DER STÄDTEBAU
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Stadt, für die Verteilung der Industrien, der Wohn- und
Erholungsflächen und für die Lage der Plätze. Die ent
scheidenden Verkehrsrichtungen haben schon die alten Städte
wesentlich mitbestimmt, nur sind heute diese Fragen viel
verzweigter und erfordern eine viel eingehendere Prüfung.
Auch verändern durchgreifende Umgestaltungen heute viel
mehr das ganze Gefüge der Stadt als früher. Es bleibt
von entscheidendem Einfluß, ob die Lage am Meere eine be
stimmte Ausdehnung mit sich bringt oder ein bedeutender
Fluß Richtung gibt, ob Flachland ungehemmte Ausdehnung
ermöglicht oder Bergrücken die Stadt modellieren,
Rüstringen und Wilhelmshaven bilden einen Kreissektor,
in dessen Spitze die Kaiserliche Werft mit dem Kriegshafen
von Anfang an lag; zu ihr mündeten die ersten Wege, auf
sie bezog sich alles. Das hat sich neuerdings verändert.
Die Entwicklung der Werftbetriebe hat mit der er
wähnten Eindeichung ein neues Werftzentrum im südwest
lichen Stadtgebiet geschaffen. Diese Verschiebung macht
sich bereits in einer Reihe von Verkehrsfragen entscheidend
bemerkbar und hat z. B. die Verhandlungen über die An
legung eines neuen Bahnhofes für beide Städte neben
anderen Fragen wesentlich beeinflußt.
Rüstringen-Wilhelmshaven bildet die Endstation der
Bahnlinie Bremen—Oldenburg-Wilhelmshaven; der Reisende
erreicht es von Bremen in zwei Stunden. Damit ist die Richtung
des Personenverkehrs angedeutet; es besteht nur die eine
Hauptlinie, die von Westen in das Stadtgebiet eindringt;
Abzweigungen von dieser Hauptstrecke, die die Verbindung
nach Ostfriesland herstellen, liegen zurzeit noch außerhalb
Rüstringer Stadtgebiet. Gegenwärtig liegt die Bäderlinie des
Norddeutschen Lloyd, die in Friedenszeiten von hier nach
den Ostfriesischen Inseln und Helgoland läuft, still.
Der Güterverkehr benutzt dieselbe Linie. Da die nähere
Umgebung ein in reiner Viehwirtschaft betriebenes Marsch
gebiet ist, so liefert es lediglich Nahrungsmittel. Alles, was
die riesigen Werftbetriebe verarbeiten und was die Städte
und die stationierten Schiffe verbrauchen, muß von weither
herangeschafft werden. Der Ems-Jade-Kanal ist nach
Führung und Beschaffenheit als Handelsweg unbedeutend,
und von der See her läßt die Kriegsmarine keine Handels
schiffahrt zu.
Nach verkehrspolitischer Bedeutung, Flächenbedürfnis,
Gebundenheit in Lage und Steigungen ergibt sich für
Rüstringen-Wilhelmshaven die nachfolgende Ordnung der
modernen Verkehrsmittel:
1. Güterverkehr,
2. Fernpersonenverkehr,
3. Nachbarortverkehr,
4. Straßenbahnverkehr,
5. Straßenverkehr.
Ihrer Art nach erfordern die Anlagen für den Güter
verkehr die größte Rücksicht auf den Aufbau der Ver
kehrsmittel. Einmal sind sie räumlich am umfangreichsten;
sie erfordern auch für mittlere Städte schon große Anlagen
für Lade- und Entladegleise, Verschiebebetrieb, Lokomotiv
schuppen und Werkstätten sowie vorbereitende Anlagen
(Verschiebebahnhöfe, die oftmals außerhalb des eigent
lichen Stadtgebiets liegen). Aus ihrem Umfang folgt ihre
Unbeweglichkeit. Umbauten der Güteranlagen bedeuten
meist schwerwiegende Eingriffe in -den Stadtorganismus,
die hohe Kosten verursachen und Werte verschieben. Da
in den meisten Fällen die Personengleise die Güteranlagen
durchlaufen, so ziehen Veränderungen der ersteren auch
die letzteren in Mitleidenschaft. In unserem Falle liegen
die Dinge so, daß Personen- und Güterverkehr auf einem
gemeinsamen für den jetzigen Umfang der Städte völlig
unzureichenden Bahnhof endigen. Die militärischen An
forderungen und die Lage der Hafen- und Werftaniagen
bringen es mit sich, daß die südlichen und südöstlichen
Teile des Stadtgebiets unter vielfachen ebenen Schienen
kreuzungen der Hauptverkehrsstraßen von Gleisen für Per
sonen- und Güterverkehr durchzogen sind. Eine erste
Abzweigung von der Hauptlinie versieht die Hafenanlagen
und die Werft und läuft in einer Schleife zum Hauptbahnhof
zurück, eine frühere Abzweigung weiter westlich versorgt
die gesamten Anlagen zwischen Ems-Jade-Kanal und Süd
deich bis zu den Einfahrten mit Schienensträngen. Die
ganzen Eisenbahnfragen sind infolge des ebenen Geländes
und des hohen Grundwasserspiegels, der alle Bahnein
schnitte und Unterführungen unmöglich macht, außerordent
lich schwierig und führen zu mannigfachen Unzuträglich
keiten bei Kreuzung der Hauptverkehrsstraßen; glücklicher
weise ist nur ein Endverkehr zu bewältigen — Güterdurch
gangsverkehr würde alle die genannten Schwierigkeiten noch
erheblich steigern. Die heutigen Anlagen für Personen-
und Güterverkehr haben sich seit langem als unzureichend
herausgestellt, und so schweben seit Jahren Verhandlungen
über die Lage eines neuen Personen- und Güterbahnhofs
zwischen der preußischen und oldenburgischen Staats
regierung, der Marine und den Städten. Obwohl mit Rück
sicht auf die Entwicklung der Gesamtstadt nur eine einzige
Lage in Betracht kommen kann, so haben die verschiedene
Staatszugehörigkeit der Gemeinden und die Interessen
gegensätze der Städte einen höchst lebhaften Kampf durch
einige Jahre hindurch veranlaßt, der sehr ergötzlich wirken
könnte, wenn nicht ihre Möglichkeit eine wunde Stelle in der
Organisation der Gesamtstadt anzeigte; es ist in kleineren
Verhältnissen der ähnliche Kampf, der sich zwischen Ham
burg und Altona im großen abspielt. Die Stadt Rüstringen
hat im Lauf des Kampfes stets den Standpunkt eingenommen,
daß die Interessen der Gesamtstadt entscheidend sein müßten.
— Noch im August 1914 heißt es in einer vom Verfasser
dieser Zeilen bearbeiteten Vorlage der Stadtverwaltung an
das Großherzogliche Ministerium der Finanzen und des
Innern mitbezug auf die zwei beim damaligen Stande
der Frage zur Erörterung stehenden Pläne der Eisenbahn-
verwaltung:
„Nach unserer Ansicht müßte die Entscheidung zu
gunsten desjenigen Planes ausfallen, der:
1. mit Rücksicht auf die voraussichtliche Entwicklung
der Gesamtstadt Wilhelmshaven-Rüstringen städte
baulich die beste Lage aufweist;
2. unter voller Befriedigung des augenblicklich zu über*
sehenden Verkehrsbedürfnisses die billigste Lösung
bietet;
3. sich am billigsten und besten für die Bedürfnisse der
Zukunft erweitern läßt.
Bei Beurteilung der städtebaulichen Frage ist zunächst
festzustellen, daß die Weiterentwicklung der Gesamtstadt
zukünftig in nördlicher und westlicher Richtung aui
Rüstringer Gebiet vor sich gehen muß, da Wilhelmshaven
nur in ganz geringem Umfange noch Bauland zur Verfügung
hat Diese Entwicklung wird namentlich einsetzen, sobald
die Zentralanlagen, die die Stadt Rüstringen unter Be-