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tausendfach verunstaltet. Vergebens schrien die Klassiker: „Mein Gorc,
das erkenne ich nicht wieder, daS ist nicht von mir!" Die zehntausend
Bünde mußten nun den Gedanken in seiner ursprünglichen Form her«
stellen, damit ihn die Klassiker als Eigenthum wieder annahmen.
Zuweilen lief ein Buch zu einem andern Buche und brachte ihm
eine Idee, die es ihm gestohlen, „ach," sagte das Buch verzweifelnd,
„ich habe eS ja selbst von dem und dem Buche gestohlen!" eS
trug dieJdee zu dem und demBuche hin, „ach," sagte auch dieses Buch r
„ich hab's ja auch nur von dem und dem Buche gestohlen," und so
machte oft ein Gedanke, ein Einfall, ein Ausdruck, die Wanderung durch
hundert Bücher, bis er zu seinem rechtmäßigen Besitzer kam.
Große Austritte gab es mit den Uebersetzcrn und Bearbeitern. Diesen
blieb auch nicht einmal der Titel übrig, und sie dursten sich gar nicht
mehr in die Schränke hineinstellen. Andere Uebersetzer legen sich mit
dem Originale in den Haaren, ». D. Horaz mir O., zwei Nürnberger
und Shakespeare mit dem Gothaer Mayer. „DaS bin ich nicht," rief
das Original. „Freilich sind Sie eS," riefen die Uebersetzer, „das müssen
wir wissen."
Horaz wehrte sich mich mir Händen und Füßen, allein ec mußte
endlich doch die Nürnbcrgische Uebersctzung als sein Eigenthum einstecken.
Der arme Shakespeare gerieth sehr in die Klemme, auf der einen Seite
die Mayersche Ucbersetzung und auf der andern TiekS dramaturgische
Ansichten, die sich ihm mir Gewalt aufdringen wollten. Shakespeare
rief in Verzweiflung ans: „O daS sind meine Worte nicht und das
sind meine Gedanken nicht!" Sic hingen sich aber wie Kletten an ihn
und schrien: „Da hast Du Dein Eigenthum!" Shakespeare lief durch
alle Säle der Bibliothek, Mayer und Tick immer hinten drei», endlich
reirete er sich durch einen Geniestreich, er schob die Mayerschen Ueber-
setzungen geschickt den Tiekschen Ansichten in die Arme, sie hielten sich
Heide für ächt, und weinten deutsche Thränen aus dem Elbflorcnr mit
Englischbikrer aus der Themse. Aber dem guten Shakespeare sollte eS
noch schlimmer ergeben. Friedrich Förster aus Berlin kam auch mit
einer De-, Zer- und Verarbeitung von „Richard dem Dritten," „Julius
Cäsar," „List und Liebe," und sagte auf Berlinisch-englisch: ,,My scar
Shakespeare, ich bringe Sie your works hiermit zurück."
Der gute Shakespeare bekam Krämpfe, wollte entfliehen, und rief
in feiner Angst: ,,A horse, a horsc, a whole Kmgdom for a horse!’*
Vergebens wurden dem guten Shakespeare auch noch die Fürsterschen
Bearbeitungen als sein Eigenthum beigebracht. Diel drolliger als mir
den Büchern ging es mit den Eomponistcn. Die Partituren der neuesten
und ältesten Componisten lagen aufgeschichtet, und der Richter des iüng-
sten Gerichts, welcher voraussah, daß in den neueren Operncompvsirionen
der größte Theil fremdes Eigenthum ist, wählte den kürzeren Weg, schwang
seinen Stab und rief: „Aus allen neuen Compositivncn soll blos das
wirklich neue herausfahren, das Alte, von gediegenen Meistern gestohlene,
so wie alle Reminiscenzen hingegen sollen drinnen bleiben.
Da lockerten sich die aufgeschichteten Partituren allmählig auf, nur
die Opern von Mozart, Beethoven, Winter, Salieri, Grerry, Dalayrac,
Generali und Eimarosa blieben ruhig liegen.
Aber außer unsern neuern, neuesten uud besonders aus den aller«
neuesten Compostrionen fuhren nur hie und da einige Dissonanzen
oder einige leere lärmende DvckSbeutel, die scheußliches Ohrensausen er
regten, aus. Als man diese Partituren nachher besah, fand sich nichts
in ihnen alS ein Quodlibet aus allen klassischen Eomposikipnen, und
zwischen ihren Lücken, wo der Kirr des neuen CompvsiteurS zu sehen war.
Rossini'S 4r Opern lagen als eben so viele gleichgestalrete kar simile»,
die sich durch einander selbst bestohlen, da. Der Richter des jüngsten
Gerichts öffnete die Fenster, damit die wirklichen eigenen Evmposirionen