DER STÄDTEBAU
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ihrem schönen Buche „genius loci“ erzählt die Engländerin
Vernon Lee, wie sie ln einem älteren Teile der Stadt Augs
burg voll Entzücken das.früher entschwundene Deutsch
land, das Deutschland ihrer Liebe und Sehnsucht wieder
zufinden glaubte, das köstliche Land, in dem sich, wie sie
sagt, behagliche Prosa und zärtliche Schwärmerei auf
so besondere Weise vereinigen. Möge man dasselbe auch
in späteren Jahren von unserem Hessenlande sagen können!!
STÄDTISCHES UND LÄNDLICHES WOHNEN.
Von Dr. HANS SCHMIDKUNZ, Berlin-Halensee.
Seit wenigen Jahrzehnten hat sich in unserer Kultur
eine anscheinend kleine, doch weittragende Wandlung voll
zogen, die von den Beteiligten zwar unmittelbar gespürt
wird, aber noch nicht klar genug der Öffentlichkeit zum
Bewußtsein gekommen und auch noch nicht im litera
rischen Verkehre der Öffentlichkeit allzu häufig besprochen
worden ist. Sie bezieht sich vorläufig und scheinbar
allerdings nur auf die großen Städte.
Wir meinen den Zug des privaten Wohnens von den
Mittelpunkten der großen Städte weg an Ihre Peripherie
oder gleich ganz in ihre ländliche Umgebung hinein.
Immer zahlreicher werden die Fälle, daß wir zwar im
weiteren Sinn einer Stadt angehören, aber doch nicht in
ihr, vielmehr nur in ihrer Nähe, bestenfalls in ihren ab
gelegensten Teilen wohnen. Dieser immer weitergehende
Prozeß einer Dezentralisierung des Wohnens ist zugleich
ein sehr begreifliches Seitenstück zur Dezentralisierung
der Industrie, d. h. zu der Tendenz, die industriellen An
lagen nicht mehr in einer großen Stadt und womöglich
auch nicht mehr an ihren Aussenpunkten zu errichten,
sondern sie weit ins freie Land hinauszuschiebeh, wo die
Industrie sich bequem räumlich ausbreiten und wo sie
mit den Wasserkräften und dergleichen bequemer wirt
schaften kann, als dies innerhalb der städtischen Engen
und Pressungen möglich ist. Andererseits aber bedeutet die
Dezentralisierung des Wohnens gleichwie die der In
dustrie ein merkwürdiges Gegenstück zu der vielbeklagten
„Landflucht“.
Man sieht, das Thema hat seine Bedeutung sowohl
für die große Öffentlichkeit wie auch für die kleinsten
privaten Verhältnisse. Wo sollen wir wohnen, drinnen
oder draußen — und nahe draußen oder recht weit draußen?
Diese Frage tritt an uns wohl viel häufiger heran, als es
bei unseren Vorfahren der Fall war. Das jahrzehntelange
Wohnen einer Familie in ein und derselben Behausung
ist heutzutage eine Kuriosität geworden; wir Heutigen sind
meist in der nicht immer erfreulichen Lage, gar häufig
„umziehen“ zu müssen, auch wenn es sich nicht um Über
siedelung von der einen Stadt in die andere handelt. Und
gerade jener Zug nach außen, der uns heute beschäftigt,
vermehrt natürlich wieder die Menge der Umzüge, zumal
eine Wohnung, die vor kurzem noch „weit draußen“ lag,
jetzt vielleicht schon „tief drinnen“ in dem Häusermeere
liegt, das sich um jene Wohnung mit unheimlicher Schnellig
keit herumgeschlungen hat.
Aber aus noch manchen anderen Gründen wird die
Frage für uns brennend. Wir sind empfindlicher ge
worden in allem, was die Gesundheit angeht, sind sogar
trotz unserer Überkultur vielleicht verständiger und fein
fühliger für die freie Natur, als es unsere Vorfahren waren,
und als es heute noch manche Landbewohner sein mögen.
Dazu kommen die vielerlei kritischen Gedanken, mit denen
man das unabsehbare Anschwellen der Großstädte be
trachtet. Und nicht zuletzt spielt hier der Zug herein, die
Interessen weiter Kreise für politische Dinge von der
großen Politik abzulenken und auf die kleine hinzulenken,
d. h. auf die Kommunalpolitik, die uns ja unmittelbar am
meisten spürbar ist. So wird es allaugenblicks zu einer
sowohl persönlichen wie auch sozialen Frage: wo sollen
wir mieten, und wo sollen wir irgend welchen Mit
menschen, die uns danach fragen, das Mieten einer
Wohnung, u. U. sogar die Beschaffung eines eigenen
Heimes, anraten?
Dazu kommt aber noch eine neuerliche Kultur
strömung, die von England ausgeht, in unseren Landen
jedoch nur erst wenig Erfolg erzielt hat. Wir meinen die
sogenannte englische Arbeitszeit im Verhältnisse zur so
genannten deutschen. In den gemütlichen älteren Zeiten
des städtischen Lebens lag es buchstäblich nahe, daß der
berufstätige Mann mittags die paar Schritte zu seiner Woh
nung zurückmachte, um sich nicht nur eine erholende
Unterbrechung zu gönnen, sondern um sich auch seiner
Familie in Ruhe zu widmen, bis dann wieder die Nach
mittagsarbeit rief und vielleicht bis in den tiefen Abend
hinein dauerte. Diese Arbeitsverteilung mit einer längeren
Trennung der Hälften und mit der Hauptmahlzeit zwischen
ihnen scheint so naturgemäß zu sein, daß wir an ihrem
Vorzüge vielleicht gar nicht zweifeln würden, wenn wir
noch jene gemütlichen altstädtischen Verhältnisse besäßen.
Nun treten aber zwei neue Momente hinzu. Erstlich
machen wir immer mehr Anspruch darauf, uns den Abend
entweder für städtische oder auch für ländliche Genüsse
und Bildungsmöglichkeiten frei zu halten. Sodann wird
es uns mit der wachsenden Entfernung zwischen Wohn-
und Arbeitsstätte immer schwerer, ein und denselben,
vielleicht recht unschönen und jedenfalls nur geschäft
lichen Weg täglich viermal zu machen; die Verbringung
der großen Mittagspause fern von der Familie in der Nähe
der Berufsstelle ist mindestens eine etwas leere Sache.
Diese zwei Momente sind es nun hauptsächlich, die
für das englische System sprechen, bei welchem die Be
rufsarbeit durch keine größere Pause unterbrochen, sondern
vielmehr stetig bis zu ihrem möglichst frühen Ende durch-
geführt wird. Dies erspart einen zweimaligen Stadtgang,
verlängert uns den Tagesrest für ein Genießen oder Weiter
bilden und hat überdies noch den Vorteil, daß man seine
Dinge „in einem Aufwaschen“ erledigt, während bekannt
lich das Wiederanfangen in der etwas faulen Nachmittags
stimmung kräfteraubend und zeitvergeudend ist. Ein
Wohnen vollends in ländlicher Ferne wird durch die
deutsche Arbeitsverteilung beinahe unmöglich gemacht.
So ist es eine ganz wesentliche Bedingung für ein Erlöst