DER STÄDTEBAU
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FLUCHTLINIENPLAN FÜR DAS BAHNHOFS
GELÄNDE IN WIESBADEN.
Von BORNHOFEN, Wiesbaden.
Die eben in vollem Gange befindlichen Arbeiten für
den Bahnhofs-Neubau in Wiesbaden, durch den die
getrennt liegenden drei Empfangsgebäude (der Rhein-, der
Taunus- und der Hess. Ludwigsbahnhof) vereinigt werden
sollen, lassen die Vollendung der umfangreichen Anlage
bestimmt Ende 1907 erwarten.
Durch die Verschiebung um etwa 800 m südlich von
den jetzigen Bahnhöfen wird eine Fläche von rund 10,5 ha
Bauland, von welchem dem Eisenbahnfiskus 7,3 und der
Stadtgemeinde 3,2 ha gehört, demnächst zur Bebauung
bereit gestellt.
Der Fluchtlinienplan für dieses freiwerdende Gelände
ist kürzlich endgültig festgesetzt worden; er ist das Er
gebnis langdauernder und schwieriger Verhandlungen jnit
der Eisenbahnverwaltung. Die Tafel 67 gibt den Straßen
entwurf zur Veranschaulichung wieder.
Für die Bearbeitung des Planes und dessen Beurteilung
mögen die nachstehenden leitenden Gesichtspunkte und
Erläuterungen genannt werden.
1. Die Lage und Gestaltung des neuen Empfangs
gebäudes war für die ganze Straßenanlage bestimmend. Der
Schwerpunkt bei der Grundrißanordnung liegt in dem öst
lichen Teil des Empfangsgebäudes, wo die große Haüpt-
halle mit den Ein- und Ausgängen und den Billetschaltern,
sowie die Räume für die Gepäckabfertigung usw. sich be
finden. Hier ließ es auch der Architekt nicht an Mitteln
fehlen, um durch wuchtige Massenentwicklung eine monu
mentale Wirkung zu erzielen; ein über 40 m hoher Uhr
turm flankiert die Nordostecke des Gebäudes.
An dieser Stelle wird der große Bahnhofsverkehr
zusammenfluten, hier vereinigen sich mehrere Linien der
Straßenbahn, hier streben Droschken und Wagen für Per
sonen und Gepäck, leer und beladen, hinüber und herüber.
Zur Aufnahme und gefahrlosen Bewältigung dieses Ver
kehres war ein großer Bahnhofs-Vorplatz notwendig. Seine
stattlichen Ausmaße von 165 m Länge und durchschnittlich
90 m Breite geben Gewähr für eine die Fahrrichtung
regelnde und denVerkehr sichernde Anordnung getrennter
Fahr- und Gehbahnen, auch noch Raum für Zieranlagen
und vom Verkehr unberührte Flächen, auf welchen die
schöne Badestadt ihre Gäste empfangen kann.
Wohl münden in den Platz von Norden und Osten
kommend drei sehr breite Straßen ein; es könnte das Ver
hältnis der Länge der geschlossenen Platzwand zur Straßen-
öffnung tadelnswert und den Charakter des Platzes störend
oder gar vernichtend genannt werden, doch konnte die
Rücksicht auf die örtlichen Verhältnisse eine andere Lösung
nicht zulassen. Zur schärferen Hervorhebung der Platz
form dient der einspringende Winkel an dem nordöstlichen
für geschlossene Bauweise bestimmten Block gegenüber
dem Empfangsgebäude, zur Geschlossenheit des Platzes
nach Süden wurde ein Baublock eingefügt, der leider nicht
in größeren Abmessungen angelegt werden kann. Erhält
die breite Öffnung der Kaiserstraße in der Mittelallee
einen Abschluß durch Platanenbäume, deren rascher und
kräftiger Wuchs hierfür Gewähr bietet, wird unter der Hand
eines verständnisreichen Architekten bei der Öffnung der
Nikolasstraße zwischen den daselbst liegenden städtischen
Baustellen eine Platzwand durch einen Torbogen geschaffen,
so dürfte alles geschehen sein, was man von diesem Platze
in verkehrstechnischer und ästhetischer Hinsicht zu fordern
in der Lage ist.
2. Die verlängerte Wilhelmstraße — Kaiserstraße er
hält die Richtung nach dem genannten östlichen Teile des
Empfangsgebäudes, doch ist ihre Führung so zu suchen,
daß es möglich wird, die Kanalanlagen, welche hier infolge
der Salzbach - Talöffnung und der einzigen Vorflut des
Wiesbadener Kessels ganz besonders wichtig und umfang
reich werden, schon zu einer Zeit einzubauen, wo die
alten Bahnhöfe noch im Betriebe sind und ohne daß hier
durch langdauernde Betriebsstörungen und Verkehrs
belästigungen verursacht werden. Die Kaiserstraße gilt
als die Hauptstraße von und nach dem Bahnhofe. Von der
Rheinstraße aus führt sie in der Verlängerung der Wilhelm
straße und dann in schlankem Bogen sich mehr nach
Westen wendend, auf die Ostecke des Kaiserplatzes und
die erwähnte turmgekrönte Haupthalle des Bahnhofes zu.
Jede Biegung der neuen Straße wird neue Bilder bringen,
mag man von der Stadt nach dem Bahnhofe sich bewegen,
der mit seinem überragenden Turm schon auf eine Ent
fernung von etwa 400 m sichtbar sein und der Straße einen
prächtigen und wirkungsvollen Abschluß bringen wird,
oder mag man vom Bahnhofe kommen, wo die hübsche
Mittelallee, die an der äußeren (Ost-)Seite für zwei Bau
blöcke angeordnete offene Bauweise mit ihren 10 m
breiten Vorgärten und weiterhin der Blick in die Wilhelm
straße und auf das im Hintergründe auftauchende Land
hausviertel der Geisberghöhe in dem Beschauer sofort den
Eindruck der „Gartenstadt“ hervorrufen wird. Eine Breite
von 50 m in der Nähe des Bahnhofes und 43 m im weiteren
Verlauf der Straße gestattet die Anordnung entsprechend
breit bemessener Fahr- und Gehbahnen. Ein Schmuck
platz, auf dem das neu zu erbauende Museum einen vor
nehmen, gegen den Straßenverkehr zurückgesetzteo Platz
finden wird, vermittelt den Übergang von der Kaiserstraße
zur jetzigen Wilhelmstraße und bildet einen wohltuen
den Ruhepunkt in dem sonst wol zu lang gestreckten
Straßenzuge.
3. Während die Kaiserstraße nach dem Stadtteile führt,
der in der Hauptsache dem Kur- und Fremdenbetriebe
Vorbehalten ist, demgemäß auch in erster Linie den aus
dem östlichen BabnhofsflUgel sich ergießenden Menschen
strom aufnehmen wird, führt die Nikolasstraße mehr nach
dem Zentrum der Stadt, dem „geschäftlichen“ Wiesbaden.
Auf ihr wird sich demzufolge auch besonders der Gepäck-,
Eilgut- und Postverkehr abspielen, umsomehr, als in den
an den westlichen Bahnhofsflügel sich anlehnenden Ge
bäuden, Post, Zollamt, Eilgüterboden und dergleichen unter
gebracht sind. Infolgedessen war es nötig, die Nikolas
straße in gradliniger Verlängerung des bestehenden Teiles