DER STÄDTEBAU
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tracht gezogene, jedoch mit einem jener schematischen
Stadtpläne, wie sie ausgangs des vorigen Jahrhunderts ent
standen sind, und denke sich in einen solchen Plan 21 zum
Teil sehr bescheidene Kirchen „hinein komponiert“. Wieviel
annehmbare Städtebilder würden hieraus wohl entstehen?
Sicher nicht die große Anzahl, die Alt-Erfurt aufweist. Es
müssen also wohl noch andere Gründe mitwirken, welche
die Erfurter Kirchen so vorteilhaft im Stadtbild erscheinen
lassen.
Ein Blick auf den Stadtplan (Tafel 1) wird uns lehren,
daß es zunächst der Mangel an Schematismus sein wird,
der hier wie bei allen älteren Stadtanlagen es ermöglicht,
den bedeutenden Bauwerken vorteilhafte Plätze anzuweisen;
vorteilhaft inbezug auf die Sichtbarkeit des Bauwerkes von
mehreren Seiten. Wenn es galt, eine Kirche innerhalb eines
ebenen Stadtgebietes von verschiedenen Seiten zur Er
scheinung zu bringen, so hatten die Städtebauer des vorigen
Jahrhunderts im wesentlichen dasselbe Rezept, die Auf
stellung des Bauwerkes in der Mitte eines Platzes, die ein-
mündenden Straßen in der Richtung auf das Bauwerk.
Diese „Normalsituierung“ erfordert für jede Kirche einen
besonderen Platz. Den Erbauern der mauerumgürteten
Städte des Mittelalters stand aber — man möchte sagen;
Gott sei Dank — nicht so viel Platz zur Verfügung, Das
zeigt deutlich die nachstehende Übersicht der hier in be
tracht gezogenen Kirchen und Türme.
Übersicht.
Entste-
| |
No.
Bezeichnung
hungs-
zeit
Lage des
Grundstückes
Lage des
Baukörpers
« - 5 u V
" V V S X
(/J £
Jahrh.
Zahl
von
die
liilc
1
2
Dom ] zus. eine
Severi /Baugruppe
i2.—15.
I3-—15-
dreiseitig frei
Jl ff
einseitigangeb.
(Kreuzgang)
allseitig frei
1-
3
Schottenkirche
n —15-
einseitig frei
ft f>
I
4
Predigerkirche
13*— 1 5*
zweiseitig frei
einseitigangeb.
4
5
Barfüßerkirche
13.—!4-
j» ”
allseitig frei
5
6
Reglerkirche
12.
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ff >9
3
7
Augustinerkirche
13-—15-
ff 9%
einseitigangeb.
(Kreuzgang)
4
8
Kaufmannskirche
13*
allseitig frei
(erst in neuerer
allseitig frei
4
Zeit)
9
Allerheiligenkirche
13.
dreiseitig frei
einseitigangeb.
6
IO
Michaeliskirche
14.
zweiseitig frei
»> >»
4
XX
Andreaskirche
15-
ff ff
allseitig frei
4
12
Wigbertikirche
J5-
dreiseitig frei
einseitigangeb.
3
13
Neuwerkskirche
18.
zweiseitig frei
allseitig frei
5
14
Martinikirche
15.
99 99
einseitigangeb.
3
15
Lorenzkirche
*5-
99 ff
allseitig frei
2
16
Egidienkirche
14.
einseitig frei
einseitig frei
8
17
Nicolaiturm
14.
—
—
5
18
Johannisturm
iS-
—
—
6
*9
Bartholomäugturm
JS*
—
2
20
Paulsturm
15.—18.
—
—
3
31
Georgsturm
14.
—
4
zusammen
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Nur eine einzige dieser Kirchen ist allseitig frei, sie Ist
es aber erst in neuerer Zeit unter dem Zwange des wachsenden
Verkehrs geworden. Alle übrigen Bauwerke sind inbetreff
ihres Grundstückes nur ein-, zwei- oder dreiseitig frei,
d, h. von Straßen oder Plätzen begrenzt; ja, selbst der
Baukörper der Kirche ist in der Regel nicht frei, sondern
meistens angebaut. Wenn trotz der wenig freien Lage dieser
Kirchen ihnen im Gefüge der Straßen und Plätze eine so
vorteilhafte Lage gegeben werden konnte, so war dies freilich
nur möglich, weil fast alle Straßen gekrümmt sind oder
sonstige Richtungsänderungen aufweisen. Dadurch erscheint
der Kirchturm selbst bei solchen Straßen oder Gassen als
malerische Überschneidung, die überhaupt nicht an der
Kirche vorbeiführen, sondern schon vorher in eine Haupt
straße einmünden.
Aus der vorstehend wiedergegebenen Übersicht geht
aber noch etwas anderes hervor. Es ergibt sich die über
raschende Tatsache, daß die 21 Türme im Verein mit den
anliegenden Straßen, Plätzen usw. gegen 80 verschiedene
Stadtbilder ergeben. Durchschnittlich erscheint also jede
Kirche nach vier Seiten hin im Stadtbild. Welch eine weise
Sparsamkeit liegt hierin verborgen! Mit wenig Mitteln werden
vier Straßenzüge aus dem Alltäglichen herausgehoben, er
halten eine Bereicherung der Umrißlinie und ein reizvolles
Gepräge, das in gleich wirkungsvoller Weise auch durch
die kostbarsten Bauten an den Straßenwänden nicht erreicht
werden könnte.
Um nur ein Beispiel herauszugreifen, erscheint der
schlanke Turm der Allerheiligenkirche (No. 9 der oben
stehenden Übersicht) in sechs verschiedenen Straßenbildern
(Tafel 69). Wohl sind diese Straßen an und für sich von
malerischer Wirkung. Aber nur die Bereicherung durch
den im Bild erscheinenden Turm erhebt sie zum Range
von Städtebildern.
Und wodurch ist diese sechsfache städtebauliche Aus
wertung der an sich ganz schmucklosen Kirche erreicht
worden? Die Standpunkte, von welchen aus die Bilder ge
zeichnet wurden, sind im Lageplan (Textbild 3) eingetragen.
frt/pefrm -
J)a/i
Der Turm steht hier
nach im Schnittpunkt
der günstigsten Blick
richtungen. Es ist also
die geschickte Wahl der
Lage des Turmes, die
auf der Grundlage eines
organisch erwachsenen
Stadtgebildes es ermög
licht, einer Vielheit von
Straßenzügen ein be
deutendes Gepräge zu
geben.
Es wird eingewen
det werden können, daß p finerfri/fpe;/-fp'nj/e mit Umgebung. UUGQ
all dies lediglich dem Abb
Zufall zu verdanken
sei. Man könnte den
Einwand gelten lassen, wenn es nur diese eine Kirche wäre,
die im Stadtplan eine so günstige Lage einnimmt. Das
oben aufgestellte Verzeichnis und ein genaueres Studium
der örtlichen Verhältnisse lehrt aber, daß die meisten der
Kirchen in ihrem Bezirke jeweils die im obigen Sinne
günstigste Lage aufweisen. Nicht der Zufall ist es, der hier
Wunder gewirkt, ebensowenig wie vielleicht die Absicht
einzelner Erbauer die gedachte Richtung hatte. Es ist viel
mehr der künstlerische Wille ganzer Geschlechterfolgen,
die lebendige Kunstüberlieferung vergangener Zeiten hier
zum Ausdruck gekommen.
Die Stellung der Allerheiligenkirche
im Stadtplan von Erfurt.