DER STÄDTEBAU
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Formelemente der Straßen und Plätze dieser Städte sind
naturgemäß durchaus verschieden, ebenso wie die Wirkungen
und Beziehungen der einzelnen Glieder innerhalb der ein
zelnen Zeitabschnitte, wie in den einzelnen Städten stets
andere sind. Denn wenn auch z. B. bei den mittelalterlichen
Städten wenige Grundtypen immer wieder in einer ähnlichen
Abwandelung erscheinen, so muß für die Regel doch jede
Stadt als eine einzigartige, sich so niemals wiederholende
Erscheinung angesehen werden, wobei bei der einen Stadt
(oder bei einem Stadtteil), z. B. bei vielen der ostelbischen
Kolonistenstädte die künstlerische Struktur aus dem Straßen
plan abgelesen werden kann, während die das künstlerische
Stadtbild formenden Elemente bei einer anderen lediglich im
Aufbau liegen, z. B. in der einheitlichen Wirkung der Straßen
fronten oder in demSich-in- und -zueinanderfügenderDächer.
Bald ist der Ablauf der Straßen nach öffentlichen Gebäuden
und Kirchen gerichtet, bald ist es eine Bodenerhebung (ein
beherrschender Hügel) oder eine Parkanlage oder ein Wasser
lauf, die den Straßen ihre Richtung und ihren Rhythmus geben.
Aus diesen Erörterungen folgt ohne weiteres, daß ein
allgemein gültiges Schema für die schutzbedürftigen Straßen
systeme undenkbar ist, sondern daß jede Stadt, wie jedes
Kunstwerk, die besonderen Gesetze ihrer Erscheinung in
sich trägt. Soll das Kunstwerk, das Stadt- oder Straßen
bild, also in seinem Wesen erhalten bleiben — und das ist
doch bei dem Schutz künstlerisch (und auch historisch)
bedeutsamer Straßen beabsichtigt — dann müssen diese be
sonderen Gesetze und die Wirkungswerte, auf denen Stadt
plan und Aufbau beruhen, erkannt und Vorsorge getroffen
werden, daß die Erscheinungen, aus denen diese Gesetze
abgelesen werden, nicht verloren gehen.
Daß dies in den meisten Städten, in denen Ortsstatute
auf Grund der Verunstaltungsgesetze erlassen worden sind,
nicht geschehen ist, geht aus den Listen von Straßen hervor,
denen diese Statute den Schutz des Gesetzes zuwenden. Hier
wird oft aus einem ganzen Stadtviertel eine einzelne Straße
herausgegriffen, ein Verfahren, das im Regelfall ebenso
zwecklos ist wie die Erhaltung einzelner Bauwerke, eine
Tätigkeit, von der Brinckmann (Deutsche Stadtbaukunst in
der Vergangenheit, S. 58) mit Recht sagt, daß sie ihm vor
komme, „als wenn man in einem großen Garten einzelne
Blumen unter Glasglocken stellt und die übrigen Anlagen
von unverständigen Leuten zertreten läßt“. Einen ähnlichen
Fehler begehen die Statuten, die zwar ganze Straßenzüge
schützen, aber die Seitenstraßen, eine Baumanlage, eine
malerische Kirchenfassade oder ein beherrschendes Gebäude,
kurz, irgendeines der Elemente, von denen die künstlerische
Erscheinung der Straße ganz oder zum Teil abhängt, „von
unverständigen Leuten zertreten lassen“.
Zu diesen unglückseligen Straßenlisten hat wohl in erster
Linie das Gesetz vom 15. Juli 1907 selbst geführt. Denn
nach ihm kann das Ortsstatut seinen Schutz nicht einfach
allen Straßen von geschichtlicher oder künstlerischer Be
deutung leihen, sondern die zu schützenden Straßen müssen
bestimmt in ihm bezeichnet werden, und vom Schutz der
Umgebung dieser Straßen ist nicht die Rede. Diese beiden
Umstände haben, wie es scheint, zunächst zu der Auf
fassung Veranlassung gegeben, als ob erhöhte Rücksicht auf
das künstlerisch bedeutsame Straßen- oder Stadtbild nur von
Bauten verlangt werden könnte, die an den in den Orts
gesetzen bestimmt bezeichneten Straßen selbst errichtet
werden, während die städtebaukünstlerischen Elemente, die
In ihren Beziehungen zu der bestimmten Straße, deren schön-
heitlichen Wert überhaupt erst ausmachen, nicht geschützt
werden könnten. Die Folge dieser Annahme sind jene Straßen-
Totenlisten der Ortsstatute, die einen Teil der Straßen und
Plätze zu einem künstlerischen Scheindasein verdammen, da
sie ihnen Gesetze zur Erhaltung eines Eindrucks aufzwingen,
den sie zu gleicher Zeit zerstören, indem sie zulassen, daß
das geheimnisvolle Hin und Her von Schwingungen und
Beziehungen vernichtet werden, die jenen Eindruck hervor-
rufen.
Diese Auslegung des § 2 ist kaum richtig, denn sonst
wäre mit ihm allerdings nur sehr wenig gewonnen. Da der
Zweck des Gesetzgebers doch nur der gewesen sein kann,
jene Wirkungswerte, auf denen der künstlerische Eindruck
einer Stadt beruht, zu erhalten, so muß das Gesetz auch
unter diesem Gesichtswinkel ausgelegt werden. § 2 lautet:
„Durch Ortsstatut kann für bestimmte Straßen und Plätze
von geschichtlicher oder künstlerischer Bedeutung vorge
schrieben werden, daß die baupolizeiliche Genehmigung zur
Ausführung von Bauten und baulichen Änderungen
zu versagen ist, wenn dadurch die Eigenart des Orts- oder
Straßenbildes beeinträchtigt werden würde.“ Schutzgegen
stand ist demnach die Eigenart eines Orts- oder Straßen
bildes. Dies wird festgesteilt durch die bestimmt bezeichnete
Straße. Zu seinem Schutze kann die Ausführung beein
trächtigender Bauten verboten werden. Daß hiermit nur
Gebäude an der bestimmt bezeichneten Straße gemeint seien,
geht aus dem Gesetz nicht hervor. Dies würde auch dem
Zweck des Gesetzes entgegen sein,, da, wie oben ausgeführt,
die Eigenart eines Straßenbildes eben sehr oft von Gebäuden
oder Anlagen abhängig ist, die nicht an der in Betracht
kommenden Straße liegen, und der Schutz der Eigenart der
Straße zum größten Teil auf den Schutz jener Gebäude oder
Anlagen beruht. Meines Erachtens umfaßt die Ausdrucks
weise des Gesetzes alle für das Straßenbild städtebaukünst
lerisch wertvollen Elemente, so daß das Gesetz in dieser
Hinsicht durchaus genügt.
Die Ortsstatute haben einen zweiten Mangel in das Gesetz
hineingetragen: Sie haben statt „bestimmte Straßen“ „be
stimmt genannte“ gelesen, während doch nur „bestimmt
bezeichnete“ gemeint sein werden. Denn es muß doch ge
nügen, wenn das Ortsstatut die zu schützenden Straßenbilder
so deutlich macht, daß keine Rechtsunsicherheit entsteht.
Die wird aber nicht dadurch allein vermieden, daß eine
endlose Liste von Straßennamen das Ortsstatut zu einem
dickleibigen, oft nur unter großen Schmerzen zur Welt zu
bringenden Ungetüm macht. Allerdings wird die nament
liche Aufführung einzelner Straßen nicht immer ganz zu
umgehen sein, für die Regel wird aber die klare Einsicht in
die künstlerischen Bestandteile des Stadtbildes jenen der Stadt
oder einem bestimmten Stadtteil eigentümlichen Zusammen
hang von künstlerisch (oder geschichtlich) bedeutsamen
Straßen und Plätzen erkennen lassen, und die Möglichkeit
gegeben sein, diesen Zusammenhang durch Bezeichnung
seiner konstruktiven Elemente in dem Ortsstatut deutlich
zu machen. Wie dies im einzelnen Falle zu geschehen hat,
kann bei der erwähnten mannigfaltigen und verschieden
artigen Erscheinung des Kunstwerkes „Stadt“ hier nur durch
allgemeine Hinweise angedeutet werden. Die im folgenden
gegebenen einzelnen Beispiele sollen daher nur einige oft
wiederkehrende typische Ausgangspunkte feststellen, von
denen aus das Gerippe schutzbedürftiger Straßensysteme