Vätergeschichten
Eine besondere Erinnerung an meinen Vater
Ein Projekt der AG Zusammenarbeit mit Vätern
Projektidee
Liebe Bürgerinnen und Bürger,
„Vätergeschichten“ - Momentaufnahmen von Vater-Kind-Beziehungen.
Angeregt durch das Schweizer Projekt „Vätergeschichten“ entstand nach einem Austausch in der Fach-AG „Zusammenarbeit
mit Vätern“ die Idee, auch in Friedrichshain-Kreuzberg Vätergeschichten zu sammeln, um sie dann als überarbeitete Kurzgeschichten der Öffentlichkeit zurückzugeben.
Männer und Frauen erzählten in öffentlichen Schreibstuben und in ausgewählten Familienzentren von Erinnerungen an ihre Väter
oder Großväter.
Die in einem Jahr gesammelten Szenen werden jetzt in unterschiedlichen Formaten veröffentlicht. Sie bieten die Möglichkeit,
Erfahrungen mit dem eigenen Vater oder mit sich selbst als Vater aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten.
Ziel des Projekts ist es, Väterlichkeit zu veranschaulichen und für die vielfältigen Rollenbilder des Vaterseins zu sensibilisieren.
In diesem Büchlein finden Sie eine Auswahl von 15 Vätergeschichten. Die grafische Aufbereitung der Texte spricht auf eigene
Weise die Fantasie an und motiviert, sich Zeit fürs Vatersein zu nehmen.
„Vater sein ist schön“ wird häufig als Leitmotiv in der Zusammenarbeit mit Vätern genutzt. „Vätergeschichten“ führt diesen
positiven, an Ressourcen orientierten Blick fort und lässt in wunderschöner Art und Weise einen Gegenpol zur häufig problemzentrierten Darstellung von Väterlichkeit entstehen.
Oft sind es vornehmlich die kleinen Geschichten des Alltags, die haften bleiben und unsere Erinnerungen prägen. Wie wertvoll
diese Erinnerungen für unser gegenwärtiges Handeln sein können, zeigen die in diesem Büchlein wiedergegebenen Geschichten.
Die mit Bildern unterstützten Erzählungen übermitteln Wertschätzung gegenüber den Vätern und Großvätern verschiedener
Generationen. In unseren Köpfen öffnen sich Räume, die mit neuen Bildern gefüllt werden. Bilder, die wir wiederum mit unseren
eigenen Ansprüchen an die Rolle als Vater abgleichen.
Dankeschön an Andreas Borchert und Mark Riklin, die uns durch ihre Arbeit inspiriert haben, uns ermutigten, auch in Berlin
Vätergeschichten als Projekt zu entwickeln und uns erlauben, die von ihnen entwickelten Formate aufzugreifen.
Wir danken allen Menschen, mit denen wir viele wertvolle Gespräche zum Thema Väterlichkeit führen durften und freuen uns
über die wunderschönen Geschichten, die wir der Öffentlichkeit so zurückgeben können.
Liebe Väter, liebe Mütter, liebe Großeltern und alle die zur Familie gehören,
die Fürsorglichkeit gegenüber unseren Kindern ernst nehmen und den Kinder mit dem, was wir Eigenes mitbringen, eine bestmögliche Unterstützung geben, ist Auftrag für uns als Erwachsene. „Vätergeschichten“ regen uns an, einen vergnüglichen Blick
auf die vielfältige und wichtige Rolle der Väter und Großväter zu richten.
Monika Herrmann
Bezirksbürgermeisterin
Abteilung Familie, Gesundheit und Personal
Tischgeschichten
„Hihihi, haha, hihi!“ Meine ältere Schwester und ich kringeln uns vor
Lachen. Papa hat den Waschbären mal wieder zum Clown
verwandelt.
Wir lieben es, wenn er den kleinen Kinderzimmertisch auf die
Seite kippt.
Neben Kasper gibt es den Waschbären, den Vogel und viele andere
Kuscheltiere, die unser Vater mit seiner Phantasie zum Leben
erweckt. So entstehen immer wieder spannende Abenteuer und
lustige Alltagsgeschichten. Wir können diese selbst mitgestalten,
indem wir einfach etwas reinrufen oder neue Kuscheltiere hinter die
„Bühne“ werfen – so ein Spaß!
Vater *1959, freier Künstler
Tochter *1990, Masterstudium Psychologie
Jahr der Geschichte 1996
Wer hat den schönsten
Flitzebogen?
Meine Familie fährt zum Wandern in den Thüringer Wald.
Bei den vielen Ausflügen sammele ich Stöcke und schleife sie mit zur Ferienwohnung. „Wenn Du schon die ganzen Stöcke sammelst, dann machen wir die
auch schön“, sagt mein Vater. Er zieht sein silbernes Taschenmesser aus der
Hosentasche und schnitzt Kringel, Muster und Tierfiguren in meine gesammelten Stöcke. Stolz nehme ich die schönsten Äste als Wanderstäbe mit auf unsere
Spaziergänge.
Der Höhepunkt des Urlaubs ist, als mein Bruder und ich unsere eigenen
Taschenmesser geschenkt bekommen. Jetzt können wir selbst Wanderstäbe,
Flitzebogen, Pfeile und Pfeifen schnitzen.
Vater *1943, Diplom Ingenieur Steuer- und Regeltechnik
Sohn *1975, Sportlehrer
Jahr der Geschichte ca. 1985
Ahoi im Hausboot
Noch ein Schritt, dann habe ich es geschafft. Mit beiden Händen
halte ich meine Spielfiguren fest und rette sie aus dem kalten Nass.
Das Wasser reicht mir bis zu den Knien. Zusammen mit meiner
Schwester und meinem Vater bringe ich die Sachen nach oben. Wir
wohnen in Köln, dicht am Rhein. Unser Keller ist überschwemmt,
da der Fluss Hochwasser führt.
Wir sind mit gelben Regenjacken ausgerüstet, dazu Regenhosen und
Gummistiefel. Wir sind Kapitän und Matrosen auf einem Schiff, das
gerade untergeht. Alles muss in Sicherheit gebracht werden. Mit
dieser Geschichte macht uns Papa die Rettungsaktion schmackhaft.
Laut rufen wir: „Ahoi“. Das gemeinsame Unterfangen bereitet
uns so viel Spaß, dass wir Kinder uns bald erneutes Hochwasser wünschen.
Vater *1949, Schreiner
Sohn *1979, stellvertretender
Filialleiter im Einzelhandel
Jahr der Geschichte 1983
Mein Vater, ein Filou
Mein Vater war ein Filou, der gerne feierte und Streiche spielte, was für meine Mutter nicht immer ganz einfach war. So ließ er sich eines Tages im Kegelclub auf die Wette ein, eine Kutsche vor Ablauf einer Stunde eine
Bergrennstrecke von 3.7 Kilometern hochzuziehen, und dies aus reiner Manneskraft.
Der Tag X kam, eine Art Volksfest. Mein Vater stand an der Startlinie, das Pferdegeschirr
umgeschnallt, die Deichsel in der Hand, von einer Menschentraube angefeuert.
Das Ende des Lieds: Mein Vater schaffte es tatsächlich in 58 Minuten, ein
großer Siegerkranz wurde ihm umgelegt. Und ich war voller Stolz, trotz
der Wut meiner Mutter im Nacken.
Der gewonnene Wetteinsatz – 250 Liter Bier – wurde ein Jahr
später im Rahmen eines Dorffestes vertrunken.
Vater *1930, Textilkaufmann
Sohn *1963, Sozialarbeiter
Jahr der Geschichte 1971
Das Familienmotorrad
Wir sind in den Bergen. Hier oben haben wir ein Grundstück, wo Kirschen,
Trauben und Äpfel wachsen. Für uns Kinder gibt es jede Menge zu entdecken.
Nun ist es schon spät und wir müssen los. Mein Vater steigt als erster aufs Motorrad, dann meine Mutter, seitlich sitzend, dahinter meine zwei jüngeren Brüder
und ich ganz hinten auf dem Gepäckträger. So sind wir auch herauf gekommen,
denn zu Fuß wäre die Strecke sehr weit. Auf dem steilen, steinigen Weg fährt
mein Vater sehr vorsichtig und langsam.
Doch plötzlich versagen die Bremsen der schon alten Maschine und wir sausen
immer schneller ins Tal. Uns allen stockt der Atem. Papa klammert den Lenker
fest. Die Schrecksekunden werden zu Minuten. Endlich kommen wir unten an
und die Erleichterung ist groß. Jetzt, wo die Anspannung sich löst, springen wir
von unserem gefährlichen Transportmittel und alle müssen laut lachen.
Im Tal angekommen gehen wir nun doch zu Fuß weiter. Mein Vater schiebt das
Motorrad, um weitere Gefahren auszuschließen. Zwei lange Stunden sind wir
unterwegs. Als wir zu Hause ankommen, ist die Sonne schon lange hinter den
syrischen Bergen verschwunden.
Vater *1943
Tochter *1980
Jahr der Geschichte 1991
Der Gewitterstuhl
Vater *1946, kaufm. Leiter im Sozialbereich
Tochter *1982, Pädagogin
Jahr der Geschichte 1986/1987
Gewitter sind immer ein besonderes Ereignis. Wir ziehen dann alle Gerätestecker aus der Stromdose, aus Angst, dass der Blitz einschlägt.
Ich fürchte mich, wenn es blitzt und donnert. Schutz suche ich bei meinem Vater.
Wir haben ein festes Ritual: Er sitzt auf dem Schaukelstuhl im Wohnzimmer,
ich klettere auf seinen Schoß und kuschele mich an ihn.
Dabei erzählt er mir eine Geschichte und beruhigt mich, dass ich keine Angst zu
haben brauche. „Es kann uns hier drinnen nix passieren“.
Bei offener Terrassentür lauschen wir dem niederprasselnden Regen und dem
Donnergrollen.
Nach einer Weile finde ich Gewitter gar nicht mehr so beängstigend. Meine
Neugierde ist geweckt und ich finde es spannend zusammen mit meinem Vater
Gewitter zu beobachten.
Vertrauenssache
Mit einem lauten „Platsch“ lande ich im Wasser. Die Schönheit des ägäischen Meeres ist
mir jetzt völlig egal. Angst spüre ich, und Wut. Ich bin total sauer auf meinen Vater, doch
dafür ist jetzt keine Zeit. Ich muss schwimmen.
Es klappt. Nach ein paar Sekunden unbeholfenen Strampelns mache ich alles so, wie ich es
zuvor mit meinem Vater geübt habe. Dort drüben am Strand hat er mich auf seinen Händen
durchs Wasser getragen. Mein Papa steht bereit, um mich jederzeit zurück in das Boot zu
retten, von dem aus er mich mit einem fröhlichen „Du auch!“ ins Wasser geworfen hat. Die
Rettung ist nicht notwendig.
Sohn *1969
Vater *1932
Jahr der Geschichte 1979
Neben mir schwimmt mein älterer Bruder, er hat ebenfalls gerade Schwimmen
gelernt. Ich schaffe es sogar, mit ihm zurückzuschwimmen. Das fühlt sich toll
an. Am Strand ermutigt mein Vater mich, es gleich nochmals zu versuchen.
Er traut mir viel zu.
Auf der Haupteinkaufsstraße
Und schon wieder heißt es: Stehen bleiben, Hände schütteln,
Nettigkeiten austauschen. „Guten Tag, Herr Doktor, wie geht
es Ihnen?“. Es scheint, als würde die ganze Stadt meinen Vater
kennen. Er ist ein sehr ruhiger, aufgeschlossener und allseits
geschätzter Mann, hinzu kommt noch, dass er als gebürtiger Ägypter besonders auffällt. Meine Schwester
und ich bekommen viele kleine Geschenke, wenn wir mit
ihm zusammen unterwegs sind. Wir laufen die Haupteinkaufsstraße der Stadt hinunter. Für die Strecke, die ich
sonst in einer halben Stunde schaffe, benötigen wir vier volle
Stunden. Ich bin stolz und wünsche mir, mehr über die Welt
meines Vaters zu erfahren.
Vater *1931
Tochter *1966
Jahr derGeschichte 1975
Immer wieder samstags
Es ist halb fünf an einem Samstagmorgen. Wie jede Woche kommt mein Vater in mein
Zimmer, um mich zu wecken, denn schon eine Stunde später soll ich auf dem Eis stehen.
Das Eishockey-Training für die Kinder und Jugendlichen beginnt immer sehr früh, da die
Halle am Wochenende komplett ausgebucht ist. Auch von Montag bis Freitag muss mein
Vater immer sehr früh aufstehen, da er einen weiten Arbeitsweg hat. So ist mein Vater
normalerweise sehr diszipliniert und liefert mich pünktlich in voller Montur vor der Halle ab.
Aber heute ist irgendwie alles anders. Mein Vater setzt sich nach dem ersten Weckversuch
an mein Bett, übermüdet legt er sich kurz darauf neben mich. Zuerst täusche ich den Schlaf
nur vor, aber bald „schnarchen“ wir um die Wette. Nach dem Ausschlafen frühstücken wir
ausgiebig zusammen und genießen den freien Tag. In der nächsten Woche ist wieder alles
wie immer.
Vater *1939, Banker
Sohn *1964, Musiker
Jahr der Geschichte 1978
Raus aus dem Alltag
Elegant gleite ich über das Eis. Das Knirschen der Kufen wird begleitet von lauter Musik,
die aus großen Lautsprechern zu mir herüber schallt. Die Scheinwerfer leuchten hell.
Gemeinsam mit meinem Vater und meinem jüngeren Bruder drehe ich Runde um Runde auf
der Eisfläche. Für mich ist das alles ziemlich aufregend. Die geliehenen Schuhe sind unbequem und es herrscht klirrende Kälte, dennoch fühle ich mich gut. Ich fühle mich frei.
Sonntags arbeitet meine Mutter oft in einem Restaurant, so auch heute. Mein Vater
übernimmt dann die Tagesplanung. Im Winter steht Eislaufen hoch im Kurs. Er hat es mir
beigebracht.
Vater *1946, Techniker
Tochter *1975, Erzieherin
Jahr der Geschichte 1985
Heimwerken will gelernt sein
Puh, das Pumpen ist ganz schön anstrengend. Noch zwei Mal drücke
ich die Luft durch das Ventil. Jetzt habe ich es geschafft. Vorsichtig
lege ich die Luftpumpe wieder zurück auf ihren Platz.
Mein Vater überprüft den Reifendruck und nickt zufrieden. Gerade
hat er mir gezeigt, wie ich einen platten Fahrradreifen reparieren
kann.
Meine Eltern stammen aus der Türkei. Für mich und meine Schwestern ist es etwas Besonderes, dass unser Vater uns den Umgang
mit verschiedensten Werkzeugen zeigt und uns Mädchen diese
selbst ausprobieren lässt. Danke, Baba!
Vater *1955, Fabrikarbeiter
Tochter *1984, Betriebswirtin
Jahr der Geschichte 1993
Am Karpfenteich
Mein Vater und ich fahren mal wieder zu meinem Onkel. Der wohnt außerhalb des Dorfes in einer alten Mühle.
Dort gibt es immer viel zu entdecken. Heute haben wir die Angel eingepackt. Wir wollen einen Karpfen im Weiher
fangen.
Wir haben vorher schon ein paar Regenwürmer als Köder unter Steinen gesammelt. Mein Vater befestigt einen
Wurm am Angelhaken, holt aus und wirft die Schnur ganz weit hinaus auf den Weiher. Aufgeregt hüpfe ich am
Rand des Weihers hin und her. Mein Vater sagt: „Setz‘ dich ruhig hin, sonst beißen die Fische nicht!“ Es fällt mir
schwer, aber ich sitze still neben meinem Vater, starre auf den Schwimmer der Angel und warte ab, was geschieht.
Da! Nach einer gefühlten Ewigkeit bewegt sich der Schwimmer, ein Fisch scheint angebissen zu haben! Immer noch
wartet mein Vater bis die Bewegung des Schwimmers heftiger wird und der Fisch fest am Haken zieht. Endlich rollt
er die Angelschnur auf, zieht den zappelnden, sich wehrenden Fisch aus dem Wasser.
„Ja, der ist groß genug, den nehmen wir mit nach Hause und braten ihn in der Pfanne“, kommentiert mein Vater
unsere Beute.
Zu Hause angekommen, wird der Karpfen gebraten. Mein Vater gibt mir kleine Fischstückchen, die er sorgfältig von
Gräten befreit hat auf den Teller und wir verspeisen gemeinsam den Fang.
Vater *1934, Metzger
Sohn *1973, Erzieher und Journalist
Jahr der Geschichte ca. 1981
Vaters unfreiwilliger
Schanzensprung
Mein Cousin und ich spielen in der Gärtnerei meiner Eltern Wir schleppen einen riesigen Backstein auf den
asphaltierten Weg zwischen den Beeten. Darauf legen wir ein großes Brett. Was für eine tolle Sprungschanze!
Wir springen mit den Fahrrädern darüber.
„Ihr räumt das aber alles wieder ordentlich weg, wenn ihr fertig seid“; sagt mein Vater. „Ja!“, schwören wir feierlich.
Müde vom Toben lassen wir am Abend natürlich alles stehen und liegen. „Können wir ja morgen noch wegräumen“,
so unser Gedanke.
In der Nacht geht die Feuerwehrsirene. Mein Vater, freiwilliger Feuerwehrmann, schwingt sich auf sein Moped und
will zur Wache fahren. Im Dunkeln sieht er unsere Schanze nicht, fährt drüber und stürzt mit dem Moped in die
Blumenbeete.
Am nächsten Tag mussten wir uns eine ordentliche Standpauke anhören!
Diese Geschichte ist heute noch Thema diverser Familienfeiern.
Vater *1949, Gärtner
Tochter *1975, Sozialpädagogin
Jahr der Geschichte ca. 1982
Opas goldene Taschenuhr
Gerne verbringe ich die Urlaube bei meinen Großeltern. Dort habe ich einen Spielfreund, mit dem ich viel draußen in
einem verwilderten Park spiele und die Gegend erkunde.
Meine Oma legt viel Wert darauf, dass ich immer pünktlich zum Mittagessen zurück komme. Da ich beim Spielen
die Zeit vergesse und häufig zu spät zum Essen erscheine, bekomme ich die alte goldene Taschenuhr, die mein
Großvater von seinem Großvater erbte, überreicht.
Sorgfältig verstaue ich die große Uhr ganz tief in meiner Hosentasche. Dann stromere ich mit meinem Freund los.
Auf dem Weg klettern wir durch einen hohlen Baumstamm und kriechen durchs Unterholz.
„Oh Schreck! Die Uhr ist weg!“ Ich fasse in die Hosentasche, um nach der Uhrzeit zu schauen
und stelle fest, dass diese leer ist. „Wo habe ich nur die Uhr verloren? Sie war doch ganz
tief unten in der Hosentasche!“
Ich traue mich nicht nach Hause. Denn ich habe große Angst vor der Reaktion meines
Großvaters. Schließlich stehe ich weinend in der Haustür und beichte was passiert
ist. Mein Opa nimmt mich verständnisvoll in den Arm und tröstet mich.
Nach dem Mittagessen machen wir uns gemeinsam auf die Suche nach der Uhr.
Mein 60-jähriger Opa und ich kriechen gemeinsam durch das Unterholz und
suchen das Erbstück. Leider können wir es nicht finden. Wir trauern gemeinsam um den Verlust der alten Uhr.
Obwohl die Suche erfolglos blieb, war dieses Erlebnis ein wertvoller Moment
für mich. Es war schön zu erleben, dass ich meinem Großvater wichtiger bin
als die Uhr.
Großvater *1923, Agrarökonom
Enkeltochter *1979, Forscherin an der Universität
Zeitpunkt der Geschichte ca. 1986
Vater *1915, Postbeamter
Sohn *1958, Leiter einer sozialen Einrichtung
Jahr der Geschichte ca. 1964
Ein toller Hecht
Bei einem Besuch der örtlichen Badeanstalt begleiten wir unseren Vater mit seinen Krücken zum
10-Meter-Turm. An der Treppe stellt er seine Krücken ab. Er setzt sich mit dem Hintern auf den
untersten Tritt und hangelt sich Stufe für Stufe rückwärts die Treppe hoch. Jugendliche drängen sich
an ihm vorbei. Keiner nimmt Rücksicht darauf, dass er nur ein Bein hat. Ständig wird er beim Aufstieg
geschubst und fast umgerannt. Es dauert eine Ewigkeit bis er endlich oben ist.
Schwankend hüpft mein Vater auf einem Bein die Plattform des Sprungturms nach vorne. Alle schauen!
Auch mein Bruder und ich richten unsere Blicke gebannt zu meinem Vater.
Am Rand der Plattform angelangt, sucht er hin und her schwankend das Gleichgewicht, stößt sich ab
und springt mit einem Kopfsprung in die Tiefe.
Die zuschauenden Badegäste applaudieren.
Mein Bruder und ich sind mächtig stolz auf unseren Vater, der trotz seiner Behinderung diese Leistung
vollbringt.
Uns beiden fehlt jedoch der Mut, aus einer solchen Höhe ins Wasser zu springen.
Mein Vater, ein sehr sportlicher Mann, war in seiner Jugend unter anderem Turmspringer gewesen. Nach
dem Verlust eines Beines im Krieg entwickelte er sich zu einem melancholischen Menschen, der mit
seinem Schicksal haderte und doch manchmal Trost darin fand, seine Mitmenschen zu unterhalten und
zum Lachen zu bringen.
Meine persönliche Vätergeschichte
Impressum
Herausgeber:
Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin
Abteilung Familie, Gesundheit und Personal
Jugendamt
Koordination frühe Bildung und Erziehung
http://www.berlin.de/kbe-fk
Projektkoordination:
Romanus Flock und Müslüm Bostanci
Projektförderung:
Bundesinitiative Frühe Hilfen
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Geschichte und senden diese an: Romanus.Flock@ba-fk.berlin.de
Weitere, bereits veröffentlichte Vätergeschichten finden Sie auf unserer Webseite,
www.vaetergeschichtenberlin.com
Illustration & Layout: Anne Hofmann
Texte: Andreas Ockert und Sascha Mader
Druck: Oktoberdruck, Berlin
Vätergeschichten
Jugendamt Friedrichshain-Kreuzberg
Eine besondere Erinnerung an meinen Vater
Ein Projekt der AG Zusammenarbeit mit Vätern
Jugendamt Friedrichshain-Kreuzberg