DER STÄDTEBAU
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32:90 m messende, zweigeschossige Bau, in den von rück
wärts unmittelbar aus den Schiffen verladen werden konnte,
diente dem Tuchhandel. Nicht weit davon, um 1240 begonnen,
steht noch heute die Alte Halle, jetzt kurzweg Halle genannt,
ein unregelmäßiges, um einen Hof gelagertes Rechteck, ur
sprünglich von zwei Geschossen. Der Lagerraum für
Handelswaren betrug in der Alten Halle etwa 4200, in der
Wasserhalle etwa 5500 qm; er stand bei einer Gesamtfläche
von fast 10000 qm einer modernen Ausstellung nicht nach*
Das Verhältnis dieser Bauten zum Markt ist beachtenswert.
Dieser entstand vor den Toren der alten und neuen Bürg
auf einer Düne, die etwa 3—4 m über der Wasserfläche der
Kanäle liegt. Die verschobene Form der Alten Halle, die
unregelmäßige Einmündung der Straßen weist darauf, daß
nicht der Markt vor den beiden Hallen, sondern die Hallen
auf dem Markte entstanden: also nicht ein geplanter, sondern
ein gewordener Platz, bedingt durch die Anforderungen des
Handels. Der Markt selbst mit seinem Flächeninhalt von
immerhin noch 10000 qm diente diesem. War doch Brügge
seit dem 12. Jahrhundert zum Mittelpunkt namentlich des
Wollehandels von ganz Europa geworden, so daß bald alle
handeltreibenden Völker sich hier eigene Häuser errichteten.
So die Deutschen (Oosterlinge), die Engländer, Biskayer,
Schotten, Florentiner, Venediger, Genuesen, Spanier, Por
tugiesen.
Der Aufschwung zwang um 1127 zu neuen Stadt
erweiterungen. Der Hauptmarkt lag bisher außerhalb der Stadt.
Nun bezog man ihn und ein weites nach Westen und Süden
sich erstreckendes Gebiet in die Stadt ein. Die Mauern, die
hier aufgeführt wurden, standen teilweise noch zu Gheeraerts
Zeiten; der Graben hat sich heute noch erhalten.
Lag in dieser Umgestaltung schon ein großer Fort
schritt, indem die heranwachsenden Pfarrkirchen St. Salvator
und „Unsere Lieben Frauen“ nun in die Ummauerung
hineingezogen wurden, so entsprach es auch der wachsen
den Bedeutung der Stadt, deren Umkreis auf etwa 3,7 km
Lange gebracht wurde, während er vorher nur 1,35 km maß.
Eine weitere Ausdehnung erfuhr die Stadt um 1300.
Nun wurde sie zu einem ziemlich regelmäßigen Oval von
rund 6,9 km Umkreis. Man warf einen doppelten Graben
aus, den inneren durchschnittlich etwa 35 m, den äußeren
30 m breit, indem man den Boden stadtseitig als Wall auf
schüttete. Dieser Wall diente den Windmühlen als Standort.
Die Wassergleiche in den Kanälen steht etwa 5 m über
Meeresspiegel, das durchschnittene Gelände liegt 6—7 m
hoch. Bei einer ursprünglichen Tiefe des Grabens von etwa
3 m ergibt dies eine Bodenbewegung von nahezu 2 Millionen
Kubikmeter. Eine Ummauerung wurde nur etwa auf 2 km
Länge aufgeführt; dagegen entstanden neun mächtige Tor
burgen, Werke von ebenso starker Widerstandskraft wie
künstlerischer Schönheit. In all dem zeigt sich eine Kraft
des Bürgertums, eine Großartigkeit der städtischen Organi
sation, die sich sehr wohl mit dem Wirken moderner Städte
vergleichen kann.
Freilich erfüllte die Stadt den gewaltigen Raum nicht,
den die Wälle umschlossen. Während im Innern viel
geschossige Häuser sich dicht drängten, war nun gegen die
Wälle zu nach allen Seiten reichlich Platz für Gärten. Man
konnte auch dem Freitagsmarkt eine Grundfläche von etwa
23000 qm geben, also einen der größten Plätze des Mittel
alters schaffen — auf dem jetzt der Bahnhof steht. Wie
durch die neuen Wälle vorstädtische Pfarreien in die Stadt
einbezogen wurden, so auch Landsitze. Man sieht bei
Gheeraert, und daher auch auf meinem Plane, solche, die
von Gräben umzogen nur aus einem turmartigen Gebäude
bestehen; andere, die sich an ummauerte Höfe legen, ganz
ähnlich den Landsitzen, wie man sie auch jetzt noch im
flachen Lande findet. Die Anordnung läßt deutlich erkennen,
daß sie einst in freiem Gebiet standen und dort zur Ver
teidigung eingerichtet waren. Nicht minder wurden Klöster
und früher vor den Toren liegende Krankenhäuser nun in
die Stadt eingefügt: Gebiete wie das der Eeckhout-Abtei
und der St. Ägidiusgemeinde waren wahrscheinlich schon
vor der Eingemeindung durch Gräben für sich abgeschlossen
worden. Es handelte sich also in jedem Fall der Stadt
erweiterung darum, schon Im wesentlichen erschlossenes
Bauland aufzunehmen. Nur in dem Gebiet zwischen Stein
hauerdamm und Minderbrüderkloster erkennt man eine plan
mäßige Aufteilung der Grundstücke. Mithin erweist sich
die Stadt auch überall als eine „gewachsene“. Es sind die
Straßenzüge fast durchweg durch die Schritte der Wandeln
den angelegt, nicht geplant, wie dies unverkennbar von der
Umwallung anzunehmen ist. Wenn also im 13. Jahrhundert
fünfzig neue Straßen gebaut wurden, wie die Berichte sagen,
so handelte es sich wohl nur um die Herstellung der Straßen
decke, nicht um die Auslegung neuer Linien, zum mindesten
nicht von Hauptlinien.
Man kann somit auch sehr gut ersehen, wie sich die
Hauptzugangswege gestalteten und wie das Land zwischen
diesen aufgeteilt wurde.
Entscheidend ist das Gelände und die aus diesem sich
ergebende Anlage der Befestigung und der Tore. Von Gent
her, also von Südosten, führt der „Alte Genter Weg“ in sehr
eigenartigen Krümmungen, die ihren Grund haben müssen;
auch noch der „Neue Genter Weg“ weist nicht geradezu auf
den Markt. Beide vereinigen sich mit dem Koortrikschen
Weg (Katharinenstraße), ehe sie zwischen Johannishospital
und Frauenkirche die Stadt des 12. Jahrhunderts betreten.
Das Land, das diese Straßen durchschneiden, liegt tief. Dort
tritt auch der nach Gent führende Kanal in die Stadt ein, sich
verbreiternd zu einem See, dem Minnewater. Dies Wort be
deutet wohl Binnenwasser, nicht Liebeswasser; die franzö
sische Bezeichnung lac d’amour ist irreführend. Noch heißen
einige Straßen nach der Marsch, die sich dort ausdehnte.
Alte Schleusen stauen das Minnewater und die Nachbarkanäle
an, die etwa 5,6 m über dem Meeresspiegel liegen, während
die die Stadt durchziehenden Wasserarme auf der Höhe von
4,9—4,8 m liegen. Am anderen Ende der Stadt befindet sich
eine zweite Schleuse, unterhalb der nach der See führende
Kanal, die Dammesche Fahrt, der auf 4 m herabfallt. Von
Südosten durch das Bouverietor und das Schmiedetor führen
die Zugangswege etwa der gleichen Stelle zu, nämlich der
höher gelegenen, auf einem „Sande“, also der alten Düne
liegenden Stadt des 12. Jahrhunderts. Dje Südsandstraße
und Nordsandstraße sowie die Steinstraße sind die höchsten
Erhebungen der Stadt, 9—10 m über Meer. Dagegen heißen
Straßen, die an dem Stadtgraben im Westen liegen, heute
noch Moorstraßen. Die damalige Befestigung faßte also die
Düne zusammen, die sich an die beiden „Burgen“ nach
Süden und Westen anschloß und die beiden Hauptpfarr
kirchen, die Frauen- und Salvatorkirche, trug. Auch das
alte Nordviertel liegt etwa 8 m über Meer, während die
Vorstädte ringsum um gut einen Meter niedriger liegen. Es
handelte sich also bei der Stadterweiterung von 1300 ganz