch Machtworte Ortsbilder von vorbild
licher Harmonie geschaffen hatte.
Es müßte möglich werden, die Architekten zu einer
Verständigung über die Hauptfragen der äußeren Gestaltung
des Wohnhauses und zur Abschwörung aller hinderlichen
Stilformeln zu bewegen. Im Anfang würde es vollauf ge
nügen, wenn für einzelne Gegenden mit klimatischen und
sonstigen Verschiedenheiten von grundlegender Bedeutung
eine Einigung über die Gestalt und Deckungsart der Dächer
erzielt werden würde.
Man möchte dem Muthesius’schen Buche wünschen,
da es durch seinen Inhalt den ersten entscheidenden Schritt
zur Durchbildung des neuzeitlichen Wohnhaustyps in Mittel
europa bedeutet, daß es auch noch den Anlaß biete zum
weiteren Fortschritte in derselben Richtung.
Schlußbemerkung der Schriftleitung:
Mit diesem Beitrage eröffnen wir mit der Bitte um eine möglichst
lebhafte Beteiligung die Erweiterung einer Frage, die den gesamten
Nutzbau betreffend bereits von unserem Herausgeber im Jahre 1895 im
Ergänzungsheft Nr. 6 zum Handbuche der Architekiur (Darmstadt, Verlag
von Arnold Bergsträsser) angeschnitten, seit Dezember nicht weiter ver
folgt worden ist.