DER STÄDTEBAU
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VOM HOLLÄNDISCHEN STÄDTEBAU
IN ALTER UND NEUER ZEIT.
Von Regierungsbaumeister WALTER LEHWESS in Zehlendorf.
In unseren neueren Bebauungsplänen, die gerade in
Deutschland heute in überreichlicher Anzahl und oft zu
weit getriebener Zukunftsvorsorge entstehen, ist immer noch
wenig davon zu spüren, daß ihre Verfasser wirklich Städte
bauer sind, d. h. daß ihnen die Grundlagen städtischer
Ausbreitung, die inneren Zusammenhänge zwischen Be
bauungsplan, Landerschließung, Realkredit und Hausform in
Fleisch und Blut übergegangen. Viele Pläne sind bloße Zeich
nungen, die ein mehr oder weniger schönes Bild ergeben,
mehr oder weniger gute Platzbildungen aufweisen, aber nichts
davon verraten, daß ihr Verfasser sich klar gemacht hat,
welche Folgen für die WohnungshersteUung seine Planung
haben wird. Die Führung der Straßen und Gestaltung der
Plätze erscheint Behörden und Planentwerfern noch immer
als das Wesentliche und das Grundlegende in der Städtebau
kunst, nicht die Schaffung guter Siedelungsmöglichkeiten für
die verschiedenen Bedürfnisse. Und doch liegen schon seit
einer Reihe von Jahren Rudolf Eberstadts Schriften vor,
sein Handbuch des Wohnungswesens, seine „Neuen Studien“
aus Belgien und Österreich, die von der Oberfläche in die
Tiefe führen wollen und die wichtigen Zusammenhänge,
die erst in ihrer Gesamtheit und ihrem Zusammenklang
eine wirkliche, ihre Aufgaben ganz erfüllende Städtebaukunst
ergeben, klarlegen. Diesen Büchern hat Professor Eberstadt
jetzt ein neues angereiht, das in noch höherem Maße als
die ersten für die Praxis der Stadterweiterung, derWohnungs-
fürsorge und aller mit der Wohnungsbeschaffung zusammen
hängenden Fragen Bedeutung erlangen wird. Es ist betitelt:
Städtebau und Wohnungswesen in Holland und ent
hält eine zusammenfassende Darstellung alles dessen, was
in Holland auf diesem Gebiete geleistet und entstanden ist.
Es dürfte das erstemal sein, daß in der Literatur der
Versuch unternommen worden ist, das Wohnungswesen
eines ganzen Landes vollständig und zusammenfassend dar
zustellen. Man stelle sich nur einmal vor, was alles zu
einer solchen Darstellung gehört: Eine Schilderung der ge
schichtlichen Entwicklung des Wohnungswesens, also der
einzelnen Städte und Stadterweiterungen, eine Untersuchung
der verschiedenen Einflüsse, die der Entwicklung ihre
Richtung gegeben haben, also der Maßnahmen und Auf
fassungen der staatlichen und städtischen Behörden, der
wirtschaftlichen Bedingungen von Handel und Gewerbe,
der überlieferten Formen des Wohnens und des Realkredits,
endlich des Einflusses fremder Einrichtungen und An
schauungen, der gerade in neuerer Zeit oft bedeutend ist;
ferner eine Darstellung der Ergebnisse, der üblichen Haus
und Wohnformen und ihrer Mietpreise, sowie der Verhält
nisse des Grundstücks- und Baugeschäfts.
Daher ist denn in Eberstadts Buch der erste Teil der
Geschichte der holländischen Städte gewidmet; im ersten
Abschnitt wird die ältere, mittelalterliche Entwicklung dar
gestellt, im zweiten die davon stark unterschiedene neu
zeitliche, die mit dem sechzehnten Jahrhundert unter dem
Einfluß der italienischen Städtebaukunst beginnt. Der zweite
Teil enthält die neuere Entwicklung und die Gegenwart;
hier werden die Zustände in den einzelnen größeren Städten
und schließlich auch in den Mittel- und Kleinstädten ge
schildert, wie sie sich im neunzehnten Jahrhundert heraus
gebildet haben und sich uns heute zeigen, während im
dritten Teile die Landstädte und das ländliche Wohnungs
wesen behandelt werden. Die Darlegungen sind von einer
Fülle von Abbildungen, Stadtplänen, Städtebildern und Haus
typen begleitet, die schon für sich allein ein wertvolles
Material darstellen. Die wichtigen Fragen des Realkredits,
der Boden- und Bauunternehmung finden eingehende Be
leuchtung im vierten Teile, der damit vielleicht zu dem
wichtigsten Abschnitt des ganzen Buches wird.
Wir sehen, wie im Mittelalter die holländischen Städte
entstehen und wie in ihnen die Grundlagen für das Wohnen
der Bevölkerung geschaffen werden, wie ein städtischer
Wohnhaustypus ausgebildet wird. Wir bewundern die
Umsicht und Sicherheit, mit der die Fragen der Boden
aufteilung und Besiedelung zweckmäßig und zugleich künst
lerisch befriedigend gelöst werden, und hören mit Staunen,
daß manches damals selbstverständliches Gemeingut war,
was wir heute als allerneueste wissenschaftliche Errungen
schaft erst einzuführen versuchen. Außerordentlich an
schaulich und fesselnd ist sodann der Einfluß der Lehren
der großen italienischen Meister des 16. Jahrhunderts ge
schildert, denen nicht mehr die Besiedelungsmöglichkeiten,
sondern die Pracht und Schönheit der Stadtanlage Richt
schnur und Leitstern waren; die Niederlande schlossen sich
ihnen in formaler Beziehung an, verstanden aber dabei in
bezug auf die Wohnform und alle Maßnahmen der Boden
erschließung ihre eigene nationale Überlieferung zu wahren.
Das 19. Jahrhundert bringt dann, wie auch in anderen
Ländern, einen Niedergang der Städtebaukunst und der Für
sorge für das Wohnungswesen, der erst durch die Gleich
gültigkeit der Behörden, dann durch ihre verkehrten Maß
nahmen befördert wird: „Der Städtebau hört auf, der
Straßenbau beginnt“. Die Überschätzung der Straße, ihre
zu verschwenderische Anlage und Ausstattung zwingt zum
Verlassen des alten Eigenhaustyps und zur Stockwerks
häufung, und zu einer unwirtschaftlichen Bauweise. Es
entwickeln sich Zustände in der WohnungshersteUung, die
den bei uns auf diesen Gebieten bestehenden sehr ähnlich
sind; nur sind sie in den Niederlanden längst nicht so
schlimm und gemeingefährlich geworden wie bei uns. Noch
hält die alte Überlieferung des Kleinhauses den Gefahren
stand, die ihr aus falschen Bebauungsplänen und einer über
mäßigen Bodenspekulation drohen, und die Regierung in
den Niederlanden scheint die Lage rechtzeitig zu erkennen
und Gegenmaßregeln zu ergreifen.
Das ganze Buch ist unter dem Gesichtspunkt geschrieben,
die Beziehungen zwischen Stadtplanung und Wohnungsform
klarzulegen. Es ist gerade für alle, die in der Praxis der
Stadterweiterung stehen, außergewöhnlich anziehend und
lehrreich zu sehen, wie eine schlechte Aufteilung sofort zu