DER STÄDTEBAU
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EINE PLATZANLAGE FÜR GRAZ.
Von Architekt MAX STARY, Brünn und WALTER VON SEMETKOWSKI, Graz.
In unseren Ausführungen (siehe Jahrgang 1906 S. 29
und 47) über die Ausgestaltung des Kaiser-Franz-Josef-
Kais haben wir an mehreren Stellen den Zusammenhang
der Verbauung des Kais mit einer Platzanlage großen Stils
betont. Heute wollen wir uns mit dieser Anlage im be
sonderen beschäftigen. Der Weg, den wir einschlagen,
geht von der Besprechung des gegenwärtigen Bestandes
aus, führt uns auf den Entwurf und seine künstlerische
Veranlassung, sowie auf einige scheinbare Unregelmäßig
keiten der Anlage und schließt mit einem Hinweise auf
die Leichtigkeit seiner Lösung und deren Bedeutung für
die Weiterentwicklung der Stadt. Es sei gleich jetzt be
merkt, daß Einzelheiten der architektonischen Ausführung
nicht in Betracht gezogen werden sollen und nur die Grund
züge ihre Besprechung finden.
Der heutige Lendplatz (siehe den Lageplan Tafel 41) ist
eine Erweiterung der alten Verkehrsader, die mit der
Wiener Straße ins Weichbild der Stadt eintritt, den „Lend
platz“ bildet und durch die Mariahilferstraße in die Gries
gasse übergeführt wird; der „Griesplatz“ kann als sein
Gegenstück im südlichen Teile der Stadt gelten; er geht
in die Karlauer und Triester Straße über, die als Reichs
straße den südlichen Teil des Grazer Feldes mit der Stadt
verbindet.*) Der Lendplatz (so benannt nach den alten
in seiner Nähe gelegenen Floßländen) trägt heute noch
einen fast ländlichen Charakter an sich. Seiner Form
nach kann dieser Bestand auf den Namen eines Platzes —
dieser Ehrentitel sollte doch nur den allseitig geschlossenen,
atrienartigen Räumen zukommen — keinen Anspruch er
heben.
Der Lendplatz bietet mit seiner gegen Norden zu über
mäßigen Längenerstreckung (rund 400 m) kein anziehendes
Landschaftsbild und ist nur einigermaßen belebt durch
Baumpflanzungen, Ganz anders aber wird das Bild, wenn
wir unseren Standpunkt auf die Westseite des Platzes ver
legen, ungefähr an die Einmündung der Volksgartenstraße.
Das Massiv des Schloßberges mit den Felsen und Bäumen,
seinen alten und neuen Bauten und mächtigen Bastei
resten gibt einen Hintergrund ab, von dem sich die
niedrigen, alten, aber gemütlichen Häuser und eine Votiv
säule bestens abheben. Am stärksten jedoch wirkt die Masse
des Berges von der Höhe der Keplerstraße aus, eine Er
scheinung, die unwillkürlich den Gedanken wachruft, diese
Vorzüge in einer künstlerischen Komposition zu verwerten.
Den Kaibericht beschlossen wir mit dem Satze, daß
alles, was für Graz in architektonischer Hinsicht geschehen
kann, seinen Gipfelpunkt im Schloßberge wird finden
müssen, der bisher bei den baulichen Anlagen in seiner
nächsten Umgebung viel zu wenig Berücksichtigung ge
funden hat und als monumentaler Straßenabschluß noch
nicht verwendet worden ist.
Sehen wir uns den Berg näher an, so finden wir
seinen steilsten Abfall gegen den Murfluß zu an der West
*) Sehr interessant vom Standpunkte des Stadtplanstudiums, wie es
neuerdings Dr. Zeitler in einem Aufsatze „Vom künstlerischen Städte
bau“ („Zeitschrift für bildende Kunst“, Heft 4, Jahrg. 1906) anregt, Ist
ein Vergleich der alten von selbst gewordenen Verkehrswege mit den neuen
künstlich angelegten; wir kommen vielleicht gelegentlich auf dieses Thema
zurück.
seite; dieser Teil dient der Kaianlage und unserem Platze
als Hintergrund, wie wir im folgenden sehen werden; die
Nordseite — der Wickenburggasse zugewendet — liegt frei
und enthält Parkanlagen, die sich an der freien Nordost
seite wiederholen und mit dem angrenzenden Stadtparke
ein Ganzes bilden; die Süd- und Südostseite endlich ist
von den Häusern der Paulustor-, Spor- und Sackstraße
eingeschlossen und kommt nur an wenigen Stellen zur
Wirkung, besonders am Hauptplatze, dessen reizvollster
Teil der mit dem Bergblicke ist.
Es bleibt also für eine größere architektonische An
lage, die die Masse des Berges ln die Komposition ein
bezieht, einzig die Westseite übrig, auf der allein die
Forderungen der Wirksamkeit ihre Erfüllung finden können.
Die stärkste Massenwirkung des Berges wird entschieden
an einer Stelle eintreten, wo
1. der Berg seine größte relative Höhe hat,
2. der Berg seine größte Breitenerstreckung hat,
3. der Böschungswinkel am steilsten ist,
4. der Standpunkt des Beschauers möglichst nahe ange
nommen werden kann.
Alle diese Eigenschaften hat der Berg auf seiner Westseite;
der Standpunkt des Beschauers ist durch die Trennungs
furche des Murflusses bestimmt und auch die Möglichkeit,
der Masse des Berges die beste Begrenzung zu geben,
vorhanden.
Diesen Erwägungen folgend, wird zunächst eine
Drehung der alten Platzaxe um etwa 90° in Voschlag ge
bracht, um den Schloßberg zum Hintergründe zu haben.
Die Lage der neuen Platzaxe ist durch Punkt 2 der
ästhetischen Forderungen bestimmt: sie deckt sich am
besten mit der Symmetrale der durch die Punkte A und B
gegebenen Geraden, die die wirksame Breitenerstreckung
des Berges vorstellt. Diese ideale Axe OM durchschneidet
den unteren Teil der Keplerstraße mit dem Neubau der
Staatsoberrealschule und vielen neuen Privathäusern, kann
daher aus praktischen Gründen nicht angenommen werden.
Eine kleine Drehung der Axe aus dem rechten Winkel in
die Richtung ON tut der künstlerischen Wirkung keinen
Schaden. Dadurch kommen wir auf einen noch unverbauten,
freien Raum, der die Anlage sehr begünstigt. Was an Raum
erfordert, gewonnen und verloren wird, bringen zwei im
wirtschaftlichen Teile unseres Berichtes enthaltene Tabellen.
Bei der Betrachtung des Grundrisses (siehe Doppel
tafel 17/18, 1906 im zweiten Teile des Kaiaufsatzes) fällt uns
vor allem die große Tiefe und die trapezförmige Gestalt des
Platzes ins Auge. (Dessen Abmessungen: Nordfront 173 m,
Westfront 60 m, Südfront 190 m, offener Teil 77 m.)
Der Grund für die Tiefenerstreckung liegt in folgen
dem: Die Geschlossenheit des Platzes wäre eine tatsäch
liche, wenn man seine Nord- und Südwand bis an den
Berg selbst oder wenigstens bis auf Straßenbreite an
diesen vorschöbe. Da dies aber wegen der Murfurche
unmöglich ist, mußte die Geschlossenheit wenigstens für
den größten Teil des Platzes wieder hergestellt werden;
daraus ergab sich von selbst die Betonung der Tiefen
abmessung und ein gewisses Maßhalten in der Breiten
erstreckung. Das Vorrücken der Frontenden gegen den