empirica
Forschung und Beratung
Angemessene Unterkunftskosten - eine
Überforderung des Sozialstaats?
empirica paper Nr. 214
September 2013
http://www.empirica-institut.de/kufa/empi214ph.pdf
Keywords: Schlüssiges Konzept, Mietobergrenzen, KdU, Kosten der Unterkunft, Sozialstaat, unteres Wohnungsmarktsegment, Niedrigeinkommensbezieher, soziale Wohnraumversorgung
Autor:
Petra Heising
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Angemessene Unterkunftskosten – eine Überforderung des Sozialstaates?
INHALTSVERZEICHNIS
Angemessene Unterkunftskosten - eine Überforderung des Sozialstaats? ........................................... 1
1.
Hintergrund ..................................................................................................................................... 1
2.
War dem Gesetzgeber klar, welche Datenquellen zu welchem Ergebnis führen? ................... 1
3.
Wie mit Wohnungsmarktkennziffern Sozialpolitik gemacht wird ............................................ 3
3.1
Räumliche Angemessenheit ................................................................................................................. 3
3.3
Qualitative Angemessenheit ................................................................................................................ 4
3.2
4.
5.
3.4
Physische Angemessenheit .................................................................................................................. 4
Das Ergebnis: Der Richtwert ............................................................................................................... 5
Missverständnisse und Schwierigkeiten ...................................................................................... 6
Die wahren Kosten des Sozialstaats .............................................................................................. 7
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Angemessene Unterkunftskosten – eine Überforderung des Sozialstaates?
Angemessene Unterkunftskosten - eine Überforderung des Sozialstaats?
1.
Hintergrund
Bei der Neuregelung des Sozialgesetzbuchs (SGB) im Jahr 2005 wurden Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammengelegt. Seit der Novelle müssen Jobcenter und
Sozialämter eng zusammenarbeiten. Arbeitsmarktpolitik, Sozialpolitik und Wohnungspolitik treffen aufeinander. Das war sicherlich auch Zweck der Novelle und ist
aus Sicht der Zielgruppen durchaus wünschenswert - eine Politik aus einem Guss. In
der Praxis wird dieser Ansatz allerdings zur Farce, wenn bei den Beteiligten das
fachübergreifende Wissen fehlt. Arbeitsvermittler müssen nun auch Miethöhen erfassen, Arbeitsministerien sich mit Wohnungsmärkten beschäftigen und Sozialgerichte die statistischen Grundsätze der Wohnungsmarktbeobachtung kennen. Juristen und Politiker müssen Gesetzestexte schreiben, die allen Ansprüchen genügen
sollen – und werden dabei vor lauter Kompromissen immer unpräziser.
Ein besonders eklatantes Beispiel für eine völlig verwässerte Gesetzesformulierung
ist die Neuformulierung des §22c (1) SGB II. Hintergrund ist, dass Kommunen für
ihre Hartz-IV-Empfänger auch die Wohnkosten übernehmen müssen, wenn sie „angemessen“ sind. §22c (1) führt in diesem Zusammenhang aus, wie diese „Angemessenheit“ bestimmt werden soll. Was dann folgt ist allerdings lediglich eine lose Aufzählung möglicher Datenquellen, die (Zitat) „insbesondere 1. … und 2. … oder …
einzeln oder kombiniert …. Hilfsweise… sowohl … als auch…berücksichtigt“ werden
sollen. Einen Hinweis darauf, unter welchen Bedingungen welche Datenquellen
herangezogen werden sollten, gibt es nicht. Es steht zu befürchten, dass die Beteiligten im Gesetzgebungsverfahren selbst keine Antworten auf diese Fragen wüssten,
sonst hätten sie es den Kommunen mit konkreteren Vorgaben leichter gemacht.
Die Folgen sind eine Klageflut vor den Sozialgerichten sowie Unsicherheit und Frust
bei den Kommunen. Endlose Debatten, welches Konzept von den Sozialgerichten
anerkannt werden könnte, fressen Stunde um Stunde und erzeugen Personal-, Verwaltungs- und Gerichtskosten in Höhen, die nirgendwo erfasst werden. Wäre es
nicht sowohl für Hartz IV-Empfänger als auch für den Steuerzahler günstiger gewesen, alle Unterkunftskosten ohne Prüfung zu übernehmen?
2.
War dem Gesetzgeber klar, welche Datenquellen zu welchem Ergebnis führen?
Der Gesetzgeber hat offensichtlich aus dem Blick verloren, was hier eigentlich beurteilt werden soll: Die Kommunen müssen bestimmen, bis zu welcher Höhe Aufwendungen für Unterkunft und Heizung für Hartz-IV-Empfänger „angemessen“ sind. Sie
müssen also festlegen, bis zu welcher Mietobergrenze Bedarfsgemeinschaften verfügbare Wohnungen anmieten dürfen. Die Miete einer vermieteten Nachbarwohnung ist zur Beurteilung schon einmal völlig untauglich - denn die Wohnung des
Nachbarn steht ja gar nicht zur Debatte. Auch die heutige Miete der Bedarfsgemeinschaft ist als Referenzgröße ungeeignet – denn deren Angemessenheit soll ja gerade
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überprüft werden. Hat der Gesetzgeber das bedacht? Er bietet viele Datenquellen
zur Bestimmung der Angemessenheit an – aber kennt er überhaupt die Unterschiede? Und hält er wirklich alle für gleich geeignet? Das würde von Unkenntnis und
Unverstand zeugen, der den deutschen Steuerzahler eine Menge Geld kostet – ohne
dass auch nur eine Bedarfsgemeinschaft dadurch versorgt wäre!
Der Gesetzgeber hat einfach eine Anzahl typischer Datenquellen zu Mietpreisen genannt, sich aber dabei nicht auf die zu lösende Aufgabe konzentriert: Es kann doch
nicht darum gehen, irgendwelche Mietdaten heranzuziehen. Einschlägige Wohnungsmarktanalysen zeigen, dass zwischen Neuverträgen und Altverträgen, d.h.
zwischen den jetzt neu vereinbarten Mieten und denen teilweise schon vor Jahren
vereinbarten Mieten in bestehenden Verträgen, ein erheblicher Unterschied bestehen kann (Abbildung 1). Für die Wohnungssuchenden sind Hinweise auf preisgünstige Mietverträge für vermietete Wohnungen völlig irrelevant. Ihnen bleibt nichts
anderes übrig, als auf dem Markt für frei gewordene Wohnungen eine für sie geeignete zu finden und dabei einen neuen Vertrag mit einer neuen Miete auszuhandeln.
Hierfür brauchen sie Anhaltspunkte oder Vergleichswerte. Mietspiegel repräsentieren im Übergewicht aber Mieten in bestehenden Verträgen, die vor allem in Regionen mit steigenden Mieten aber deutlich niedriger liegen können als Mieten für heute anmietbare Wohnungen. In angespannten Wohnungsmärkten sind zu den Mietspiegelmieten systematisch keine neuen Verträge abzuschließen. Mietspiegel eignen
sich daher nicht, die Frage zu beantworten, bis zu welcher Mietobergrenze Bedarfsgemeinschaften verfügbare Wohnungen anmieten dürfen. Dennoch werden sie hier
als erstes genannt.
Als „und zweitens“ sollen geeignete statistische Datenerhebungen – eigene oder
von Dritten – einzeln oder kombiniert berücksichtigt werden. Welche Daten
sind gemeint? Wie sollen sie berücksichtigt werden? Wann einzeln, wann kombiniert und wenn, ja wie…? Ohne weitere Hinweise handelt es sich bei dieser Aufzählung um nichts als leere Worthülsen! - „Hilfsweise“ werden dann noch die Wohngeldgrenzen genannt: Die Mietobergrenze laut Wohngeldgesetz hängt von der Mietenstufe der jeweiligen Gemeinde ab. Aber es gibt nur sechs Mietenstufen für ganz
Deutschland und diese werden auch nur alle paar Jahre aktualisiert. Damit kann
man die aktuelle Wohnungsmarktsituation vor Ort wohl kaum abbilden (und schon
gar nicht, wie vorgesehen, alle zwei Jahre aktualisieren). Daher steht im Gesetzestext
noch die Einschränkung „hilfsweise“, doch warum heißt es dann, können „auch“ –
sollen sie also zusätzlich hinzugezogen werden?
Dabei reicht es angesichts der Fragestellung, sich die Neuvertragsmieten anzuschauen. Nur sie spiegeln die echten Alternativen wider: Wenn die aktuelle Wohnung günstiger ist, als alternative anmietbare Wohnungen im unteren Wohnungsmarktsegment, dann ist sie doch auf jeden Fall angemessen (ein Umzug wäre ja noch
teurer). Wenn sie aber teurer ist, ist sie nicht angemessen. Diese Trivialität scheint
dem Gesetzgeber aus dem Blickfeld geraten zu sein. Es geht doch allein um die
Grenze, bis zu welcher Miete Wohnungen des unteren Wohnungsmarktsegments am Markt angemietet werden können. Das ist in jeder Stadt anders und
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Angemessene Unterkunftskosten – eine Überforderung des Sozialstaates?
kann sich ändern, ist aber jederzeit anhand des aktuellen Mietspektrums angebotener Wohnungen sehr leicht überprüfbar. Mehr ist nicht nötig.
Warum erspart der Gesetzgeber den Kommunen diese Irrfahrten nicht, indem er
sich vorher über die Konsequenzen seiner Vorschläge gut informiert? Stattdessen
erzeugen nun falsche Richtwerte weitere Kosten: Bei Kommunen, die einen zu
hohen Richtwert ansetzen, ist das offensichtlich: Sie übernehmen höhere Mieten
als angesichts der Marktsituation nötig wäre. Aber es ist auch eine Milchmädchenrechnung zu glauben, dass Kommunen, die niedrigere Richtwerte ansetzen, immer
auch geringe Kosten zu tragen hätten: Wenn Richtwerte so niedrig sind, dass zu diesen Werten am aktuellen Markt gar keine Wohnungen verfügbar sind, müssen die
Kommunen doch die aktuelle Miete in voller Höhe übernehmen! Einen Richtwert,
der angesichts der Marktsituation zu niedrig angesetzt ist, kann man sich also sparen. Er hat seinen Zweck verfehlt. Einige Kommunen arbeiten dann aus ihrer Not
heraus mit großzügigen Toleranzgrenzen auf die zuvor mühsam erhobenen Richtwerte – Toleranzgrenzen, die nicht zuletzt aus den Erfahrungen über die tatsächlichen Neuvertragsmieten vor Ort heraus festgesetzt werden! Es hätte gereicht, sich
von vornherein nur die Neuvertragsmieten anzuschauen.
3.
Wie mit Wohnungsmarktkennziffern Sozialpolitik gemacht wird
Im Wesentlichen geht es auch bei der Beurteilung der Angemessenheit von Unterkunftskosten um die sozialpolitische Kernfrage: Welchen Lebensstandard kann und
will der Sozialstaat Hilfebedürftigen finanzieren? Wie einfach müssen - oder wie
luxuriös dürfen - Wohnungen von Hartz IV-Empfängern sein, damit die Mieten in
voller Höhe übernommen werden? Oder im Wortlaut des Gesetzes: Bis zu welcher
Miethöhe sind Unterkunftskosten für Hartz IV-Empfänger „angemessen“? Wie kann
man das bestimmen? empirica hat schon für zahlreiche Kommunen in Deutschland
Mietobergrenzen für angemessene Unterkunftskosten hergeleitet und erfolgreich
umgesetzt. Drei Fragen sind im Vorfeld zu diskutieren.
3.1
Räumliche Angemessenheit
Richtig ist, dass nicht überall in Deutschland die gleichen Miethöhen gelten können –
denn dann wären in München keine und in strukturschwachen Regionen alle Wohnungen angemessen. Das hilft nicht weiter. Man kann nicht wollen, dass alle Hartz
IV-Empfänger von München in den Bayerischen Wald ziehen müssen, weil ihre Versorgung dort – für den Steuerzahler – günstiger wäre. Am Anfang steht also die Definition eines zumutbaren Umzugsradius. Auch dies wieder eine sozialpolitische
Frage: Was ist zumutbar? Kleinere Kommunen verweisen häufig auf die Gemeindegrenzen, weil innerhalb derer nach einem Umzug immer noch die gleiche Schule und
die gleiche Einkaufsstraße erreichbar sind. Schwieriger wird es in Großstädten: Sollen hilfebedürftige Witwen von Zehlendorf nach Marzahn ziehen müssen, damit ihre
Wohnung finanziert wird? Ist auch stadtentwicklungs- und sozialpolitisch eine Konzentration aller Arbeitslosen in Marzahn überhaupt erwünscht? Wer die räumliche
Segregation innerhalb einer Stadt nicht politisch motiviert verstärken möchte, muss
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kleinere Vergleichsräume wählen, nicht größere. Dann lautet die richtige Frage: Bis
zu welcher Miethöhe sind Unterkunftskosten in Zehlendorf für Hartz IV-Empfänger
angemessen?
3.2
Physische Angemessenheit
Unstrittig ist, dass größere Familien größere Wohnungen brauchen als Singles und
dass dafür mehr Miete zu zahlen ist. Also können nicht für alle Haushaltsgrößen die
gleichen Mietobergrenzen gelten. Soweit so gut. Aber dann passieren methodische
Fehler: Viele Kommunen legen eine Quadratmetermiete als Obergrenze fest und
multiplizieren diese einfach mit der als angemessen angesehenen Wohnungsgröße
(z.B. 45 qm für Singles, 60 qm für Paare usw.). In einer gleichen Quadratmetermiete
für alle Wohnungsgrößen verbirgt sich ein Missverständnis des Wohnungsmarkts:
Kleine Wohnungen sind pro Quadratmeter teurer als große. Denn die Einmalkosten
für Küche und Bad verteilen sich hier auf weniger Quadratmeter. Auch sehr große
Wohnungen können teurer sein als mittelgroße, z.B. wenn große Wohnungen nur in
teuren Neubauten angeboten werden. 1 Wundert man sich noch, dass in diesen Fällen Singles oder Großfamilien klagen, sie könnten keine angemessene Wohnung
finden? Die Frage muss differenzierter gestellt werden: Bis zu welcher Miethöhe
sind 45 qm Wohnungen angemessen, bis zu welcher Höhe für 60 qm Wohnungen
usw.? Die Antwort darauf ist dynamisch an das Marktgeschehen gekoppelt: Wenn es
aktuell nur wenige große Wohnungen am Markt gibt, dann sind diese derzeit besonders teuer. Dann muss der Staat für große Haushalte derzeit auch mehr Miete zahlen. Der Hinweis, dass 60 qm Wohnungen je Quadratmeter aber billiger zu haben
sind, hilft da nicht. Regelmäßige Aktualisierungen der Richtwerte sind unerlässlich.
3.3
Qualitative Angemessenheit
Und dann zur letzten wichtigen Frage: Welches Maß an „Luxus“ soll finanziert werden? Das Bundessozialgericht spricht vom „unteren Wohnungsmarktsegment“. Konzepte, die dazu das untere Drittel des Wohnungsmarkts zählen, wurden vom Sozialgericht schon anerkannt. Aber auch eine Festlegung auf das untere Viertel oder einen Wert dazwischen wurde noch nicht beanstandet. Wieder geht es um die Kernfrage: Welchen Wohnstandard kann und will der Staat (hier die Kommune) finanzieren? Es ist gut, dass jede Kommune hier einen gewissen Ermessensspielraum hat,
denn sowohl die Finanzierungslage als auch das Qualitätsspektrum an Wohnungen
sind in jeder Kommune anders. Wohnungsqualität lässt sich nämlich nicht absolut,
sondern nur relativ innerhalb des ortsüblichen Spektrums definieren. (Beispiel:
Strom und fließend Wasser mag in manchen Ländern ein Luxus sein, in Deutschland
gehört es zum absoluten Mindeststandard.)
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Beispiel Berlin: Die Medianmiete für verfügbare 45-qm-Wohnungen in Berlin liegt bei 6,98 Euro/qm, für 75qm-Wohnungen bei 6,21 Euro/qm und für 105-qm-große Wohnungen bei 7,02 Euro/qm (Medianmiete = Miete
der mittleren Wohnung). Hier: Wohnungsgrößenklasse +/- 10qm, Auswertungsjahr 2011. Quelle: empirica
Preisdatenbank (IDN ImmodatenGmbH).
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Hier entsteht aber nun häufig eine Unsicherheit darüber, wie diese relativ definierte
Wohnungsqualität denn nun zu fassen und zu messen sei. Eine Auflistung aller
Wohnungsmerkmale (Balkon, Einbauküche, Teppichboden, Sanierungszustand…)
führt sicher nicht zum Ziel. Dabei liefert der Markt doch die richtige Bewertung wie
von selbst: Offensichtlich kosten nicht alle etwa 45 qm großen Wohnungen einer
Stadt gleich viel. 2 Ein Vermieter weiß, warum er für eine konkrete Wohnung nicht
mehr verlangen kann: Für eine 45-qm-Wohnung mit dieser Ausstattung in dieser
Lage findet er offenbar keinen Mieter, der bereit ist, mehr zu zahlen. Jeder Wohnungssuchende bewertet die Wohnung nach seinen Präferenzen (Lage, Ausstattung, Zustand) und natürlich nach seiner Kaufkraft. Es kann daher keine allgemeingültige Liste von Wohnungsmerkmalen geben, die zu einer „guten“ Wohnqualität
zählen. Dafür dient aber die Marktmiete als guter Qualitätsindikator: Je höher die
erzielte Miete - für gleich große Wohnungen in der gleichen Stadt - , desto höher
bewertet der Mieter die Qualität dieser Wohnung angesichts der vorhandenen Alternativen. Die Frage „Was kosten 45 qm Wohnungen in Zehlendorf – von der billigsten bis zur teuersten?“ ist gleichzusetzen mit der Frage „Was kosten 45 qm
Wohnungen in Zehlendorf – von der einfachsten bis zur luxuriösesten?“ So trivial
es klingt – aber mit diesem Puzzlestück der Argumentation beantwortet sich die
Frage nach der qualitativen Angemessenheit von selbst: Wenn nur das untere Wohnungsmarktdrittel angemessen ist, dann sind dies genau die billigsten 33% aller
verfügbaren Wohnungen. Deren Miete lässt sich am Mietspektrum der aktuell verfügbaren Wohnungen ablesen (vgl. Abbildung 2) – nicht an der Miete vermieteter
Wohnungen!
3.4
Das Ergebnis: Der Richtwert
Der Richtwert hat nun die Aufgabe alle vorhergehenden Überlegungen in einer einzigen Zahl zu kondensieren (monetäre Angemessenheit). Er soll es den Sachbearbeitern im Jobcenter und Sozialamt bei der Beurteilung von Angemessenheit leicht
machen. Es reicht, für jede Haushaltsgröße in jedem Stadtteil genau einen Richtwert
anzugeben (für 1-Personen-Haushalte in Zehlendorf z.B. 300 Euro). Gemäß der Produktregel spielt es dabei keine Rolle, für welche Wohnungsgröße, Lage und Qualität
sich der Haushalt letztlich entscheidet: Solange die Wohnung nicht über 300 Euro
kostet, sollten die Unterkunftskosten in voller Höhe übernommen werden. Gleichzeitig ist damit sichergestellt, dass für 300 Euro zumindest das untere Segment aller
Wohnungen der geeigneten Größe anmietbar ist.
Das Wichtigste, was Richtwerte widerspiegeln sollen, sind regionale Unterschiede:
Denn Marktmieten sind Knappheitsindikatoren. In angespannten Immobilienmärkten sind die Mieten höher als in entspannten Märkten. Es ist offensichtlich, dass die
Kosten der Unterkunft in jeder Region unterschiedlich sind und dieses Phänomen
durch entsprechend differenzierte Richtwerte berücksichtigt werden muss. Die
2
Die Spanne reicht allein in Zehlendorf von 6,00 Euro/qm bis 9,30 Euro/qm. Zum Vergleich: In Marzahn reicht
die Spanne von 5,15 Euro/qm bis 6,63 Euro/qm. - Quelle: empirica-Preisdatenbank (IDN ImmodatenGmbH),
Auswertung 2011, Spanne ohne Extremwerte (10% bis 90% aller Angebote).
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Richtwerte sollten dabei nur genau die unterschiedlichen regionalen Knappheiten widerspiegeln – und nicht etwa unterschiedliche Erhebungsmethoden seitens
der Kommunen.
Die Karte (Abbildung 3) zeigt beispielhaft die unterschiedlichen Neuvertragsmieten
verfügbarer Wohnungen im unteren Wohnungssegment (hier am Beispiel etwa
60qm großer Wohnungen), wenn sie systematisch für ganz Deutschland auf gleiche
Weise erhoben werden. Das Ergebnis ist plausibel: Wie zu erwarten liegen die Kosten der Unterkunft für einen 2-Personen-Haushalt in den Räumen München, Stuttgart, Frankfurt, Köln und Hamburg über den Kosten der Unterkunft für gleich große
Wohnungen in anderen Regionen Deutschlands. Entsprechend unterschiedlich müssen also auch die Richtwerte ausfallen.
4.
Missverständnisse und Schwierigkeiten
Jedes Eingreifen des Staates, auch die Festlegung eines Richtwerts, beeinflusst den
Markt. Es schafft Anreize zu Verhaltensänderungen – erwünschte wie unerwünschte. Daher sind die Auswirkungen, die die Etablierung eines Richtwerts haben, zu
beachten: Wie verhalten sich die Vermieter? Gibt es einen Anreiz zur künstlichen
Mieterhöhung? Wie verhalten sich die Hartz-IV-Empfänger? Kommt es zur unerwünschten Verstärkung der räumlichen Segregation? Wie verhalten sich die Staatsausgaben? Wird das Ganze nicht viel zu teuer?
Die unerwünschten Auswirkungen lassen sich leicht in den Griff bekommen: Um
Vermietern keinen Anreiz zu geben, ihre Miete bis zum Richtwert anzuheben, muss
der Richtwert in Euro je Wohnung, nicht in Euro je Quadratmeter angegeben werden. 3 Wenn Richtwerte so hoch ausfallen, dass sie kaum noch tragbar sind, dann ist
die gewünschte Wohnqualität (z.B. ein Drittel des Marktes) eben nicht finanzierbar.
Man kann die angemessene Qualität absenken (z.B. auf ein Viertel oder ein Fünftel
des Marktes). Wem die finanzierbare Qualität letztlich zu schlecht ist, muss über
Finanzierungsquellen nachdenken – oder den Wohnungsmarkt ändern, nicht den
Richtwert in Frage stellen. 4 Wer einen Richtwert sucht, der auch noch den Klimaschutz forciert und Sanierungsanreize für Vermieter schafft, überfrachtet die Ziele:
Der Richtwert soll schnell und pragmatisch die Angemessenheit von Unterkunftskosten beurteilen, nicht das Klima schützen. Dennoch ist die Frage berechtigt, ob
man mit den Richtwerten Anreize zum Umzug in unsanierte Wohnungen schafft.
Zunächst einmal ja, denn Richtwerte sollen Bedarfsgemeinschaften dazu bringen,
eher Wohnungen des unteren Wohnungsmarktsegments zu wohnen. Das sind dann
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Dann kann der Vermieter einer 60-qm-Wohnung sich nicht ausrechnen, wie viel er verlangen kann, sondern er
erzielt umso mehr Miete, je mehr Personen in seine Wohnung ziehen. Dies schafft den richtigen Anreiz, möglichst viele Personen mit Wohnraum zu versorgen. Da niemand gezwungen wird einzuziehen, regelt allein der
Markt die erzielbare Höchstmiete.
Den Richtwert abzusenken, geht immer zu Lasten der Wohnqualität. Mittelfristig lässt sich der Wohnungsmarkt als solches in Frage stellen: Gibt es nicht noch kommunale Möglichkeiten, das Mietniveau zu senken?
Findet ein Austausch mit den Planungsämtern statt, die über das Neubauvolumen das Wohnungsangebot und
damit auch das Mietniveau beeinflussen können?
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auch eher die unsanierten Wohnungen - in denen dann aber die Heizkosten tendenziell höher liegen, was ebenfalls kein Ziel sein kann. Daher ist die sog. große Produktregel zu empfehlen: Wenn die Nettokaltmiete nicht angemessen ist, wird in
einem zweiten Schritt geprüft, ob denn die Bruttowarmmiete angemessen ist. 5 Falls
ja, gilt die Wohnung dennoch als angemessen. Ein Umzug in unsanierte Wohnungen
ist also nicht per se erforderlich.
5.
Die wahren Kosten des Sozialstaats
Eins lässt sich nicht wegdiskutieren: Städte mit hohem Mietniveau müssen mehr pro
Wohnung zahlen als andere Städte. Zusätzlich ist die Arbeitslosigkeit in den Städten
ungleich verteilt: Letztlich bestimmt das Produkt aus „Zahl der Bedarfsgemeinschaften“ und „Unterkunftskosten je Bedarfsgemeinschaften“ die Finanzierungslast der
Kommunen. Ein Sozialstaat ist nicht kostenlos zu haben – aber wir wollen ihn trotzdem.
Zu diesen „harten Kosten“ des Sozialstaats, bei der es im Wesentlichen um eine im
Konsens gewollte Umverteilung geht, kommt noch ein weiterer Kostenblock, der
vermeidbar wäre, aber noch nie beziffert wurde: Zusätzlich entstehen vermeidbare
volkswirtschaftliche Kosten, weil die Gesetzesformulierung handwerklich schlecht
gemacht ist. Fachkenntnisse von Sozialämtern, Sozialpolitikern, Juristen, Volkswirten und Wohnungsmarktexperten wurden nicht optimal ausgeschöpft, sonst hätte
man konkretere und zielführende Vorgaben machen können. Stattdessen müssen
nun die Sozialgerichte tausende von Einzelfallentscheidungen treffen, die gemäß
ihres Selbstverständnisses und berechtigterweise unzusammenhängend bleiben
müssen. Sie können als Anleitungsratgeber für Kommunen allenfalls höchst unbefriedigende Ergebnisse liefern. Es entstehen Kosten durch einen Förderalismus, in
dem auf Bundesebene Gesetze unklar formuliert werden, die zu einer Klageflut führen, die von der Rechtsprechung bearbeitet werden müssen. Kommunen als ausführendes Organ bleibt nichts anderes übrig, als über Trial and Error allmählich herauszufinden, welches Konzept zur Herleitung von Richtwerten zur Beurteilung angemessener Unterkunftskosten denn nun akzeptiert wird - und welches überhaupt
am Markt funktioniert. Urteilsbegründungen als Verwaltungsvorschriften lesen –
das ist der eigentliche Kostentreiber unseres Sozialstaats in diesem Fall. Nicht Umverteilung kostet Geld, sondern die Verbrennung volkswirtschaftlicher Ressourcen
durch überzogenen Verwaltungsaufwand ohne Gegenleistung. Hier sollte man zuerst sparen – und nicht bei der Wohnqualität für bedürftige Haushalte.
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Dazu wird auf den Richtwert für die Nettokaltmiete noch ein Betrag für angemessene kalte und warme Nebenkosten hinzugerechnet. Deren Herleitung ist ebenfalls schlüssig möglich. Näheres dazu www.empiricainstitut.de.
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Angemessene Unterkunftskosten – eine Überforderung des Sozialstaates?
Abbildung 1: Unterschied zwischen Neuvertragmieten und Bestandsmieten,
schematische Darstellung am Beispiel einer Region mit
steigenden Preise
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Abbildung 2: Aktuelle Neuvertragsmieten gleichgroßer Wohnungen in einer
Stadt (nach ihrer Höhe sortiert)
1.200
mittleres Wohnungsmarktdrittel
unteres Wohnungsmarktdrittel
1.100
oberes Wohnungsmarktdrittel
1.000
Monatsmiete (netto) in EUR
900
800
700
Niedrigster Preis =
niedrigste Qualität
und/oder einfachste Lage
600
Richtwert
Höchster Preis =
höchste Qualität
und/oder beste Lage
500
Median
(„Mittlere Wohnung“)
400
300
200
33%-Linie
66%-Linie
100
0
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
Anteil aller Objekte in %
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Angemessene Unterkunftskosten – eine Überforderung des Sozialstaates?
Abbildung 3: Kosten der Unterkunft für einen 2-Personen-Haushalt* in 2009
im Deutschlandvergleich,
Auszug aus dem Grundsicherungsrelevanten Mietspiegel (empirica)
Kartengrundlagen: Nexiga
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