DER STÄDTEBAU
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keit verloren hat und mit gesenkten Schwingen auf der
Zivilisation lastet, statt diese zu heben und nach aufwärts
zu tragen. Der Polizei fällt im Kulturstaat nur die schwere
Aufgabe zu, dem Sinken der Zivilisation vorbeugende Maß
regeln entgegenzusetzen, eine Zweckbestimmung, die, theo
retisch betrachtet, im Kulturstaat gegenstandslos sein müßte.
Von einem Kulturvolk kann eben nie im umfassenden Sinne
die Rede sein, und darum ist dies nur von einem Kultur
staat im Sinne seiner aufstrebenden Kraft ähnlich wie in
der Luftschiffahrt denkbar. Das künstlerisch veredelte
Zunftwesen der Baukunst des Mittelalters verhält sich so
etwa zur heutigen spekulativen Baufreiheit wie der Zeppelin
zur Flugmaschine, nach dem grundsätzlichen Unterschiede
schwerer und leichter als Luft.
Die Stadt in ihrem inneren Wesensbegriff ist aber nun
einmal da, und es wäre ein müßiges Bestreben, sie als ein
Übel zu bekämpfen, selbst wenn man sie als ein solches
anzuerkennen geneigt wäre. Sie als Sitz des Landesfürsten
oder als Kultusstätte grundsätzlich als ein Übel zu betrachten,
ist eine kulturpolitische Ansichtssache, und die Gewerbe-
und Handelstädte als solche zu verbessern, ist Sache der
Sozialpolitik. Der Künstler schließt auf den Charakter einer
Stadt etwa nach dem luftschifistechnischen Grundsatz
schwerer und leichter als Kultur; denn jede Stadt trägt ihre
Merkmale in ihren Formen, die allerdings gerade in ihren
Ausdrucksteilen abgestorben sein können und dann aus dem
Adel der Formen nur auf den Adel ihres ehemaligen Wesens
einen Schluß gestatten. Dieser Adel geht unter, wenn die
Formen der Kulturideale mit dem Zunehmen der Zweck
formen nicht Schritt halten, und er geht verloren wie der
wasserkopfartige Gesichtsausdruck bei einem Vielfraß, der
ohne sittliche^Rücksicht und geistige Schwungkraft ist, in
willensschwacher oder ganz willenloser Fahrlässigkeit. Tat
kräftige geistige Schwungkraft läßt wohl mitunter sittliche
Rücksichten vermissen, aber sie gibt sich niemals gleich
gültiger Fahrlässigkeit preis.
Über die Kultur eines Volkes kann der Künstler nur
sehr schwer, über die seiner Zeit aber niemals hinaus, mag
auch die Kultur sehr tief und die Zivilisation noch so hoch
stehen. Aber umgekehrt darf er auch niemals hinter seiner
Zeit Zurückbleiben, ln dem Maße, als der Künstler über
die hergebrachte Plattform der Zivilisation hinausstrebt,
äußert sich seine schöpferische Kraft. Diese schöpferische
Kraft ist die Kraft seiner Zeit, der sie gehört. Eine über
kulturelle Kunst ist eine Scheinkunst, im städtebaulichen
Sinne eine Kultur Potemkinscher Dörfer.
Da mit den Mitteln der Polizei niemals künstlerische
Schwungkraft erzeugt werden kann, und anderseits jeder
Versuch eines Vorwurfes, daß die Polizei kunstfeindlich sein
könne, nicht zweifelsfrei zu beurteilen ist, so ist es von vorn
herein ausgeschlossen, die Polizei als Karnickel der Schuld
an unserer verschrienen städtebaulichen Unkultur zu zeihen.
Wenn die Polizei trotzdem den kümmerlichen Versuch
macht, mit ihren untauglichen Mitteln im selbstherrlichen
Verfassungsstaat eine Veredelung des Städtebaues zu be
wirken, so ist daraus nicht der Polizei ein Vorwurf un
berufener Anmaßung zu machen, sondern wir müssen uns
dankbar an Bismarck erinnern, daß er als Jurist nicht die
vorbildliche preußische Polizei im Städtebau durch irgendein
unreifes Städtebaugesetz vorzeitig zu ersetzen versucht hat.
Sind schon Gesetze keine Lehrbücher der Kultur, so
kann von den Polizeiverordnungen, die eigentlich doch nur
Dienstanweisungen der Polizeiverwaltung sind, keine kunst
fördernde Wirkung verlangt werden. Die Aufgabe .der
Polizei ist es, der Unkultur zu steuern, die jenseits der Zivili
sation die Grenze von Gut und Bose überschreitet. Die
Hindernisse, die einem künstlerischen Städtebau entgegen
stehen, können nur diesseits liegen, auf dem Gebiete der
Reichsverfassung, nämlich in dem Mangel eines geeigneten
Reichsstädtebaugesetzes, das die Baukunst von der speku
lativen Tyrannei des städtischen Baulandwuchers befreit,
gegen den sich alle Steuermaßnahmen als machtlos er
wiesen haben. Nur ein Heichsstädtebaugesetz, das der Ver
dichtung der Menschenmassen angemessene Grenzen setzt,
die nur nach Grundsätzen von Recht und Billigkeit gegen
angemessene Entschädigung an das Reich überschritten
werden dürfen, vermag die Städtebaukunst von der oberen
Fluchtlinie zu befreien, welche die Ursache der heutigen
Verflachung und des polizeilichen Schematismus ist.
Die Freiheit, sich in der Berliner Friedrichstraße ein
kleines Einfamilienhaus an oder hinter der Fluchtlinie in
beliebigem Abstand von der Straße zu bauen, ist eine wenig
verlockende. Dort aber, wo die Baufreiheit über das poli
zeilich Zulässige hinausstrebt, endigt nicht nur die Freiheit
des Künstlers und des einzelnen, auf seinem Eigentum zu
bauen, wie er will, sondern auch die Freiheit ganzer. Ge
meinden, ihr öffentliches Interesse gesondert wahrzunehmen.
Was dem einzelnen in der Friedrichstraße gestattet und
wenig reizvoll ist, ist aber auch den Gemeinden nicht
verlockend; denn jede Gemeinde ist bestrebt, so viel Mit
glieder als möglich aufzunehmen und von ihrem Fassungs
vermögen so wenig als möglich freiwillig preiszugeben. Die
Maßnahme der Landespolizei, den Gemeinden eine Selbst
beschränkung in der Besiedelungsdichtigkeit durch geeignete
Bauweisenabstufung aufzuerlegen, widerspricht eigentlich
dem Reichswohle, das politisch auf ein land- und stadt-
wirtschaftliches Gleichgewicht zu achten hat. Das wirk
samste Mittel zur Beseitigung von Mißständen, die eine
ungeregelte Stadtentwicklung durch die spekulative Wirkung
im Gefolge hat, nämlich der wirtschaftliche Regler in
der staatlichen Verwaltungspraxis zum öffentlichen Staats-
wohle, steht leider der Polizei nicht zu Gebote. Die
Regelung der Städteentwicklung ist aber nicht nur wirt
schaftlich, sondern auch kulturell und damit künstlerisch
von höchster Bedeutung.
Das preußische Gesetz vom 2. Juli 1875 betreffend die
Anlegung und Veränderung von Straßen und Plätzen in
Städten und ländlichen Ortschaften regelt zwar den Anbau
an Straßen und Plätzen und zwingt die Gemeinden, dem
Besiedelungsbedürfnis Rechnung zu tragen. Was aber durch
das Fluchtliniengesetz erzwungen werden mußte, um dem
größten Hemmnis, dem Haushesitzerprivileg, entgegenzu
wirken, das ist heute zu einer Gefahr für das wirtschaft
liche Gleichgewicht zwischen Stadt und Land geworden.
Ausgedehnte Fluchtlinien und private Aufschließungsunter-
nehraungen größten Umfanges fördern eine Überentwick
lung der Städte, die zu der neuesten Zeiterscheinung, der
Städtewanderung, geführt hat. Diese Erscheinung äußert
sich darin, daß die Häuser vorzeitig veralten, so daß sich
der Stadtkern in der Entwickelungsrichtung verschiebt, in
welcher der Städteneubau am schnellsten der Aufschließung
folgt, so daß eine Erneuerung der zwar nicht alten, aber
doch schon veralteten Stadtteile infolge der Entwertung er
schwert wird. Diese Entwertung führt zu einer Verwahr