DER STÄDTEBAU
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meisten von uns getan haben, den wirtschaftlichen Be
dingungen auf den Grund zu kommen suchen, denen die
verschiedenen Formen der Stadtbildung und der Stadt
erweiterung ihre Entstehung verdanken und ebenso den
Verwaltungsmaßnahmen, die sie hervorgerufen oder be
einflußt haben. Wenn wir dann diese Grundlagen mit
denen vergleichen, auf denen unsere heutige Wohnungs
herstellung beruht und von denen sie geleitet wird, dann
werden wir vielleicht klarer sehen, woran es uns fehlt,
warum es unseren neuen Stadtteilen noch so sehr an künstle
rischer Kultur gebricht, und welche Mittel es gibt, um
das Übel an der Wurzel zu packen und nicht nur seine
äußere Erscheinungsform zu beeinflussen.
Für solche Bemühungen eröffnet ein Buch von Professor
Rudolf Eberstadt durchaus neue Gesichtspunkte, das er
nicht ohne Bedeutung „Neue Studien über Städtebau
und Wohnungswesen“*) genannt hat. Der Verfasser
hat sich darin zur Aufgabe gestellt, das Wohnungswesen
in zwei voneinander sehr verschiedenen Gebieten zu unter
suchen, in denen es in durchaus verschiedener Form
auftritt, die aber doch miteinander vergleichbar sind, weil
sie zweierlei gemeinsam haben: Eine Bevölkerung von
vorwiegend germanischer Abstammung, so daß nicht so
starke Rassenunterschiede zu berücksichtigen sind, wie
etwa zwischen England und Italien, und eine lebhafte
Industrie, die seit Jahrzehnten bedeutende Volksmassen zu
sich herangezogen hat. Belgien und Wien sind die beiden
Gebiete, denen Professor Eberstadts Studium galt; ihnen
hat er vergleichende Betrachtungen über die deutschen
Verhältnisse angefügt. Das Wohnungswesen hat sich in
beiden ganz verschieden entwickelt. In Belgien finden wir
das kleine Haus vorherrschend, ein- oder zweigeschossig,
4 bis 6 m breit und eine Wohnung von 2 bis 4 Zimmern
enthaltend. Zweiwohnungshäuser bilden schon die Aus
nahme. Häufig sind die Häuser an Privatstraßen oder
Wohnhöfen errichtet, die ihnen eine ruhige, vom Verkehr
abgeschlossene Lage gewährleisten und die denkbar ge
ringste Belastung des Baulandes mit Straßenkosten ge
statten. Trotz des starken Anwachsens der Bevölkerung
scheint die Wohnungsherstellung mit ihr gleichen Schritt
gehalten zu haben, denn die Mietpreise dieser Häuschen
sind für unsere Begriffe erstaunlich billig: In der Industrie
stadt Gent z. B. beträgt der Mietpreis für ein Haus von
drei Zimmern, Küche, Keller und allem Zubehör 169 bis
208 Franken im Durchschnitt jährlich. Dabei sind die
Grundrisse durchaus gut, wenn auch die einzelnen Räume
von bescheidenen Abmessungen sind.
In Wien dagegen herrscht, wie in fast sämtlichen Groß
städten Deutschlands, die Mietskaserne, die durchweg
nicht an schmalen bescheidenen Wohnstraßen, sondern an
aufwändig hergestellten Straßen von 25 bis 30 m Breite
liegt. Man glaubt dort, daß es nicht möglich sei, billige
Kleinwohnungen anders als in dieser Form zu errichten.
Eberstadt führt einzelne Beispiele von kleinen Wohnungen
vor, die aus einem Zimmer und Küche bestehen. Sie
liegen im Vordergebäude und Hofflügel eines großen Hauses
und sind alle von einem langen, mit Fenstern versehenen
Gang aus zugänglich, der sie mit dem in der Mitte liegenden
Treppenhaus verbindet. Von diesem Gang gelangt man
*) Neue Studien Uber Städtebau und Wohnungswesen von Professor
Dr. Rud. Eberstadt. Jena. Verlag von Gustav Fischer. 1912.
unmittelbar in die sehr kleine Küche, die nur von ihm
durch eine Glastür Licht und Luft empfängt. Hinter der
Küche liegt dann das Zimmer, das unmittelbar ins Freie
führende Fenster hat. Die für mehrere Wohnungen
gemeinsamen Aborte liegen ebenfalls an diesem Gange
und werden durch einen kleinen Lichthof beleuchtet und
entlüftet. Dieser vorgelagerte Korridor ist typisch für die
Wiener Kleinwohnung, und dabei kosten diese Wohnungen
324 bis 336 Kronen jährlich, also ungefähr einhalb mal so
viel als in Belgien ein kleines Haus mit 3 bis 4 Räumen.
Woher erklären sich diese ungeheuren Unterschiede in
der Art und den Preisen der Kleinwohnung? Zunächst zu
einem geringen Teil aus den niedrigeren Arbeitslöhnen, die
in Belgien gezahlt werden. Es dürfte dies vielleicht einen
zehnten Teil des wirklichen Unterschieds im Preise aus
machen. Im übrigen sieht Eberstadt den Hauptgrund für
die günstigen Verhältnisse Belgiens in den gesetzlichen Ein
richtungen des Landes. Das belgische Wohnungsgesetz
von 1889 ist der Entwicklung des Kleinwohnungswesens
ungemein förderlich gewesen. Die Wohnungsausschüsse,
die auf Grund dieses Gesetzes in jedem Verwaltungsbezirk
gebildet worden sind, haben das Wohnungswesen im ganzen
Lande günstig beeinflußt. Eine national-belgische Einrich
tung von nicht geringer Tragweite ist das Enteignungs
gesetz, das den Behörden das Recht der Enteignung nicht
nur für bebaute Bezirke zum Zwecke der Säuberung und
Umgestaltung, sondern auch für die Sadterweiterung all
gemein zum Zweck der Baulanderschließung verleiht.
Dieses Enteignungsgesetz ist aus französischen Anregungen
hervorgegangen, jedoch gerade, was den wichtigsten Punkt,
die Baulanderschließung für Stadterweiterungszwecke be
trifft, weit über das Vorbild hinaus gewachsen. Von größerer
Bedeutung als dieses Gesetz sind für das Wohnungswesen
die Einrichtungen des Realkredits geworden, die das
Entstehen einer großen Anzahl von Kreditgesellschaften,
Baugesellschaften und Kreditgenossenschaften hervorriefen
und beförderten. Diese Gesellschaften und Genossenschaften
befassen sich ganz ausschließlich mit der Beleihung oder
mit dem Bau kleiner Häuser unter sehr günstigen Be
dingungen, die den Erwerb eines Kleinhauses dem Arbeiter
ermöglichen. Es würde zu weit führen, die Einzelheiten
dieser Regelung des Hypothekenwesens hier näher zu er
örtern.
Neben diesen Einrichtungen befördert ein weitverzweigtes
Netz von Eisenbahnen und ein sehr ausgebildetes System
von Abonnementskarten die Ansiedelung auf billigem Lande
außerhalb der großen Städte. Die Eisenbahnfahrt des
Arbeiters von und zu seiner Arbeitsstelle ist daher in
Belgien zu einer Volkssitte geworden, die für das Wohnungs
wesen sicherlich große Vorteile hat, auf das Familienleben
allerdings vielleicht hier und da nachteilig einwirken mag.
Ein wichtiges Ziel für den neueren Städtebau ist es,
von dem Schema des Straßennetzes loszukommen und zu
günstigen, wirtschaftsgemäßen Aufteilungsformen zu gelangen.
Eberstadt gibt hierfür verschiedene Mittel und Wege an.
Besonders eingehend wird der „Wohnhof 4 behandelt, der
eine empfehlenswerte, auch für den Bodenbesitzer vorteil
hafte Form der Bodenerschließung darstellt. Wir sehen,
daß eine der besten planmäßigen Anlagen dieser Art — dem
Jahre 1513 entstammt, wie denn der Wohnhof für einzelne
ältere Städte geradezu eine typische Form der Aufteilung
von Wohngelände gebildet hat.