DER STÄDTEBAU
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Damit aber war die Lage an der Limmat für jeden Züricher
die gegebene. Ausschlaggebend konnte nur noch sein die
Frage, wo denn eine entsprechend große Fläche zu finden
sei, um ein großes Geschäftshaus für alle Verwaltungs
zweige zu errichten.
Da war es denn besonders eine Persönlichkeit, die
klärend in der Folgezeit auf die Bau- und Platzfrage ein
wirkte, der Architekt und zeitweilige Stadtbaumeister Gustav
Gull, heute Professor an der Eidgenössischen Technischen
Hochschule in Zürich, Gull ließ sich im Jahre 1894, nach
dem eben die neue Gemeindeordnung für das durch Ein
beziehung von zwölf Vororten vergrößerte Zürich in Kraft
getreten und die Beschaffung von neuen Räumlichkeiten für
die vergrößerte Verwaltung akut geworden war, durch den
damaligen Bauamtsvorstand Dr. Paul Usteri bestimmen,
während des Landesmuseumsbaues in die städtische Ver
waltung einzutreten und die Leitung des besonders für die
Planung der städtischen Neubauten geschaffenen Hoch
bauamtes II zu übernehmen. Er hatte in den Jahren 1895
bis 1900 sich amtlich zunächst mit der Vergrößerung des im
alten Fraumünster errichteten neuen Verwaltungsgebäudes
zu beschäftigen und löste diese Aufgabe in höchst geschickter
Weise. Zwischen die einstmals mit einem Klostergebäude
in unmittelbarem Zusammenhang stehende, gotische Kirche
und das Verwaltungsgebäude (siehe Tafel 11) setzte er einen
Zwischenbau, der mit Bogengängen an die Münsterkirche
unmittelbar heranrückte. Bewußt also brachte er nach alten
Vorbildern einen Profanbau größeren Stils mit der Kirche
in künstlerische Verbindung, lehnte sich aber gleichzeitig
in den Höhen der Gurt- und Hauptgesimse an die gleichen
Höhen des vorhandenen Verwaltungsbauflügels an und ging
so auch mit diesem eine gewisse Verwandtschaft ein. Sein
Bau, der in scheinbarem Gegensatz zu dem ausgesprochenen
Renaissancebau des vorhandenen Verwaltungsbaues sich in
spätgotische Formen hineinbewegte, behandelte diese doch
in so freier Weise, daß die städtebaulich bedeutsame Gesamt
lösung der schwierigen Baufrage ebenso wie seine Einzel-
behandlung schon damals die Aufmerksamkeit weiter Kreise
auf ihn lenkte. Für den Fall, daß eine fernere Ausdehnung
der Amtsräume später noch einmal notwendig werden sollte,
nahm man in Verwaltungskreisen die Errichtung eines
weiteren Flügels auf der Fläche der bei dem Fraumünster
amte geschaffenen Stadthausanlagen als das Gegebene an.
Ja, selbst das Fraumünsteramt einmal ganz wieder zu
verlassen, sah man als keine Unmöglichkeit an. Ein
Bauwerk wie das ausgeführte schien nach heutigen Auf
fassungen auch für manche andere große Verwaltung sehr
wohl brauchbar, für eine größere Bank, ja selbst für ein
Warenhaus großen Stils. Der weite, durch mehrere Stock
werke reichende, von Bogenhallen umzogene Lichthof konnte
jedem solchem Unternehmen wertvolle Dienste leisten.
Die Frage eines Zukunftsrathauses hatte in Zürich be
reits früher große Geister sehr nachdrücklich beschäftigt,
darunter vor allen Dingen Semper, der in den Jahren 1855
bis 1871 in Zürich wirkte. Er meinte den Schwerpunkt der
Stadt allmählich nach dem Seeufer hin verlegen zu müssen
und hatte bei den im Jahre 1837—1843 ausgeführten großen
Anschüttungen am nördlichen Seeufer einen Platz unmittel
bar dahinter an der Limmat als Rathausplatz bezeichnet
(siehe Doppeltafel 12/13). Freilich konnte Semper die Ent
wicklung der Stadt noch weniger voraussehen zu seiner
Zeit, als das gegen Ende des vorigen Jahrhunderts möglich
war, und sein Bauwerk, das wir nach einer Bleistiftskizze
von 1858 (Textbilder 1 u. 2) bringen, hätte räumlich großen
Anforderungen natürlich noch viel weniger zu genügen
vermocht, als das unter Gulls Leitung erweiterte Ver
waltungsgebäude neben dem Fraumünster. Dennoch schien
die ehrfurchtsvolle Rücksicht auf Semper und seine Bau
gedanken einerseits und fernerhin der im ersten Augenblicke
verlockende Gedanke der allmählichen Verschiebung des
Schwerpunktes der Stadt nach dem Seeufer so stark die
Gesamtstimmung der Bevölkerung zu beeinflussen, daß
man in dieser Gedankenrichtung sich eine Weile weiter
bewegte.
Als 1881 bis 1888 Stadtingenieur Burkli zwischen Bahn
hofstraße und Fraumünsterstraße seine Kaianlagen her
stellte, bezeichnete man, der Zukunft vorgreifend, die vor
den älteren, in den zwanziger Jahren aufgeschütteten Gelände
teilen entstandenen Anlageflächen geradezu als „Stadthaus
platz“. Aber die Studien, die Gull während seiner Amts
tätigkeit als Stadtbaumeister über die Eignung dieses Platzes
machte, ließen in ihm bald ernste Bedenken aufsteigen.
Einerseits mußte man fürchten, auch hier auf dem immer
hin durch die umgebenden Straßen begrenzten Platze sehr
bald nicht mehr auskommen zu können, und zweitens
konnten die einzig möglichen Standpunkte für die Be
trachtung eines solchen Bauwerks entweder von den ver
hältnismäßig schmalen umgebenden Straßen oder von dem
gegenüber liegenden, hier sehr weit entfernten Limmatkai
als für den Neubau des Rathauses besonders günstig durch
aus nicht angesprochen werden. Auch der Platz der ehe
maligen Tonhalle am Bellevueplatz auf dem rechten Seeufer,
über den Gull ebenfalls Studien anstellte, schien ihm keine
allseitig befriedigende Lösung für die Stadthausbauten zu
bieten. Erst als die Frage der Verlegung der kantonalen
Strafanstalten auftauchte und bekannt wurde, daß die Re
gierung mit einer Privatvereinigung über den Verkauf dieses
am nördlichen Ausläufer des Lindenhofes gelegenen Gelände-
fläche des ehemaligen Otenbachklosters in Unterhandlung
stehe, schien sich ein gangbarer Weg zu zeigen.
Gull richtete sein Augenmerk sofort auf diese Stelle.
Anfangs Dezember 1897 unterbreitete er dem Stadtrate eine
Planskizze, durch die er nachwies, daß auf diesem Gelände
durch Zusammenfassung mit einigen benachbarten Grund
stücken ein ideal gelegenes Baugelände für die Stadthaus
bauten zu gewinnen sei. Es handelte sich nur darum, die
Flächen, in die im 18. Jahrhundert das barocke Waisen
haus eingesprengt war, mit dem sehr wohl erhaltungsfähigen
und im Sinne der Denkmalspflege erhaltungswürdigen Ge
bäude zusammenzunehmen. Eine Anzahl weiterer Grund
stücke am Sihlkanal und rings in der Nachbarschaft am
Schipfekai, die allmählich schon in den Besitz der Stadt
gekommen waren, mußte man mit in das Geschäft hinein
geben. Endlich galt es, die alten kleinen Wasserläufe, die
das Gelände zum Teil durchschnitten, zuzuschütten. Dann
konnte hier ein Bauplatz entstehen, der im ganzen eine
Fläche von annähernd 50000 qm aufwies und somit weitest
gehenden Ansprüchen auf Errichtung eines recht großen
Zukunftsstadthauses genügen mußte. Es war sogar an
zunehmen, daß nach Neuregelung und Aufschließung der
Gesamtfläche durch entsprechende Straßenzüge noch Boden
genug übrigblieb, um durch Verkauf ein Geschäft zu machen
und mit diesem einen Teil der großen Unkosten der Neu
bauten ZU decken, (Schluß folgt.)