DER STÄDTEBAU
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Zugleich leuchtet aber auch ein, daß ein im Entstehen
begriffenes Gesamtbild nur im ersteren Falle sich wirklich
schön gestalten kann; denn bei diesem Sehvorgange wird
alles berücksichtigt, was im Bilde, im Gesichtsfeld über
haupt erscheint, im letzteren Falle wird nur ein Teil von
diesem Ganzen der Betrachtung unterzogen, der wohl für
sich seine eigene Schönheit erhalten kann, im Zusammen
hänge mit seiner Umgebung aber ins Auge gefaßt, doch
als ein das Ganze störender Teil dann empfunden werden
muß, wenn die Nebenteile im Gesamtgesichtsfeld oder er
selbst zu diesen nicht zufällig in Harmonie treten.
Auf diese letztere Art können also ebensogut anziehende,
wie abstoßende Bilder in die Erscheinung treten. Ist das
Geschaute schon vorher als ein Ganzes organisiert, so sitzt
im Bilde schon der Keim dafür, daß es anziehend werden
kann; im zweiten Falle ist das Gelingen eines guten Bildes
dem Zufalle überlassen, der uns aber nicht immer den
Gefallen tut, einzutreten. Wenn vorhin vom Organisieren
gesprochen wurde, so soll damit nicht durchaus eine be
wußte Handlung vorausgesetzt sein. An den schönsten
Städtebildern haben ja die verschiedensten Zeiten geformt,
und es kann deshalb ein bewußt organisierender Einzel
wille nicht vorausgesetzt werden. Die langsame Entstehung
dieser Schönheiten kann nur erklärt werden, wenn man
ein ausgesprochenes Bedürfnis unseres Sehorgans annimmt,
das durch Geschlechtsfolgen hindurch stets gleichbleibt,
immer wieder nach Erfüllung verlangt, und wir werden
nicht fehlgehen, wenn wir als ein solches Bedürfnis das
unbewußte Verlangen nach wohlgefälliger Ordnung an-
sehen. Ein solcher für das Wohlbehagen des Sehorgans
vorauszusetzender Ordnungssinn ist auch ganz unabhängig
vom Zeitgeschmäcke. Die treibenden Faktoren dieses Ord
nungssinnes sind dieselben, wie sie dem Werdeprozeß der
ganzen organischen Welt innewohnen müssen, gehören
also unserem Empfmdungsleben an und können sich nur
dann rein entfalten, wenn dabei unsere intellektuelle Seite
möglichst ausgeschaltet ist. Unser Verstandesleben kann
uns im reinen Schauen manchen Streich spielen, und es ist
ihm allein zuzuschreiben, wenn man heute bei einem
Schauen mit Ausnahmen angelangt ist. Was muß heute
alles als nicht vorhanden betrachtet werden, um den Ge
nuß am Schönen nicht zu stören. Wir dürfen nur an die
Oberleitungsnetze unserer Trambahnen denken, an unsere
die Luft durchziehenden Telephondrähte mit ihren un
vermeidlichen Ständern auf den Dächern, an die vielen
unverkleideten Feuermauern, die uns entgegenstarren, an
häßliche hohe Kamine usf., um uns dessen bewußt zu
werden. Alle diese Dinge können nicht so ohne Weiteres
weggedacht werden da, wo es sich, wie hier, um ein reines,
durch andere Einflüsse ungetrübtes Schauen handelt.
Einzig und allein das Wohlbehagen des Auges an dem zu
Schauenden soll maßgebend sein; hier gibt es kein Her
vorholen von Einzelheiten.
Wir empfinden beim reinen Schauen nur dann Wohl
behagen, wenn wir uns in dem Erschauten sofort zurecht
finden; das bietet uns die Wahrung einer gewissen Einheit
in dem Erschauten. Jede Einheit setzt sich aber nun
wieder aus einer Vielheit zusammen oder umgekehrt, die
geschaute Vielheit soll sich zu einer höheren Einheit zu
sammengeben. Das geschieht der Hauptsache nach dann,
wenn die Teile sich zunächst in Herrschende und Be
herrschte voneinander sondern und nebenher doch wieder
in Beziehungen treten, die man im allgemeinen mit Ahn-
lichkeits- und Köntrastbeziehungen kennzeichnen kann.
Auf diese Dinge näher einzugehen, ist hier nicht der Ort,
aber um mich genauer verständlich zu machen, seien
einige Beispiele eingeflochten. Eine Scheidung in Herr
schendes und Beherrschtes tritt z. B. ein, wenn die um
die Kirche gruppierten Häuser in ihren Abmessungen sich
zurückhalten und damit bescheiden dem wichtigeren
Kirchenbau unterordnen oder wenn eine öffentliche Garten-
anlage sich nicht als Ding für sich gebärdet, sondern in
die dienende Holle als Zubehör zu einem öffentlichen Ge
bäude sich gefällt. In beiden Fällen entstehen auch durch
Wechselwirkung die erwähnten Kontraste. Diese ergeben
sich aber auch in mannigfach anderer Weise, z. B. in dem
Gegensätze zwischen rauhen oder verzierten Flächen neben
glatten, in nur umrissenen, zu lang gestreckten Baukörpern,
Munsterplatz in Ulm — gegenwärtiger Zustand.
in der Abwechslung der Gebäuderichtungen, dem Wechsel
von Licht und Schatten und dem von Warm und Kalt der
Farben usf. Ähnlichkeiten treffen wir an in dem Auftreten
gleichgerichteter Baukörper, in der Wiederholung gleicher
Flächenfiguren durch Unterteilung größerer Flächen, in
der Wiederholung von ähnlichen Körperfiguren im Kleinen,
wie es z. B. die Laterne als kleines Abbild des Turmes
auf dem Turmhelm darstellt. All diesen Dingen ist das
Anknüpfen von Beziehungen des Einen zu einem Andern
gemeinsam und für unseren Fall das Wesentliche. Von
den vielen Beziehungen sind nun für Städtcbilder beson
ders diejenigen der Lagerichtung von großer Bedeutung.
Die Richtungen der Baukörper im Gefüge der städtischen
Bauten dürfen, wenn sie interessant wirken sollen, nicht
immer die gleichen sein, sondern sie müssen abwechseln,
und das tun sie stets ganz von selbst, wenn ihre Auf-