DER STÄDTEBAU
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weder vollständig gerade oder in leichter Krümmung,
immer aber in straffer Richtung 'auf das nächste Ziel hin
geführt.
In dieser Hinsicht zeigt die Gartenvorstadt einen be
merkenswerten Gegensatz zu unserem neueren System der
Straßenführung. Die Gegnerschaft wider das alte „Schema**
der geraden Straße hat bei uns eine Moderichtung der
gekrümmten Straße hervorgebracht, die nicht minder
„schematisch“ zu werden droht als ihre Vorgängerin. Die
Krümmung ist bei manchen Stadterweiterungen zum Selbst
zweck und zur Schablone geworden, die die Aufgabe der
Technik des Bebauungsplanes aus den Augen verloren hat.
Die krumme Straße ist gut, wo sie im Gelände und in der
Verkehrstechnik begründet ist, aber zur Künstelei darf sie
nicht werden. Eines der besten Beurteilungsmittel für die
Tauglichkeit eines Bebauungsplanes scheint mir darin zu
liegen, daß die Straßenführung eine leichte Orientierung
gestattet. In dem sogenannten Straßengewirr der mittel
alterlichen Stadt wird sich derWanderer fast immer zurecht
finden. In der neueren Stadtanlage ist es mir dagegen regel
mäßig begegnet, daß ich, trotz guter Übung in Städtebesich
tigungen, jede Orientierung im Straßennetzverloren habe und
keinerlei Plan oder Richtung in der Straßenführung erkennen
konnte. Die Gegnerschaft wider das alte Schema richtete
sich nicht gegen die gerade Linie im Städtebau, sondern
gegen deren gedankenlose, unkünstlerische Anwendung.
In dem Bebauungsplan der Gartenvorstadt ist die
straffe Richtung in der Linienführung zum Ausdruck ge
bracht, jedoch unter Verwendung künstlerischer, bau
technisch vorteilhafter Wirkungen. Gehen wir nun zu den
einzelnen Mitteln über, durch die die Erbauer das Straßen-
bild zu beleben suchten, so ist zunächst zu erwähnen die
perspektivische Straßenanlage. Einzelne Straßen sind bei
schnurgerader Richtung derart angelegt, daß die Straßen
wände abschnittweise, gleich den Staffeln der Theater
kulissen, näher zusammenrücken, wodurch, insbesondere
bei leicht ansteigendem Gelände, eine treffliche Straßen
perspektive erzielt wird. Die Wirkung ist aus der Garten
architektur des Barock bekannt und hat in unserm Bei
spiel eine gute Verwendung gefunden. Die von dem kleinen
Teich ausgehende Straße „Temple Fortune Hill“ zeigt in
ihrem Verlauf die perspektivische Staffelung des Straßen
körpers und der angrenzenden Bauwerke. Für die archi
tektonische Gestaltung ist diese Anordnung recht wirksam.
An zweiter Stelle ist erwähnenswert die reichliche An
wendung der alten Sackgasse in einer dem neuzeitlichen
Städtebau entsprechenden Form. In einer ganzen Reihe
von Abwandelungen und Wiederholungen ist die Sackgasse
eingefügt und überall mit ansprechender Wirkung. Diese
Gassen erfüllen} auf dem Hauptgebiet unseres neueren
Städtebaues, der Anlage reiner Wohnbereiche, zwei wichtige
Aufgaben: tiefe Grundstücke in einfachster Form aufzu
schließen und den durchgehenden Verkehr von den Wohn
lagen fernzuhalten. Die Architekten der Gartenvorstadt
haben diesen doppelten Zweck erreicht, indem sie von den
Hauptwegen aus in das aufzuteilende Gelände kurze Gassen
hineingetrieben haben, die lediglich als Zugang zu den sie
umschließenden Gebäuden dienen. Der Bedeutung der
verkebrslosen Wohnstraße und Aufleilungsstraße ist in
meinem „Handbuch des Wohnungswesens“ eine so aus
führliche Darstellung gewidmet, daß ich wohl auf die Aus
führungen S. 186 ft. verweisen darf, ln der dort wieder
gegebenen Abbildung 31 (a, a, O. S. 189) finden wir übrigens,
wenn wir sie auf den Maßstab großer Weiträumigkeit ver
breitern, das alte deutsche Vorbild für die Hofgassen der
neuen Gartenvorstadt.
Ferner sind noch die Straßengabelungen zu nennen,
als deren wirkungsvollste mir der Hampstead- und Wills-
fieldway erscheint. In ihrer Einfachheit ist die Anlage
zugleich trefflich berechnet für die vorteilhafte Stellung der
Hausbauten, die hier auf günstige Weise zur Geltung ge
langen.*)
Wenn wir im voraufgehenden eine Reihe bemerkens
werter Grundzüge der Straßenführung besprochen haben,
so gelangen wir jetzt zu einer Einzelheit, die den Zusammen
hang zwischen Bebauungsplan und Gebäudearchitektur
besonders deutlich zeigt. Eine in der Gartenvorstadt über
aus häufig wiederkehrende Anordnung ist die Schaffung
rechteckiger Freiflächen, die auf drei Seiten von Gebäuden
umschlossen sind (vgl. das Schema im Textbilde). Diese
Anlage in Form des an einer Seite offenen Rechtecks kehrt
so häufig wieder, daß sie fast als typisch für denjenigen
Teil der Gartenvorstadt gelten kann, in dem der geschlossene
Reihenbau zur Anwendung gelangt ist.
Um es gleich hervorzuheben: die besondere Wirkung
dieser Bauweise liegt nicht darin, daß sie eine Platzanlage
abseits der Straße schaffen will; sondern vielmehr darin,
daß die den Platz umgebenden Gebäude durchweg ein
heitlich behandelt sind. Wir nähern uns hiermit wiederum
der Wirkung, den der französische Städtebau zu Ausgang
des 16. Jahrhunderts herausgearbeitet hat: die einheitlich
umbauten „places a Symmetrie“, an die sich bald die
symmetrisch behandelten Straßenzüge anschlossen.**)
Als Platzgestaltung ist die in der Gartenvorstadt durch
geführte Anlage des offenen Rechtecks äußerst befriedigend.
Die Raumwirkung entspricht den Forderungen des neueren
*) Vgl. über die Straßengabelung „Handbuch“ S. 18a ff.
••) Vgl. „Handbuch“ S. 44. Ich bemerke, daß die erste Heraus
bildung der Symmetrie im Städtebau noch der Renaissance angehßrt; die
allgemeine Ausdehnung auf die einzelnen Straßen fällt allerdings unter das
Barock. Vgl. „Handbuch“ S. 49, letzter Absatz.