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schwebten die Töne durch die Nacht. Wehmüthige
Klagen ergossen sich, und es war mir, als lägen wir
alle auf den Knieen, voller Beschämung und Reue.
Immer tiefer und tiefer stiegen die Töne hinab,
als wollten sie verhallen; da erscholl die Melodie des
Weihnachtsliedes. Auch in diesen Melodieen wohnt
ein Gefühl erfüllter Sehnsucht, wie cs seit der alten
Zeit kein Künstler wiederzugeben vermögt hat, und
die daher um diese Zeit in allen Kirchen erschallen
sollten. — Da zerfloß plötzlich die Nacht, es wurde
Heller und Heller, es war, als konnte die Gemeinde
die Empfindung nicht länger verbergen, und wir alle
brachen hervor mit unserem Gesänge. Zch sahe den
Fimmel sich öffnen, die Engel erschienen den Hirten,
verkündend die große Freude, die allem Volke wie-
derfahren sollte. Zch weinte Freudenthränen. Nach
geendigtem Gesänge bestieg der Prediger die Kanzel,
und in einer einfachen kindlichen Sprache erzählte
er, was vor zweiZahrtausenden in dieser Nacht sich
Wunderbares begeben habe. Der gute Alte machte
wenige Worte, man sahe, er sprach aus dcmHerzen.
Nachdem er geschlossen, fiel die Orgel wieder gewal
tig ein. Der Prediger blieb stehen, und vereint mit
der Gemeinde sang er die letzten Verse des Liedes.
Mit diesem Wonnegefühl im Herzen kehrten wir alle
nach Hause, das uns hell erleuchtet und freudenvoll
aufnahm. Wir empfingen mancherlei schöne Geschen
ke, die mich an die große Gabe des Himmels erin
nerten, von der uns der Prediger erzählt hatte, und
welchem Mißbrauch auch diese heilige Sitte ausge
setzt seyn mag, so soll sie in meinem Kreise doch
bleiben, denn sie verbirgt einen tiefen und hohen
Sinn. Zeder, der nur etwas hätte, jeder Haus
vater und jeder Freund, sollte an diesem Tage deit
Seinigen Geschenke darreichen, zur Erinnerung an
die große Schenkung de» Vaters der Menschheit.
Die Worte der Mutter schienen einen allgemct-
uen Eindruck hervorgebracht zu haben. Sophie, von
neuem erheitert und belebt, rief aus: O herrlicher
Tag für alle Christen, der sie den Krieg und alles
Leiden vergessen lassen sollte! O Tag des Friedens,
welcher der Menschheit verkündet ist, an dem die
Gläubigen des Krieges nicht.gedenken werden, da
ihnen die Ruhe des Herzens geschenkt ist! O Tag
des Reichthums und der Fülle, an dem sie den Ver
lust ihrer irrdischen Güter nicht betrauern werden,
da ihnen der unvergängliche Schatz verliehen ist?
O glänzender Tag eines neuen Lebens, an bem ne
Ihre Dahingegangenen nicht beweinen werden, da
ihnen das- Kind der neuen Schöpfung geboren wor
den. Nein, es bedarf der äußern Ruhe, der ver
gänglichen Schätze, der irrdischen Liebe nicht, um zu
jenem innern Frieder,, zu jenem ewigen Kleinod, zu
jener himmlischen Liebe »u gelangen.
Die Kinder kehrten von ihrem Feste zunick, Freu
de «nd Erwartung im Gesicht. Ei/ es war recht
schön, riefen sie mit froher Entzückung; ials sie in
dessen iden Bruder erblickten, riefen sie wie erschreckt:
der will un« Kindern aber keine Freude ginnen. Er
sagte gar, ein Tag wäre wie der andere, und das
ist doch nicht wahr! er ist ja heut Weihnachten.
O ihr Glücklichen, sagte der Alte, wie beneide
ich euch in eurer Unschuld! Könnte ich doch werden
wie ihr! Bei diesen Worten küßte er sie, und die
Kinder schlungen ihre Lermchen um ihn, und hin,
gen sich an ihn. Auch Sophie trat zu ihm und küßte
ihn. O meine Tochter, — sie unterbrach ihn: ich bin
nicht mehr unglücklich, Vater, mein Gatte sank als
Opfer, wie ja jeder Mensch ein Opfer seyn sollte
für alle, wie unser Herr, dessen Tag wir heute
feiern, auch ein Opfer ward feines Glaubens für
nns glle.
Da öffneten sich die beiden Flügelthürm zu dem
kleinen Saale des Hauses. Die Mutter hatte in der
Stille alles anordnen lassen. Die Tische waren schön
erleuchtet, die Kronen glänzten darüber. Den Haupt
tisch schmückte ein stille Landschaft, Hirten weideten
ihre Heerden, und chatten ihren Blick nach der neu
aufgehenden Sonne gerichtet. Mancherlei wohlbe
kannte Gestalten aus der heiligen Geschichte schmück
ten das Ganze. Rundherum standen kleine Tische,
auf denen ein jeder seine Gabe fand. Die Freude
der Kinder war ohne Gränzen. Dem alten Vater
perlten Thränen in den Augen, er dankte der Gat
tinn herzlich für den überraschenden Augenblick. O
wäre nur Einer hier, so wäre ich wieder der alte
glückliche Dorste». Sophie' that einen Schrei des
Entsetzens, als ihr Herrmann herein trat. Er war
in seiner gewöhnlichen weißen Kleidung, und hielt ei
nen grünen Zweig in der Hand. Die helle Erleuch
tung des Saals verwandelte die Gestalt in eine über,
irdische Erscheinung. Der muchig« Alte schrie freudig:
Alsa war es nur eine Täuschung für uns,, eine
schreckliche Verwechselung des Trauerboten? — Zch
komme meinem Volke und euch heut als Friedensbote
meines geliebten Königs, sagte der Erschienene, und
überreichte der erschrockenen Gattinn den Oehkzweig.
Nein, rief diese, es ist der Lorbeer deines Heldento
des aus jener Welt. Er umarmte die Gattin innig.
O der doppelten Gabe» des heutigen Tages, rief die
Mutter, so kaun nur des Himmels Gnade unsere
Schmerzen trösten. Der ältere Sohn und der Lehrer
sahen die,em wunderbaren Schm,spiele kalt und gleich
gültig zu. Vater und Mutter mngaben die ne» sich
Wiedergefundenen, denen der Oehlzweig als eine neu-
aufgehende Sonne glänzte. Die Kinder jauchzten
ihrer Schwester emgegen: Siehst du, der Vater hat .
dir den lieben Herrmann wicdergeschenkt, weil wir
ihn darum gebeten haben. Er hat dir auch einen
Kranz mitgebracht. Wäre es doch, rief der alte Va
ter, der wahrhafte Kranz des Friedens, so wäre ich
wieder der alte glückliche Dorsten.