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Full text: Wahlverwandtschaften (CC BY-NC-ND)

E-PAPER Wahlverwandtschaften Plurale Familienformen rechtlich ermöglichen und absichern Eine Publikation der Heinrich-Böll-Stiftung, November 2016 Wahlverwandtschaften Plurale Familienformen rechtlich ermöglichen und absichern Vorschlag der Familienpolitischen Kommission der Heinrich-Böll-Stiftung und Juristisches Gutachten Wahlverwandtschaften – Die Berücksichtigung pluraler Familienformen im Recht Verfasst von PD Dr. Friederike Wapler, Johannes Gutenberg-Universität Mainz unter Mitarbeit von Ass. iur. Wibke Frey, Universität Hildesheim Inhaltsverzeichnis Modell – Wahlverwandtschaften Plurale Familienformen rechtlich ermöglichen und absichern 5 Juristisches Gutachten –Wahlverwandtschaften – Die Berücksichtigung pluraler Familienformen im Recht 8 Gegenstand des Gutachtens 8 I. Begriffliche und empirische Grundlagen 10 1. Ehe, Lebenspartnerschaft, Lebensgemeinschaft(en), Familie 10 a. Formalisierte Paarbeziehungen: Ehe und Lebenspartnerschaft 10 b. Nicht formalisierte (faktische) Paarbeziehungen: nichteheliche und lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaft 11 c. Lebensgemeinschaften mit Kindern 13 d. Familie 14 II. Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft 1. Ungleichbehandlung von Ehe und Lebenspartnerschaft 18 18 a. Der besondere Schutz der Ehe: Gebot der Schlechterstellung anderer Lebensformen? 19 b. Verbot der Diskriminierung der Lebenspartnerschaft gegenüber der Ehe 20 c. Die Möglichkeit der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare 23 d. Regelungsalternativen zur Gleichstellung aller formalisierten Paargemeinschaften 26 2. Die öffentliche Förderung der Ehe: Fortbestand traditioneller Leitbilder 28 a. Förderung von Ehe und Familie: gleichheitsrechtliche Aspekte 28 b. Das Neutralitätsgebot 29 c. Regelungsalternativen 32 3. Ausgleichsleistungen nach Auflösung der Ehe/Lebenspartnerschaft III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 32 33 1. Verfassungsrechtliche Grundlagen 34 2. Die rechtliche Situation faktischer Lebensgemeinschaften im V ergleich zu Ehe und Lebenspartnerschaft 35 a. Steuerrecht 35 b. Sozialrecht 37 c. Erbrecht 42 d. Ausgleichsansprüche nach Auflösung der Partnerschaft 43 e. Reproduktionsmedizin 45 f. Auskunfts-, Informations- und Zeugnisverweigerungsrechte 45 g. Wohnrechte 46 3. Möglichkeit und Grenzen vertraglicher Ausgestaltung sozialer Nahbeziehungen 47 a. Ausgestaltung der Ehe durch Ehe- oder Lebenspartnerschaftsvertrag 47 b. Vertragliche Vereinbarungen bei nicht formalisierter Lebensgemeinschaft 49 4. Alternative Regelungsmodelle 50 a. Grundsätze für ein Recht der faktischen Lebensgemeinschaften 51 b. Modell 1: Erweiterte Rechtswirkungen der nicht formalisierten Lebensgemeinschaft (Opt Out) 52 c. Modell 2: Das faktische Zusammenleben als (neues) formalisiertes Rechtsinstitut (Opt-in, Solidaritätspakt) 56 d. Kombinationsmodell 60 IV. Eltern-Kind-Beziehungen 61 1. Elternschaft nach künstlicher Befruchtung 61 a. Ungleichbehandlungen beim Zugang zu medizinischen Reproduktionstechniken und der Finanzierung künstlicher Befruchtung 62 b. Der rechtliche Status der Wunscheltern und des Samenspenders in der Inseminationsfamilie 63 2. Ein-Eltern-Familien 66 a. Die intendierte Ein-Eltern-Familie 66 b. Die ökonomische Situation von Ein-Eltern-Familien 67 c. Reformoptionen 68 3. Mehr-Eltern-Modelle (intendierte und gewachsene Stieffamilien) 69 a. Die Zwei-Eltern-Theorie des Bundesverfassungsgerichts und ihre Kritik 69 b. Die abstammungsrechtliche Ebene 70 c. Die Ausgestaltung der tatsächlichen Sorge 70 4. Der Familienleistungsausgleich 71 a. Kinderfreibetrag 73 b. Kindergeld 74 c. Reformoptionen 75 V. Zusammenfassung der Ergebnisse und der Handlungsempfehlungen 76 1. Ehe und Lebenspartnerschaft 76 2. Faktische Lebensgemeinschaften 76 3. Eltern-Kind-Beziehungen 77 Impressum 79 Modell – Wahlverwandtschaften Plurale Familienformen rechtlich ermöglichen und absichern Vorschlag der Familienpolitischen Kommission der Heinrich-Böll-Stiftung In Gemeinschaft in Verantwortung Familie ist da, wo Menschen kontinuierlich füreinander Verantwortung übernehmen; sie reicht heute von der klassischen Ehe über nichteheliche Lebensgemeinschaften mit und ohne Kinder, Ein-Eltern- oder Patchwork-Familien, gleichgeschlechtlichen Partnerschaften bis hin zu familiären Netzwerken, die über Generationengrenzen hinweg gelten und auch Menschen ohne verwandtschaftliche Bindung einschließen. Verantwortung wird nicht mehr ausschließlich innerhalb der Ehe gelebt oder in einer Liebesbeziehung übernommen: Freundinnen und Freunde etwa, oder Nachbarn und Nachbarinnen helfen sich gegenseitig und stehen füreinander ein. Auch die sich stetig entwickelnden neuen Wohnformen, Alten-WGs oder Mehrgenerationenhäuser, beruhen auf sozialen, nicht auf verwandtschaftlichen Beziehungen der Bewohner/innen. Diese Vielfalt der pluralen Lebensformen steht einem relativ engen Recht gegenüber, das nicht auf alle Gemeinschaften anwendbar ist. Nichteheliche Lebensgemeinschaften werden von der Rechtsordnung fast durchgehend als Beziehungen zwischen Fremden behandelt, gleichgültig wie lange sie gelebt werden. Obwohl auch in den neuen intentionalen Verantwortungsgemeinschaften ein Teil der Betreuungs-, Sorge- und Pflegearbeit für Kinder, kranke und alte Menschen übernommen wird, werden diese Paare vom Staat sozialrechtlich nur dann zur Kenntnis genommen, wenn es seinen fiskalischen Interessen dient, wie z. B. bei der Anrechnung des Einkommens in einer Bedarfsgemeinschaft. Wer aber Pflichten hat, sollte auch garantierte Rechte haben. Hier müssen deshalb neue Regelungen gefunden werden, um die vielfältigen Formen der Sorge- und Solidarbeziehungen tatsächlich abzusichern und soziale Schieflagen zu vermeiden. Derzeit ist die bestehende Rechtslage für diejenigen, die weder Ehe noch Lebenspartnerschaft eingehen wollen, sehr unübersichtlich und inkonsistent. Ein vereinfachtes Rechtsinstitut soll hier Abhilfe schaffen.  Die Familienpolitische Kommission der Heinrich-Böll-Stiftung hat vor diesem Hintergrund und auf Grundlage einer juristischen Expertise, die sich mit verschiedenen Modellen der rechtlichen Anerkennung von Sorge- und Solidarbeziehungen auseinandersetzt, einen 5 / 79 Vorschlag für die unterschiedlich gewählten Sorge- und Verantwortungsbeziehungen erarbeitet. Dieser Vorschlag soll Sorgeleistungen anerkennen und die vielfältigen Formen des Zusammenlebens rechtlich absichern. Uns ist es wichtig, die Freiheit der Lebensentwürfe und der Verantwortungsübernahme zu ermöglichen, und zwar in allen sozialen Lagen. Ehe für alle Die Ehe muss endlich für alle geöffnet werden. Gleichgeschlechtliche Paare werden durch das Eheverbot aufgrund ihrer Sexualität konkret und symbolisch diskriminiert; in einer Reihe von Rechtsbereichen sind sie trotz der Möglichkeit, eine eingetragene Lebenspartnerschaft einzugehen, noch immer benachteiligt gegenüber der Ehe. Durch die «Ehe für alle» wird die eingetragene Lebenspartnerschaft als Rechtsinstitut ersetzt. Damit wird klargestellt, dass zwei Menschen, unabhängig von der Kombination ihrer Geschlechter, den Schutz des Artikels 6 Absatz 1 genießen. Hierfür müssen sich alle Paare wie bisher im Standesamt registrieren lassen. Die gesetzlichen Rechtsfolgen nach der Trennung umfassen – wie bisher – den Zugewinnausgleich, den Versorgungsausgleich und die Unterhaltspflichten. Gleichzeitig wollen wir das traditionelle und nicht mehr zeitgemäße Leitbild der Alleinverdienerehe aufbrechen. Das diesem Leitbild entsprechende Ehegattensplitting soll abgeschafft und durch lebensformenneutrale Modelle ersetzt werden. Pakt für das Zusammenleben (PaZ) Darüber hinaus gilt es, tatsächlich gelebte Verantwortungsübernahme in Partnerschaften mit oder ohne Kindern unabhängig von der Ehe rechtlich zu ermöglichen und abzusichern. Mit dem Pakt für das Zusammenleben (PaZ) soll ein neues Rechtsinstitut geschaffen werden, mit dessen Hilfe zwei Menschen ihr Zusammenleben alltagstauglich rechtlich absichern können. Er greift für Zweiergemeinschaften, die auf dem Willen zur gegenseitigen Verantwortungsübernahme beruhen. Diese können, müssen aber nicht, auf einer Liebesbeziehung fußen. Wer sich dafür entscheidet, muss sich formlos registrieren lassen. Die Rechtsfolgen des Pakts bestehen während seiner Dauer aus gegenseitigen Auskunfts-, Informations- und Vertretungsrechten. Die heute schon existierende Möglichkeit, dies in individuellen Verträgen und Vollmachten zu klären, wird hier nun rechtlich erleichtert.  Den sozialrechtlich schon definierten Beistandspflichten sollen zusätzlich auch die entsprechenden Unterhaltspflichten gegenüberstehen und damit den hinsichtlich der sozialen Absicherung schwächeren Teil der Zweiergemeinschaft stärken. Außerdem sollen erbrachte Unterstützungsleistungen steuerrechtlich absetzbar sein. Ansprüche auf 6 / 79 Elterngeld oder die Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten gelten identisch zur Ehe. Ein freiwilliges Splitting der Rentenbeiträge kann vereinbart werden. Wer heute Sorgetätigkeiten übernimmt, tut dies meistens unentgeltlich und nimmt zudem, vor allem durch den Verzicht auf (Vollzeit-) Erwerbstätigkeit, eine Reihe von Nachteilen in Kauf. Da nach wie vor Frauen einen Großteil dieser Arbeit leisten, sind sie es, die am häufigsten mit den in ihrem Lebenslauf kumulierenden nachteiligen Konsequenzen konfrontiert werden. Dies gilt insbesondere, wenn die Beziehung auseinandergeht, innerhalb derer die Sorgetätigkeit praktiziert wurde. Hier plädieren wir für Rechtssicherheit und eine güterrechtliche Trennung bei Auflösung des Pakts. Sowohl die Registrierung als auch die Auflösung des Paktes soll einfach möglich sein. Rechtssicherheit für gelebtes Miteinander Auch in Paarbeziehungen, in denen beide Teile keine formalisierte Partnerschaft eingehen möchten, wird oft gemeinsam gewirtschaftet, werden unter Umständen Kinder gemeinsam großgezogen und Angehörige gepflegt, verzichten Partner/Innen aufgrund von Sorgetätigkeiten zugunsten des oder der Anderen auf Erwerbstätigkeit und berufliche Weiterentwicklung. Deswegen wollen wir auch hier das freiwillige Splitting der Rentenbeiträge ermöglichen. Zudem sollte für den Trennungsfall die rechtliche Absicherung, insbesondere der wirtschaftlich schlechter gestellten Person, verbessert werden. In der Lebenswirklichkeit entwickeln sich Lebensgemeinschaften zumeist schrittweise hin zu einer immer engeren Verbindung, so dass ein klarer „Startpunkt“ für den Vermögensausgleich kaum zu ermitteln ist. Bisher ist die Rechtsprechung zum Umgang mit der güterrechtlichen Trennung nach einer langjährig gelebten Beziehung sehr unterschiedlich. Für bestimmte Arten von Zuwendungen, die während der Partnerschaft geleistet wurden, gewährt die Rechtsprechung mittlerweile einen finanziellen Ausgleich. Über die mögliche Rechtsgrundlage herrscht allerdings Uneinigkeit. Im Einzelnen ist hier vieles ungeklärt, die Rechtslage für die betroffenen Paare unübersichtlich, wenig vorhersehbar und den tatsächlichen Lebensverhältnissen nur punktuell angepasst. Sinnvoller scheint es deswegen, an die bisherige Rechtsprechung zu den nachpartnerschaftlichen Ausgleichsansprüchen anzuknüpfen und diese gesetzlich klar zu regeln. Solche Ansprüche müssten für unbezahlte betriebliche Mitarbeit und andere materielle Leistungen gelten und sollten einmalig ausgeglichen werden.  Wir wollen für Patchworkfamilien das alltägliche Leben vereinfachen. Bestehende rechtliche Benachteiligungen zum Beispiel beim Empfang von Elterngeld wollen wir beseitigen. Zudem sollte ein „kleines Sorgerecht“ auch dann ermöglicht werden, wenn die beiden rechtlichen Eltern das gemeinsame Sorgerecht haben. Ein größerer Spielraum für einvernehmliche Absprachen aller Beteiligten sollte zugelassen werden können. 7 / 79 Juristisches Gutachten – Wahlverwandtschaften – Die Berücksichtigung pluraler Familienformen im Recht Verfasst von PD Dr. Friederike Wapler Gegenstand des Gutachtens In einer pluralistischen Gesellschaft leben die Menschen auf ganz unterschiedliche Weise zusammen: als Singles oder Paare, in gleich- oder verschiedengeschlechtlichen Lebensgemeinschaften, mit oder ohne Kinder. Die einen heiraten oder verpartnern sich, die anderen nicht. Kinder leben mit ihren leiblichen Eltern, Stief-, Adoptiv- oder Pflegeeltern zusammen; sie werden längst nicht mehr nur auf natürlichem Wege gezeugt. Die familiären Bindungen eines jeden Menschen ändern sich im Laufe des Lebens durch Trennung, Scheidung oder Tod. Neue Partnerschaften bringen ganze Systeme in Unordnung und zwingen sie, sich neu zu sortieren. Nicht alle sozialen Gemeinschaften haben eine Verwandtschafts- oder Paarbeziehung als Kern. Unabhängig von der rechtlichen oder leiblichen Zugehörigkeit finden sich Menschen zu«Wahlfamilien» zusammen: Gemeinschaften von zwei oder mehr Personen, die sich dazu entschließen, ihr Leben solidarisch miteinander zu teilen, sei es als lesbisch-schwule Lebensgemeinschaft mit Kindern, sei es als Senior_innen-Wohngemeinschaft, Landkommune oder Mehr-Generationen-Projekt. In Familien und anderen privaten sozialen Gemeinschaften wird soziale, finanzielle und emotionale Solidarität in ganz unterschiedlichen Ausprägungen gelebt. Sie übernehmen Aufgaben wie die Kindererziehung und die Pflege kranker oder alter Menschen, die der Staat nicht oder jedenfalls nicht allein erfüllen könnte und in vieler Hinsicht auch gar nicht an sich ziehen sollte. In privaten sozialen Gemeinschaften wird finanzielle Unterstützung häufig weit über das Maß hinaus geleistet, das ihre Mitglieder unterhalts- oder sozialrechtlich voneinander verlangen könnten. Es besteht daher Anlass und Notwendigkeit, über die rechtliche Absicherung und Förderung solidarischer Gemeinschaften neu nachzudenken. Gegenstand des Gutachtens  8 / 79 Über lange Zeiten hat es sich das Recht leicht gemacht und allein die in der Ehe gegründete Familie akzeptiert und ausgestaltet. Andere Lebensweisen hat es entweder mit minderen Rechten ausgestattet, wie die Lebensverhältnisse nichtehelicher Kinder, oder als sittenwidrig stigmatisiert, wie die nichteheliche und die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft. Diese Fixierung auf die Ehe ist zwar längst überwunden, doch hat das geltende Recht in vieler Hinsicht noch keine widerspruchsfreien Formen gefunden, um der Vielfalt der Lebensweisen gerecht zu werden. Ist die Ehe immer noch als vorzugswürdige Familienform anzusehen oder wird nicht vielmehr in anderen Gemeinschaften in gleicher Weise Solidarität gelebt? Wo finden Kinder günstige Bedingungen für ihr Aufwachsen und wovor muss man sie unbedingt schützen? Wie weit reicht die Freiheit der Individuen, ihr Leben selbst zu regeln, und wo bedürfen ihre privaten Entscheidungen der Regulierung und des Schutzes durch den Staat? Das vorliegende Gutachten gibt einen Überblick über die gegenwärtige Diskussion, die offenen Fragen und mögliche Lösungsansätze zur Regulierung pluraler Familienformen. Im ersten Teil werden die grundlegenden Begriffe erläutert und die rechtstatsächliche Lage dargestellt (I). Anschließend wird das Verhältnis von Ehe und Lebenspartnerschaft erörtert (II), bevor auf die Rechtslage nichtehelicher und lebenspartnerschaftsähnlicher Lebensgemeinschaften eingegangen wird (III). Ein eigener Abschnitt wird zum Schluss dem Verhältnis von Eltern und Kindern gewidmet, weil deren Rechtslage mittlerweile weitgehend unabhängig von der Lebensform der Eltern ausgestaltet ist (IV). Die wesentlichen Ergebnisse und Empfehlungen werden im Schlusskapitel (V) zusammengefasst. Soziale Nahbeziehungen bewegen sich rechtlich in einem komplexen Geflecht aus verfassungs-, familien-, arbeits-, steuer- und sozialrechtlichen Regelungen, deren Zusammenspiel hier nur in seinen wesentlichen Zügen adäquat dargestellt werden kann. Das Gutachten bietet eine Grundlage für eine differenzierte politische Diskussion und arbeitet zu diesem Zweck die Grundgedanken heraus, von denen rechtliche Regelungen pluraler Familienformen getragen sein sollten, und zeigt rechtliche und politische Handlungsalternativen und Gestaltungsspielräume auf. Gegenstand des Gutachtens  9 / 79 I. Begriffliche und empirische Grundlagen 1. Ehe, Lebenspartnerschaft, Lebensgemeinschaft(en), Familie a. Formalisierte Paarbeziehungen: Ehe und Lebenspartnerschaft Die Ehe ist nach geltender Rechtslage eine rechtlich formalisierte Partnerschaft zweier verschiedengeschlechtlicher Partner_innen.[1] Sie wird nach den Regeln der §§ 1303 ff. BGB geschlossen und kann gem. §§ 1313 ff. BGB durch Scheidung wieder aufgelöst werden. Die Zahl der Eheschließungen ist in Deutschland – wie in den meisten europäischen Staaten[2] – rückläufig: Waren im Jahr 1950 noch 10,8 Eheschließungen je 1.000 Einwohner_innen zu verzeichnen, waren es im Jahr 2014 nur noch 4,8.[3] Etwa 35 % aller in einem Jahr geschlossenen Ehen werden nach den derzeitigen Lebensverhältnissen im Laufe der nächsten 25 Jahre geschieden. Die durchschnittliche Dauer der geschiedenen Ehen betrug im Jahr 2014 vierzehn Jahre und acht Monate.[4] Das rechtlich formalisierte Institut für gleichgeschlechtliche Paare ist in Deutschland die eingetragene Lebenspartnerschaft, deren Begründung, Gestaltung und Beendigung seit 2001 im Lebenspartnerschaftsgesetz (LPartG) geregelt ist. Im Jahr 2013 lebten insgesamt etwa 78.000 gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften in Deutschland. 45% dieser Paare haben sich für die formalisierte Form der eingetragenen Lebenspartnerschaft entschieden. Dieser Anteil hat sich seit 2006 nahezu verdreifacht. Nach den Erkenntnissen des Statistischen Bundesamtes gibt es in Deutschland etwa 35.000 (Stand 2013) einge- 1  Vgl. BVerfGE 10, 59 (66): „Ehe ist auch für das Grundgesetz die Vereinigung eines Mannes und einer Frau zur grundsätzlich unauflöslichen Lebensgemeinschaft, und Familie ist die umfassende Gemeinschaft von Eltern und Kindern, in der Eltern vor allem Recht und Pflicht zur Pflege und Erziehung von Kindern erwachsen.“ 2  Vgl. European Commission, Demography Report 2010, S. 68 ff. 3  Statistisches Bundesamt, Bevölkerung, Eheschließungen und durchschnittliches Heiratsalter Lediger. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/ Eheschliessungen/Tabellen/EheschliessungenHeiratsalter.html, Letzter Zugriff: 08.02.2016. 4  Statistisches Bundesamt, Bevölkerung, Ehescheidungen, Maßzahlen zu Ehescheidungen 2000 bis 2014. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/ Ehescheidungen/Tabellen/MasszahlenEhescheidungen.html, letzter Zugriff 13.02.2016 I. Begriffliche und empirische Grundlagen  10 / 79 tragene Lebenspartnerschaften.[5] 57% der eingetragenen Lebenspartnerschaften werden von Männern geschlossen.[6] b. Nicht formalisierte (faktische) Paarbeziehungen: nichteheliche und lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaft Neben diesen beiden Formen der rechtlich abgesicherten Zweierbeziehung gibt es unterschiedliche Varianten nicht formalisierter Lebensgemeinschaften. Die nichteheliche oder eheähnliche Lebensgemeinschaft meint eine nicht rechtlich verfasste Paarbeziehung zweier verschiedengeschlechtlicher Menschen. Dementsprechend kann eine gleichgeschlechtliche Beziehung, die nicht in einer Lebenspartnerschaft formalisiert ist, als lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaft bezeichnet werden.[7] Die Zahl der nichtehelichen und lebenspartnerschaftsähnlichen Lebensgemeinschaften ist in den vergangenen Jahrzehnten stark angestiegen. Im Jahr 2011 umfasste sie etwa 2,8 Mio. Paare, was gegenüber 1996 einen Anstieg von 52 % bedeutet. 98% dieser faktischen Lebensgemeinschaften sind verschiedengeschlechtliche Paare.[8] Im geltenden Recht finden sich wenige Hinweise auf faktische Lebensgemeinschaften. Im Familienrecht des BGB werden sie nicht ausdrücklich erwähnt. Dagegen ist im Recht der Sozialhilfe geregelt, dass die «eheähnliche oder lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaft» nicht besser gestellt werden darf als die Ehe (§ 20 SGB XII). Im Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende fallen faktische Lebensgemeinschaften unter den Begriff der Bedarfsgemeinschaft in § 7 Abs. 3, 3a SGB II. Die Landesverfassungen von Berlin und Brandenburg erwähnen «auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften»: Art. 12 Abs. 2 der Verfassung von Berlin verbietet ihre Diskriminierung, Art. 26 Abs. 2 der Verfassung des Landes Brandenburg anerkennt ihre Schutzbedürftigkeit. Eine einheitliche rechtliche Definition der faktischen Lebensgemeinschaft sucht man im Gesetz jedoch vergebens. In Rechtsprechung und Schrifttum versteht man unter ihr bei unterschiedlicher Formulierung im Kern eine auf Dauer angelegte Beziehung zwischen zwei Personen, deren innere Beziehung über eine bloße Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft 5  Statistisches Bundesamt, Bevölkerung, Im FOKUS vom 27.05.2015. https://www.destatis.de/DE/ ZahlenFakten/ImFokus/Bevoelkerung/GleichgeschlechtlicheLebensgemeinschaften.html, letzter Zugriff: 08.02.2016. 6  Statistisches Bundesamt, Zahl der Woche v. 17.03.2015. https://www.destatis.de/DE/ PresseService/Presse/Pressemitteilungen/zdw/2015/PD15 _ 012 _ p002.html, letzter Zugriff: 08.02.2015. 7  Vgl. BVerfG NJW 2006, 895. 8  Hammes, Haushalte und Lebensformen der Bevölkerung. Ergebnisse des Mikrozensus 2011, in: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Wirtschaft und Statistik 2012, S. 977, 989 (983 ff.). I. Begriffliche und empirische Grundlagen  11 / 79 hinausgeht.[9] Zentral ist das letztgenannte Merkmal: Wie Ehe und Lebenspartnerschaft wird auch die faktische Lebensgemeinschaft als umfassende Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft verstanden. Es wird also vorausgesetzt, dass die Partner_innen sich im Alltag gegenseitig unterstützen und einander in Notfällen beistehen.[10] In dieser Hinsicht besteht zwischen nichtehelicher und lebenspartnerschaftsähnlicher Lebensgemeinschaft kein Unterschied, so dass ihre rechtliche Definition im Ergebnis, mit Ausnahme der Kombination der Geschlechter, dieselbe ist.[11] Als gemeinsame Oberbegriffe bieten sich „nicht formalisierte Lebensgemeinschaft“ oder auch „faktische Lebensgemeinschaft“ an. Beide Ausdrücke werden im Folgenden synonym verwendet.[12] Woran man allerdings konkret erkennen kann, dass zwei Menschen eine Verantwortungsgemeinschaft bilden, wenn sie dies nicht selbst zum Ausdruck bringen, wird im Familienund Sozialrecht nicht einheitlich beantwortet. Nach § 7 Abs. 3a Nr. 1 SGB II wird eine Verantwortungsbeziehung unter anderem vermutet, wenn zwei Personen seit einem Jahr zusammenleben. Dagegen wird im Recht der Sozialhilfe (§ 20 SGB XII) und im Familienrecht auf das Gesamtbild der Beziehung abgestellt, in dem die Dauer des Zusammenlebens ein Indiz sein kann, aber allein nicht hinreicht. Stattdessen wird eine in wesentlichen Lebensbereichen gemeinsame Lebensgestaltung verlangt, z.B. die gemeinsame Erziehung von Kindern, gemeinsame Haushaltsführung, gemeinsamer Urlaub oder allgemein eine dauerhafte und die gesamte Lebensführung betreffende Bindung.[13] Eine sexuelle Beziehung kann ein Hinweis auf eine faktische Lebensgemeinschaft sein, gehört aber nicht zu ihren notwendigen Merkmalen.[14] 9  BVerfGE 87, 234 (264); BGHZ 121, 116 (124); BGHZ 191, 116 (124); BGH NJW 1993, 999; BVerwGE 52, 11; BVerwGE 85, 195; BSGE 63, 120 (123); BSGE 72, 125. Aus der Literatur vgl. Schumann, Die nichteheliche Lebensgemeinschaft, in: Soergel/Wellenhofer, BGB, Bd. 17/2, 13. Aufl. 2013, Rn. 1; Wellenhofer, Zivilrechtsprobleme der nichtehelichen Lebensgemeinschaft, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2013, Anhang zu § 1302 BGB, Rn. 3. 10  Vgl. BVerfGE 87, 234 (264); BVerfG FamRZ 1993, 164 (169); vgl. Grube, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Aufl. 2014, § 20 Rn. 12 ff.; Schumann (Fn. 9), Rn. 1. 11  Schumann (Fn. 9), Rn. 2; Wellenhofer, (Fn. 9), Rn. 4. 12  Der Sprachgebrauch ist uneinheitlich. Teilweise wird der Ausdruck „nichteheliche Lebensgemeinschaft“ auch als Oberbegriff für die eheähnliche und lebenspartnerschaftsähnliche Lebensgemeinschaft verwendet, vgl. Schumann (Fn. 9), Rn. 2 f. Der Begriff der faktischen Lebensgemeinschaft wird in der Rechtsprechung teilweise verwendet, um auch das Zusammenleben mehrerer Personen außerhalb von Paarbeziehungen zu benennen, vgl. BGHZ 177, 193 (206). 13  Für das Familienrecht vgl. Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 3; Muscheler, Familienrecht, 3. Aufl. 2013, Rn. 49; für das Sozialhilferecht Grube (Fn. 10), § 20 Rn. 14. 14  Vgl. BVerwGE 98, 195 (201); Grube (Fn. 10), § 20 Rn. 14; Schumann (Fn. 9), Rn. 1; Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 2; a.A. für die nichteheliche, nicht aber die lebenspartnerschaftliche Gemeinschaft Muscheler (Fn. 13), Rn. 49. I. Begriffliche und empirische Grundlagen  12 / 79 c. Lebensgemeinschaften mit Kindern Formalisierte wie nicht formalisierte Lebensgemeinschaften können, müssen aber nicht Kinder einschließen. Mit Kindern leben können zudem auch andere Personen, etwa Alleinstehende (Ein-Eltern-Familie) oder zwei Erwachsene als Pflegeeltern (Pflegefamilie). Des Weiteren kommt es beim Zusammenleben mit Kindern häufig zu komplexen Mehrpersonenstrukturen, etwa wenn die leiblichen Eltern sich getrennt haben, jeweils mit neuen Partner_innen zusammenleben, mit diesen möglicherweise gemeinsame Kinder bekommen haben und sich ihre Kinder aus der früheren Beziehung regelmäßig bei ihnen aufhalten. Von diesen Stief- und Patchworkfamilien zu unterscheiden ist die Mehrehe, die in einigen islamisch geprägten Rechtsordnungen und in manchen Regionen Afrikas insbesondere als Polygamie (ein Mann mit mehreren Ehefrauen) legal ist. Aufgrund der komplexen Regelungen des internationalen Familienrechts kann sich vor deutschen Gerichten die Frage stellen, ob und ggf. in welcher Hinsicht polygame Verbindungen hier anzuerkennen sind.[15] Eine Legalisierung der Mehrehe steht hingegen nicht zur Diskussion und wird im Folgenden auch nicht weiter thematisiert.[16] Betrachtet man die tatsächliche Situation von Lebensgemeinschaften mit Kindern, so ist die Ehe nach wie vor die vorherrschende Familienform, wenngleich auch hier deutliche Pluralisierungstendenzen erkennbar werden: Während 1996 noch 81,4% aller Kinder in einer Ehe aufwuchsen, waren es im Jahr 2012 nur noch 70,7%. Angestiegen ist in dieser Zeit der Anteil nichtehelicher Lebensgemeinschaften mit Kindern (von 4,8% auf 9,9%) sowie der Ein-Eltern-Familien (von 13,8% auf 19,9%). Unter den nichtehelichen Lebens- 15  Vgl. OVG Rh-Pf, 12.03.2004, Az. 10 A 11717/03. 16  Das Bundesverfassungsgericht definiert die Ehe als monogame Lebensgemeinschaft, vgl. BVerfGE 29, 166 (176); BVerfGE 31, 58 (67); BVerfGE 62, 323 (330); BVerfGE 76, 1 (41 f.); zustimmend u.a. Hwang, Besonderer Schutz der Ehe im Umbruch? Zugleich Anmerkung zu neueren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, KritV 97 (2014), S. 133-150 (149); Benedict, Die Ehe unter dem besonderen Schutz der Verfassung – Ein vorläufiges Fazit, JZ 68 (2013), S. 477-487 (479 f.); Germann, Dynamische Grundrechtsdogmatik von Ehe und Familie? In: Zukunftsgestaltung durch Öffentliches Recht. Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL) 73 (2014), S. 257-295 (267) m.w.N. Im verfassungsrechtlichen Schrifttum finden sich jedoch auch Stimmen, die davon ausgehen, dass die Ehe im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG nicht notwendig die Einehe sein muss, sofern und soweit die primäre Funktion der Ehe als Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft auch in einer Mehrpersonenkonstellation denkbar sei. Nach dieser Ansicht könnte die Mehrehe verfassungsrechtlich allerdings nur dann legitimiert sein, wenn sie mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter vereinbar ist, was in den bestehenden polygamen Strukturen, die einem Mann mehrere Frauen, nicht aber einer Frau mehrere Männer erlauben, zu verneinen ist, vgl. Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 79; siehe zu möglichen Verstößen der Polygamie gegen völkerrechtliche Diskriminierungsverbote Joint general recommendation/general comment No. 31 of the Committee on the Elimination of Discrimination against Women and No. 18 of the Committee on the Rights of the Child on harmful practices v. 04.11.2014, CEDAW/C/GC/31-CRC/C/GC/18, §§ 24 ff. I. Begriffliche und empirische Grundlagen  13 / 79 gemeinschaften mit Kindern überwiegen die verschiedengeschlechtlichen Partnerschaften. Der Anteil der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften mit Kindern betrug im Jahr 2012 nur 0,06%.[17] In etwa einer von zehn gleichgeschlechtlichen Partnerschaften wachsen Kinder auf, in absoluten Zahlen leben demnach etwa 7.000 Kinder in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften.[18] Unter diesen wachsen 5.700 in eingetragenen Lebenspartnerschaften auf, davon wiederum 86% mit zwei Frauen.[19] d. Familie Die Pluralisierung der Lebensformen führt zu einer Vervielfältigung der Zwecke, zu denen Menschen zusammenleben. Die traditionelle Ehe war der Kern einer größeren Hausgemeinschaft, in der auch die Mitglieder der erweiterten Verwandtschaft – Geschwister, Onkel und Tanten, Großeltern – Platz finden konnten, etwa wenn sie pflegebedürftig wurden oder unverheiratet blieben. Die eheliche Familie war eine Wirtschaftsgemeinschaft und der wesentliche und sozial anerkannte Sozialisationsort für Kinder; sie übernahm wesentliche Aufgaben der Gesellschaft und hatte insofern auch eine sozialpolitische Funktion und konnte ihren Mitgliedern im besten Falle auch emotionale und soziale Stabilität bieten. Heute übernimmt nicht mehr jede Lebensgemeinschaft all diese Funktionen. Insbesondere der Zusammenhalt als Wirtschaftsgemeinschaft ist unwichtiger geworden, seit Risikovorsorge, Alterssicherung und Existenzminimum in erheblichem Umfang vom Staat und den sozialen Sicherungssystemen getragen werden. Der Begriff der Familie kann sich daher auf eine enorme Vielfalt an Lebensgestaltungen beziehen. aa. Soziologische Begriffsbildungen In der Familiensoziologie wird der Begriff der Familie vor allem durch verwandtschaftliche Beziehungen sowie durch das Zusammenleben im Mehrgenerationenverhältnis charakterisiert.[20] Familiäre Beziehungen zeichnen sich des Weiteren durch ein besonderes Näheoder Kooperationsverhältnis aus, das sich aus klar festgelegten Rollen (Mutter, Vater, Kind) oder aus faktischen Nähebeziehungen ergeben kann.[21] Ähnlich wie im Alltags- 17  Zahlen nach Jurczyk/Klinkhardt, Vater, Mutter, Kind? Acht Trends in Familien, die Politik heute kennen sollte, 2014, S. 7. 18  Statistisches Bundesamt, IM FOKUS vom 20.02.2013, https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/ ImFokus/Bevoelkerung/Lebenspartnerschaft.html (letzter Zugriff: 13.02.2016). Die Zahl bezieht sich auf minderjährige Kinder. Bezieht man volljährige ledige Kinder in die Betrachtung ein, beläuft sich die Zahl auf etwa 9.000, vgl. Gründler/Schiefer, Familienleitbilder unter dem Regenbogen – Akzeptanz von Regenbogenfamilien in Deutschland. Bevölkerungsforschung aktuell 4/2013, S. 18 ff. (19). 19  Statistisches Bundesamt (Fn. 18). 20  Vgl. Langmeyer, Sorgerecht, Coparenting und Kindeswohl. Elternsein in nichtehelichen Lebensgemeinschaften, 2015, S. 5. 21  Ebd., S. 5 f. I. Begriffliche und empirische Grundlagen  14 / 79 sprachgebrauch gelten also neben der Kleinfamilie aus Eltern und Kindern auch Geschwisterverhältnisse sowie die Beziehungen zu Großeltern, Tanten, Cousinen, Schwägern etc. als Familie. bb. Der rechtliche Sprachgebrauch Im Recht wird der Begriff unterschiedlich verwendet je nachdem, in welchem Kontext er gebraucht wird. Im Grundgesetz (GG) wird der Begriff der Familie in Art. 6 Abs. 1 erwähnt.[22] Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) bezeichnet er die «umfassende Gemeinschaft von Eltern und Kindern».[23] Daran ist für die weiteren Überlegungen zweierlei wichtig festzuhalten: Der verfassungsrechtliche Begriff der Familie steht in keinem notwendigen Zusammenhang zu dem der Ehe, d.h. der Schutz der Familie bezieht sich auf eheliche und nichteheliche Verhältnisse in gleicher Weise.[24] Des Weiteren wird im Eltern-Kind-Verhältnis nicht danach differenziert, ob die Kinder leiblich mit den Eltern verwandt sind oder nicht. Auch Adoptiv-, Stief- und Pflegekinderverhältnisse sind daher als Familien im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich geschützt.[25] In zwei anderen Hinsichten ist der verfassungsrechtliche Familienbegriff begrenzt: Zum einen erfasst er keine kinderlosen Paarbeziehungen. Während die kinderlose Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG neben der Familie den besonderen Schutz des Staates genießt, werden die eingetragene Lebenspartnerschaft sowie nicht formalisierte Paarbeziehungen ohne Kinder weder als Ehe noch als Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG angesehen.[26] Versteht man unter einer Familie, ähnlich wie in der Soziologie, gerade das Zusammenleben in einem Mehrgenerationenverhältnis, dann ist dieses Verständnis konsequent.[27] Das Zusammenleben zweier Erwachsener bleibt verfassungsrechtlich jedoch nicht ohne Schutz, sondern ist als Ausprägung ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) vom Staat zu respektieren.[28] 22  Art. 6 Abs. 1 GG: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz des Staates.“ 23  BVerfGE 10, 59 (66). 24  BVerfGE 8, 210 (215); 24, 119 (135); 25, 167 (196); 79, 256 (267); 106, 166 (176); vgl. auch Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 44; dies., Die Ehe für alle durch Änderung des BGB, NJW 2015, S. 3557 ff. (3558). 25  BVerfGE 18, 97 (105 f.); 24, 119 (144); 79, 256 (267). Zur umstrittenen Einordnung der nichtehelichen Stieffamilie als Familie i.S.d. Art. 6 Abs. 1 GG siehe Schumann (Fn. 9), Rn. 29 f. 26  BVerfGE 87, 234 (264); Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 GG Rn. 57, 110; Schumann (Fn. 9), Rn. 23; dies., Die nichteheliche Familie, 1998, S. 186 f. 27  Allerdings ist die Ungleichbehandlung von Ehe und Lebenspartnerschaft in Bezug auf den besonderen verfassungsrechtlichen Schutz nicht unproblematisch, da beide in gleicher Weise rechtliche Verwandtschaftsverhältnisse begründen, vgl. § 11 Abs. 1 LPartG: „Ein Lebenspartner gilt als Familienangehöriger des anderen Lebenspartners, soweit nicht etwas anderes bestimmt ist.“ Zur Kritik an dieser Formulierung Schumann (Fn. 9), Rn. 11. 28  Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 57; Robbers, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2010, Art. 6 Rn. 43. I. Begriffliche und empirische Grundlagen  15 / 79 Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) enthält ein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 Abs. 1).[29] Wie das BVerfG sieht auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der über die Einhaltung der EMRK wacht, Beziehungen zwischen Erwachsenen grundsätzlich nicht als Familienleben im Sinne dieses Artikels an. Ausnahmen akzeptiert er allenfalls im Verhältnis von Eltern und ihren volljährigen Kindern, sofern zwischen ihnen ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis besteht.[30] Auch nach der EMRK wird der Begriff der Familie demnach durch die Beziehung im Mehrgenerationenverhältnis geprägt. Nicht übereinstimmend sind hingegen die Auffassungen des BVerfG und des EGMR, soweit Verwandtschaftsverhältnisse außerhalb der Kernfamilie aus Eltern und Kindern betroffen sind. Nach der Definition des BVerfG umfasst der Familienbegriff des Art. 6 Abs. 1 GG zwar jede Beziehung zwischen Eltern und Kindern, jedoch nicht die Groß- und Mehrgenerationenfamilie.[31] Der EGMR hingegen bezieht in den Begriff des Familienlebens aus Art. 8 Abs. 1 EMRK schon seit den 1970er Jahren jedenfalls das Großeltern-Enkel-Verhältnis ein. Für ihn umfasst der Schutz des Familienlebens jedenfalls alle nahen Verwandtschaftsverhältnisse.[32] Auch im deutschen verfassungsrechtlichen Schrifttum wird die Definition des BVerfG als zu eng kritisiert, weil sie wichtige Nähe- und Fürsorgebeziehungen im Mehrgenerationenverhältnis vernachlässige.[33] Im einfachen Recht wird der Begriff der Familie denn auch weiter interpretiert. Geht es im BGB darum, der «Familie» oder den «Familienangehörigen» bestimmte Rechte einzuräumen, so werden auch Verwandtschaftsverhältnisse außerhalb der Kernfamilie und zunehmend die Partner_innen faktischer Lebensgemeinschaften einbezogen.[34] 29  Art. 8 Abs. 1 EMRK: „Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.“ 30  EGMR, 29.01.1997, Az. 23078/93 – Bouchelkia/France, § 41; EGMR, 23.06.2006, Az. 1638/03 – Maslow/Österreich, § 62; vgl. Meyer-Ladewig, in: ders. (Hrsg.), EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 8 Rn. 52. 31  BVerfGE 48, 327 (339); ihm folgend Kirchhof, Der besondere Schutz der Familie in Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes, AöR 2004, S. 542 ff. (550 f.). 32  EGMR NJW 1979, 2449, Ziff. 45. 33  Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 111 f.; Coester-Waltjen, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 11, 35; Robbers (Fn. 28), Art. 6 GG Rn. 86, 88. Siehe auch Sachs, Geschwister im Familienrecht, 2007, S. 35 ff. 34  Vgl. für § 1969 BGB („Dreißigster“) OLG Düsseldorf NJW 1983, 1566; für § 1093 Abs. 2 BGB (Wohnungsrecht) Joost, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2013, § 1093 Rn. 12; Berger, in: Jauernig (Hrsg.), BGB, § 1093 Rn. 7; siehe auch den Überblick bei Schumann (Fn. 9), Rn. 10 f. I. Begriffliche und empirische Grundlagen  16 / 79 cc. Ergebnis Zusammengefasst kann man drei Begriffsverständnisse von «Familie» unterscheiden: (1) In einem engeren Sinne ist Familie die Verbindung von Eltern und Kindern, unabhängig davon, ob sie leiblich oder rechtlich verwandt sind oder zusammenleben. (2) In einem weiteren Sinne umfasst Familie alle leiblichen und rechtlichen Verwandtschaftsverhältnisse, also neben Eltern-Kind-Beziehungen auch die zwischen Geschwistern, Tanten/Onkeln und Nichten/Neffen, Großeltern und Enkel_innen, Schwäger_innen, Schwiegereltern, Cousins/Cousinen etc. (3) Im weitesten Sinne meint Familie alle Beziehungen, die von auf Dauer angelegter und umfassender gegenseitiger Solidarität geprägt sind. In diesen weiten Familienbegriff fallen auch Paarbeziehungen zwischen Erwachsenen unabhängig von ihrem rechtlichen Status. Die Formulierung in § 11 Abs. 1 LPartG, wonach Lebenspartner_innen «Familienangehörige» sind, deutet auf ein solches Verständnis hin. Schwierig wird es dann allerdings, Familien von anderen Formen des Zusammenlebens abzugrenzen, die im Recht beispielsweise als «Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft» oder «häusliche Gemeinschaft» bezeichnet werden. Ob es sinnvoll ist, im Recht einen einheitlichen Familienbegriff zu fordern, scheint zweifelhaft. Familiäre Beziehungen sind historisch und kulturell von außerordentlicher Vielfalt geprägt und bedürfen in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlicher rechtlicher Berücksichtigung – oder unter Umständen gerade auch einer Enthaltung von rechtlicher Regulierung. Im Gegenteil scheint daher jeder Versuch, „die Familie“ rechtlich einheitlich zu regeln, unter den gegenwärtigen Bedingungen ein vollkommen aussichtsloses Unterfangen. Stattdessen ist im jeweiligen sozialen und rechtlichen Kontext zu untersuchen, welche Lebenssachverhalte konkret vorliegen und ob bzw. welcher Art der rechtlichen Regelung sie bedürfen. I. Begriffliche und empirische Grundlagen  17 / 79 II. Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft Wenn auch Paarbeziehung und Familie häufig als quasi-natürliche Vergemeinschaftungsformen der Menschen angesehen werden, lässt sich kaum leugnen, dass beide Lebensformen historisch äußerst wandelbar sind und in nicht unwesentlicher Weise durch das Recht mit konstruiert werden. Das Recht kann bestimmte Lebensweisen anerkennen, indem es rechtliche Institute wie die Ehe zur Verfügung stellt, in denen typische Konflikte um gegenseitige Rechte und Pflichten (z.B. Eigentum, Erziehungsrechte, Unterhaltspflichten, Erbansprüche) verbindlich geregelt sind. Andere Lebensweisen kann das Recht marginalisieren oder diskriminieren, indem es ihnen diese Anerkennung und Absicherung verwehrt. Recht kann aber auch paternalistisch in die Freiheit der Individuen eingreifen, indem es ihnen eine Rechtsform für ihr Zusammenleben vorgibt, die diese gar nicht anstreben. Im Mittelpunkt des Familienrechts steht bis heute die Ehe als die traditionelle Form, legitimerweise in einer Partnerschaft zu leben und eine Familie zu gründen. Auch im Verfassungsrecht wird die Ehe hervorgehoben, indem ihr neben der Familie der «besondere Schutz des Staates» zuerkannt wird (Art. 6 Abs. 1 GG). Die Ehe ist ein mit staatlicher Mitwirkung geschlossener Vertrag zwischen zwei verschiedengeschlechtlichen Personen. Gleichgeschlechtlichen Paaren wurde die rechtliche Absicherung ihrer Beziehung im Jahr 2001 durch die eingetragene Lebenspartnerschaft ermöglicht. In welchem Verhältnis Ehe und Lebenspartnerschaft rechtlich zueinander stehen, ist seither Gegenstand der rechtswissenschaftlichen und rechtspolitischen Diskussion. 1. Ungleichbehandlung von Ehe und Lebenspartnerschaft War die Lebenspartnerschaft ursprünglich noch mit gegenüber der Ehe deutlich reduzierten Rechten ausgestattet, sind die beiden Institute mittlerweile weitgehend gleichgestellt.[35] Insbesondere im Hinblick auf ein Leben mit Kindern verbleiben jedoch relevante Unterschiede:[36] 35  Zur Geschichte des Lebenspartnerschaftsrechts siehe Wapler, Die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Gutachten für die Friedrich-Ebert-Stiftung, 2015, S. 8 ff. 36  Vgl. zur weiteren Ungleichbehandlungen den Überblick in BT-Drs. 18/3031 v. 04.11.2014; BR-Drs. 259/15. II. Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft 18 / 79 (1) Anders als Eheleute können Lebenspartner_innen Kinder nicht gemeinschaftlich adoptieren. Ein_e Lebenspartner_in kann lediglich das leibliche oder adoptierte Kind der/des anderen Partner_in annehmen (Stiefkind- und Sukzessivadoption, § 9 Abs. 7 LPartG). (2) Ehepartner_innen können von den erlaubten Möglichkeiten einer künstlichen Befruchtung Gebrauch machen und sich Teile der entstehenden Kosten von der Krankenkasse erstatten lassen (§ 27a SGB V). Gleichgeschlechtliche (in diesem Fall: lesbische) Paare haben hingegen keinen rechtlich gesicherten Zugang zu medizinischen Reproduktionstechniken wie der Insemination mit Spendersamen. Zwar verbietet das ärztliche Berufsrecht die Insemination bei lesbischen Paaren in keinem Bundesland ausdrücklich; die entsprechende Musterrichtlinie der Bundesärztekammer spricht sich jedoch gegen diese Praxis aus.[37] Auch die Möglichkeit der Kostenerstattung besteht für Lebenspartner_innen nicht.[38] (3) Gleichwohl im Wege der Samenspende gezeugte Kinder befinden sich abstammungsrechtlich in einer Lebenspartnerschaft in einer deutlich unsichereren Situation als im Rahmen einer Ehe, weil der Status des Samenspenders für sie rechtlich nicht eindeutig geregelt ist (vgl. den nur für die Ehe geltenden § 1600 Abs. 5 BGB).[39] (4) Die eingetragene Lebenspartnerschaft könnte durch einfaches Gesetz wieder abgeschafft werden, nicht aber die in Art. 6 Abs. 1 GG als Institut verfassungsrechtlich garantierte Ehe. Die verbleibenden Ungleichbehandlungen werfen erhebliche gleichheitsrechtliche Fragen auf. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob eine Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Beziehungen verfassungsrechtlich möglich und rechtspolitisch sinnvoll wäre. a. Der besondere Schutz der Ehe: Gebot der Schlechterstellung anderer Lebensformen? Die Formulierung in Art. 6 Abs. 1 GG, nach der die Ehe «besonderen» Schutz des Staates genießt, weist darauf hin, dass der Ehe gegenüber anderen Lebensformen ein herausgehobener Status zukommt. Einige Verfassungsrechtler_innen vertraten daher während der 37  Vgl. Bundesärztekammer, (Muster-)Richtlinie zur Durchführung der assistierten Reproduktion. Deutsches Ärzteblatt 103 (2006), A 1392-1403, (A 1395) und die Erkenntnisse zur Praxis der Landesärztekammern in LSVD, Regenbogenfamilien – alltäglich und doch anders, 2. Aufl. 2014, S. 39 ff. Zu gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften mit Kindern siehe auch Wapler, Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften mit Kindern: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen, in: Dorett Funck/Petra Thorn (Hrsg.), Die gleichgeschlechtliche Familie mit Kindern. Interdisziplinäre Beiträge zu einer neuen Lebensform, 2010, S. 115 ff. 38  Vgl. BVerfGE 177, 316. 39  Siehe auch die Entscheidung BGH FamRZ 2013, 1209 zum Recht des Samenspenders, die Vaterschaft des Kindes anzufechten. II. Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft 19 / 79 Diskussion um das Lebenspartnerschaftsgesetz die Ansicht, alle anderen sozialen Gemeinschaften müssten gegenüber der Ehe schlechter gestellt werden. Der Eheschutz aus Art. 6 Abs. 1 GG verbiete es demnach, Lebenspartnerschaft und Ehe rechtlich gleich zu behandeln.[40] Dieser Vorstellung eines «Abstandsgebots» der Ehe zu anderen Lebensweisen hat das BVerfG in seiner Rechtsprechung zur Lebenspartnerschaft eine klare Absage erteilt.[41] Der besondere Schutz der Ehe ist vielmehr als Verbot der Schlechterstellung gegenüber nichtehelichen Lebensformen zu verstehen.[42] Demnach darf die Lebenspartnerschaft der Ehe rechtlich gleichgestellt werden, dürfte in ihrem Schutzniveau jedoch nicht über sie hinausgehen. b. Verbot der Diskriminierung der Lebenspartnerschaft gegenüber der Ehe Möglicherweise hat der Gesetzgeber jedoch nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar die Pflicht, Ehe und Lebenspartnerschaft rechtlich gleichzustellen, nämlich dann, wenn sich die Ungleichbehandlung der Lebenspartnerschaft als verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigte Diskriminierung erweist. aa. Anwendbarkeit der Diskriminierungsverbote des Art. 3 GG Dass die rechtliche Regelung der Ehe überhaupt andere Lebensformen diskriminieren könnte, hatte das BVerfG im Jahr 1993 noch verneint: Der besondere Schutz der Ehe aus Art. 6 Abs. 1 GG rechtfertige ohne Weiteres jede Privilegierung dieser Lebensform, weil jede andere Art des Zusammenlebens mit der Ehe gar nicht vergleichbar sei bzw. aus 40  Vgl. Pauly, Sperrwirkungen des verfassungsrechtlichen Ehebegriffs, NJW 1997, S. 1055 ff.; Scholz/Uhle, „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ und Grundgesetz, NJW 2001, S. 393 ff.; Krings, Die „eingetragene Lebenspartnerschaft“ für gleichgeschlechtliche Paare, ZRP 2000, S. 409 ff.; Burgi, Schützt das Grundgesetz die Ehe vor der Konkurrenz anderer Lebensgemeinschaften?, Der Staat 2000, S. 487 ff.; Pfizenmayer, Die Rechtsstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartner in der deutschen Rechtsordnung, Hamburg 2007, S. 86 ff. 41  Vgl. BVerfG DVBl. 2009, 1513: „[...] aus der Befugnis, in Erfüllung und Ausgestaltung des verfassungsrechtlichen Förderauftrags die Ehe gegenüber anderen Lebensformen zu privilegieren, lässt sich kein in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenes Gebot herleiten, andere Lebensformen gegenüber der Ehe zu benachteiligen.“ Bestätigt durch BVerfG NJW 2013, 847; BVerfG DStR 2013, 1228. Im Ergebnis ebenso Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 GG Rn. 82. 42  Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 GG Rn. 91. II. Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft 20 / 79 verfassungsrechtlicher Entscheidung heraus nicht verglichen werden dürfe.[43] In seiner Rechtsprechung zur Lebenspartnerschaft ist das Gericht von dieser Auffassung jedoch abgerückt. Es misst die rechtlichen Differenzierungen zwischen Ehe und Lebenspartnerschaft mittlerweile am Maßstab des allgemeinen Gleichheitssatzes, insbesondere im Hinblick auf eine mögliche Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung.[44] Für diese Auffassung sprechen gute Gründe: Der allgemeine Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG enthält den grundlegenden Gedanken, nach dem in einer freiheitlichen Gesellschaft rechtliche Ungleichbehandlungen nur dann zulässig sind, wenn sie durch sachliche Gründe (nicht aber beispielsweise durch Tradition, wirtschaftliche Macht oder politische Einflussnahme) gerechtfertigt sind. Der Eheschutz des Art. 6 Abs. 1 GG kann nicht so verstanden werden, dass er ein traditionelles Rechtsinstitut sakrosankt stellt. Vielmehr muss auch die nach Art. 6 Abs. 1 GG grundsätzlich zulässige Privilegierung rationaler Begründung zugänglich sein. Ungleichbehandlungen der Ehe gegenüber der eingetragenen Lebenspartnerschaft bedürfen daher eines sachlichen Grundes. bb. Diskriminierungsverbote im europäischen Recht Die Linie des BVerfG, nach der die Lebenspartnerschaft gegenüber der Ehe nicht diskriminiert werden darf, wird durch die Rechtsentwicklung im europäischen Recht unterstützt. Die Grundrechtecharta der Europäischen Union (GrCh) enthält ein allgemeines Diskriminierungsverbot, das auch Schlechterstellungen aufgrund der sexuellen Orientierung verbietet (Art. 21 GrCh).[45] Auf dieser Grundlage hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Jahr 2008 eine Diskriminierung eingetragener Lebenspartner_innen gegenüber Eheleuten wegen ihrer sexuellen Orientierung darin gesehen, dass sie nicht an den Regelungen der 43  BVerfG NJW 1993, 3058 (3058 f.): „Beschränkt die speziellere Norm des Art. 6 I GG die verfassungsrechtlich gewährleistete Eheschließungsfreiheit auf Lebensgemeinschaften von Mann und Frau, so kann es nicht zweifelhaft sein, daß eine verfassungsrechtliche Verbürgung desselben Inhalts, aber ohne die Beschränkung auf verschiedengeschlechtliche Partner, nicht aus den generelleren Normen des Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I oder aus Art. 3 I hergeleitet werden kann.“ Als nicht hinterfragbare Entscheidung für das Leitbild der verschiedengeschlechtlichen Ehe verstehen Art. 6 Abs. 1 GG bis heute Germann (Fn. 16), S. 271 f.; Badura, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, 71. EL, 2014, Art. 6 Rn. 32a; Hillgruber, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 7.7.2009 – 1 BvR 1164/07, JZ 2010, 41-44 (42). 44  Vgl. nur die beiden jüngsten Entscheidungen des BVerfG zur Sukzessivadoption (BVerfGE 133, 59) und zum Ehegattensplitting (BVerfGE 133, 377); ähnlich Stüber, Vom Gebot, die Ehe zu fördern, FPR 2006, S. 117ff. (119); für das Familiengrundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG als Maßstab für Ungleichbehandlungen Brosius-Gersdorf, Gleichstellung von Ehe und Lebenspartnerschaft, FamFR 2013, 169 ff. (170). 45  Art. 21 Abs. 1 GrCh: „Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.“ II. Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft 21 / 79 Hinterbliebenenversorgung für Eheleute teilhaben konnten.[46] Diese Entscheidung hatte erheblichen Einfluss auf die Rechtsprechung des BVerfG, die letztlich zu der heutigen weitreichenden Gleichstellung von Ehe und Lebenspartnerschaft geführt hat. Auch die EMRK hält nach der Rechtsprechung des EGMR Normen für den Schutz gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften bereit. Ein Ansatzpunkt ist Art. 8 EMRK, der ein allgemeines Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gewährt.[47] Das Zusammenleben gleichgeschlechtlicher Paare fällt nach der Rechtsprechung des EGMR unter den Schutz dieser Norm.[48] Daneben erkennt auch der EGMR die Möglichkeit an, dass eine gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft gegenüber der Ehe wegen der sexuellen Orientierung der Partner_innen diskriminiert werden kann. Das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK enthält dieses Diskriminierungsmerkmal zwar nicht ausdrücklich; jedoch fasst der EGMR die sexuelle Ausrichtung unter den Begriff des sonstigen Status i.S.d. Art. 14 EMRK.[49] Maßstab für eine Ungleichbehandlung ist für den Gerichtshof eine funktionale Betrachtungsweise: Unabhängig davon, wie die Vertragsstaaten Ehe und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft regeln, ist zu prüfen, ob verschieden- und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft im konkreten Fall dieselbe Funktion erfüllen, etwa wechselseitige Verantwortungsübernahme und Solidarität.[50] cc. Verfassungsrechtliche Bewertung der verbleibenden Ungleichbehandlungen Nicht nur nach Auffassung des EGMR (s.o.), sondern auch nach der Rechtsprechung des BVerfG gleichen sich Ehe und Lebenspartnerschaft darin, dass sie rechtliche Regeln für eine auf Dauer angelegte Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft zweier Menschen schaffen. Ihrem Zweck nach sind Ehe und Lebenspartnerschaft folglich gleich.[51] Wo rechtliche Regeln sich darauf beziehen, die gegenseitige Verantwortungsbeziehung auszugestalten, müssen Ehe und Lebenspartnerschaft gleich behandelt werden. Mit dieser 46  EuGH, 01.04.2008, C 267/06 – Maruko; siehe zu vergleichbaren Entscheidungen EuGH, 10.05.2011, C 147/08 – Römer/Hamburg; EuGH, 06.12.2012, C 124, 125, 143/11 – Dittrich, Klinke und Müller. Ausführlich zu dieser Rechtsprechung Richter, Ehe und Partnerschaft im Recht der Europäischen Union – Wie weit reicht die Bestimmungsmacht der Mitgliedstaaten? ZeuS 17 (2014), S. 301 ff. (318 ff.).; speziell zu Maruko auch Grünberger, Die Gleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Zusammenspiel von Unionsrecht und nationalem Verfassungsrecht. Das Urteil des BVerfG zur VBL-Hinterbliebenenrente, FPR 2010, 203 ff. (203 ff.). 47  Zum Wortlaut s. Fn. 29. 48  EGMR, 24.07.2003, Az. 40016/98 – Karner/Österreich. 49  EGMR, 26.02.2002, Az. 36515/97 – Fretté/France; EGMR, 22.01.2008, Az. 43546/02 – E.B./ France. 50  Vgl. dazu Richter (Fn. 46), S. 320. 51  Vgl. BVerfGE 131, 239 (261); BVerfG, JZ 2013, 833 (835): „[…] eine im Wesentlichen gleichartige institutionell stabilisierte Verantwortungsbeziehung […]“. Ähnlich EuGH, 01.04.2008, C 267/06 – Maruko. II. Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft 22 / 79 Begründung hat das BVerfG die arbeits-, beamten- und steuerrechtlichen Vorteile der Ehe nach und nach für die Lebenspartnerschaft geöffnet.[52] Der Gesetzgeber hat diese Rechtsprechung mittlerweile durch Gesetzesänderungen nachvollzogen.[53] Doch auch für Regelungen des Eltern-Kind-Verhältnisses sind sachliche Gründe für eine Ungleichbehandlung nicht zu finden. Einer mittlerweile reichhaltigen Forschungsliteratur lässt sich entnehmen, dass das Aufwachsen in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften für Kinder im Großen und Ganzen weder besser noch schlechter ist als bei verschiedengeschlechtlichen Eltern.[54] Ein rechtlicher „Generalverdacht“[55] gegen die Elternkompetenz gleichgeschlechtlicher Paare ist daher nicht angebracht. Die verbliebenen Ungleichbehandlungen von Ehe und Lebenspartnerschaft sind folglich verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen, sondern stellen einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG dar. c. Die Möglichkeit der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare Verfassungswidrige Ungleichbehandlungen sind vom Gesetzgeber zu beseitigen. Er kann dies im Fall der Lebenspartnerschaft tun, indem er Ehe und Lebenspartnerschaft rechtlich vollständig gleichstellt. Im Ergebnis wären Ehe und Lebenspartnerschaft dann zwei Rechtsinstitute unterschiedlichen Namens, aber gleichen Inhalts. Weitergehend lässt sich fragen, ob Ehe und Lebenspartnerschaft in einem einzigen Rechtsinstitut zusammengeführt werden können, ob die Ehe also für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet werden kann. aa. Die verfassungsrechtliche Diskussion Der besondere Schutz der Ehe aus Art. 6 Abs. 1 GG enthält nach allgemeiner Meinung in Rechtsprechung und verfassungsrechtlicher Literatur eine Institutsgarantie: Die Ehe genießt als Rechtsinstitut in ihren wesentlichen Strukturelementen verfassungsrechtlichen 52  Vgl. BVerfGE 131, 239 (Familienzuschlag, siehe aber die vorangegangenen ablehnenden Kammerentscheidungen BVerfG, NJW 2008, 209 und 2325); BVerfGE 124, 199 (betriebliche Hinterbliebenenversorgung); BVerfGE 126, 400 (Erbschafts- und Schenkungssteuer); BVerfG, FamRZ 2012, 1477 (Grunderwerbssteuer); BVerfGE 133, 377 (Ehegattensplitting). 53  Im Steuerrecht durch das Gesetz zur Anpassung steuerrechtlicher Regelungen an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts v. 18.07.2014, in Kraft seit dem 24.07.2014, BGBl. 2014 I, 1042. 54  Rupp (Hrsg.), Die Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften, 2009; weitere Nachweise bei Brosius-Gersdorf (Fn. 44), S. 170; Wapler (Fn. 37), S. 138 ff. Zum Problem stereotyper Vorstellungen von Elternschaft siehe Mangold, Nicht nur „kompetente Eltern“. Zur Überwindung von Stereotypen der Elternschaft und Ehe im Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19.02.2013, 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09, Streit 2013, 107 ff. (111 ff.) 55  Mangold (Fn. 54), S. 113. II. Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft 23 / 79 Schutz. Zu diesen Strukturelementen gehört, dass die Ehe eine auf Dauer angelegte[56] vertragliche Beziehung zwischen zwei Personen[57] ist, die unter Mitwirkung des Staates geschlossen wird.[58] Weitere weitgehend unstreitige Merkmale der Ehe sind die Freiwilligkeit des Eheschlusses,[59] die Gleichberechtigung der Eheleute[60] und ihr Charakter als wechselseitige und umfassende Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft[61]. Ob die Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner_innen zu den unveränderlichen Strukturmerkmalen gehört, wird hingegen seit einiger Zeit kontrovers diskutiert. Als wesentliches Argument für die notwendige Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehe wird hauptsächlich die verfassungsrechtliche Tradition angeführt: Die Autor_innen des Grundgesetzes hätten bei der Formulierung des Art. 6 Abs. 1 GG ausschließlich eine verschiedengeschlechtliche Verbindung vor Augen gehabt.[62] Die Vorstellung des historischen Verfassungsgebers ist allerdings für die Auslegung der Verfassung nicht notwendigerweise maßgeblich. Gesellschaftlicher Wandel hat in vieler Hinsicht die Verfassungsinterpretation verändert.[63] Das betrifft auch und gerade Entwicklungen, die zur Zeit der Entstehung des Grundgesetzes in den Jahren 1948 und 1949 weder absehbar noch überhaupt vorstellbar waren. Hierzu gehört die Legalisierung und weitreichende gesellschaftliche Akzeptanz 56  BVerfGE 121, 175 (198). 57  Zur Mehrehe siehe oben Fn. 19. 58  BVerfGE 29, 166. Zweifel an der Notwendigkeit der staatlichen Mitwirkung bei Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 50. 59  Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 49. 60  Zur Abschaffung des Entscheidungsvorrangs des Ehemannes siehe das Gleichberechtigungsgesetz vom 18.06.1957, BGBl. 1957 I, 609; BVerfGE 10, 59. Siehe auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Unzulässigkeit eklatant unausgewogener Eheverträge: BVerfGE 103, 89; BVerfG, NJW 2001, 2248. Allgemein zur Gleichberechtigung der Eheleute Robbers (Fn. 28), Art. 6 GG Rn. 76; Steiner, Schutz von Ehe und Familie, in: Merten/ Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, 2011, § 108 Rn. 11. 61  BVerfGE 29, 166 (176); 31, 58 (67); 62, 323 (330); 76, 1 (41 f.); Benedict (Fn. 16), S. 479 f.; Hwang (Fn. 16), S. 147; Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 43. 62  Vgl. Tettinger, Kein Ruhmesblatt für die „Hüter der Verfassung“?, JZ 2002, S. 1146 ff. (1146 ff.); Uhle, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 23. Ed. 2014, Art. 6 Rn. 4. 63  Siehe hierzu ausführlich und mit Nachweisen Wapler (Fn. 35), S. 15 ff. II. Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft 24 / 79 homosexueller Lebensweisen in Gemeinschaften mit und ohne Kinder, [64] darüber hinaus aber auch ein anderer Erkenntnisstand über Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen. Die Zweigleisigkeit von Ehe und Lebenspartnerschaft wird durch die Existenz von Inter*-und Trans*Personen in Frage gestellt. Der Erkenntnis, dass biologisches Geschlecht und Geschlechtsidentität auseinanderfallen können und sich bei manchen Menschen im Laufe des Lebens verändern, hat sich das BVerfG in seinen sogenannten Transsexuellenentscheidungen nach und nach geöffnet.[65] Das vermeintlich klare Kriterium „Geschlecht“, nach dem Ehe und Lebenspartnerschaft unterschieden werden, erweist sich in seinen Grenzen als unscharf und stellt die Legitimität einer Differenzierung generell in Frage.[66] Aus einer geschlechtertheoretischen Perspektive erweist sich die Unterteilung von Paarbeziehungen in Ehe und Lebenspartnerschaft daher als Versuch, traditionelle normative Leitbilder fortzuschreiben, indem die verschiedengeschlechtliche Ehe als verfassungsrechtlicher Normalfall und die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft als das Andere konstruiert und mit minderem Wert belegt wird.[67] bb. Internationales Recht und Rechtsvergleich Innerhalb der Europäischen Union haben mittlerweile etliche Staaten die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet. Zuerst wurde die gleichgeschlechtliche Ehe in den Nieder- 64  Vgl. die Argumentation des BVerfG zur Sukzessivadoption durch Lebenspartner _ innen, BVerfGE 133, 59 (79): „Zwar ist angesichts der damaligen Strafbarkeit und der gesellschaftlichen Verpöntheit von Homosexualität im Zeitpunkt der Entstehung des Grundgesetzes davon auszugehen, dass bei Abfassung von Art. 6 Abs. 2 GG ausschließlich an verschiedengeschlechtliche Eltern gedacht war. In der Norm liegt deshalb aber nicht eine bewusste Entgegensetzung zur Anerkennung gleichgeschlechtlicher Eltern; vielmehr lag diese schlicht außerhalb des damaligen Vorstellungshorizonts. Entsprechend konnte es damals anders als heute zur Elternschaft zweier gleichgeschlechtlicher Personen einfachrechtlich in keiner Konstellation kommen. Die Grenzen der damaligen Vorstellungswelt und des dabei unterlegten historischen Begriffsverständnisses sind indessen mit der Veränderung der rechtlichen Einordnung von Homosexualität nach und nach entfallen. Gegenüber der Situation bei Inkrafttreten des Grundgesetzes hat sich nicht nur das Gesetzesrecht, sondern auch die Einstellung der Gesellschaft zur Gleichgeschlechtlichkeit und der Lebenssituation gleichgeschlechtlicher Paare erheblich gewandelt. Zwei Personen gleichen Geschlechts als Elternpaar anzusehen, scheitert heute nicht mehr daran, dass homosexuellen Paaren rechtliche Berechtigung und Anerkennung ihrer dauerhaften Partnerschaft schlechthin verweigert würden.“ Zu einem derartigen dynamischen Verständnis der Verfassungsinterpretation siehe auch Rixen, Das Ende der Ehe? Neukonturierung der Bereichsdogmatik von Art. 6 Abs. 1 GG: ein Signal des spanischen Verfassungsgerichts, JZ 2013, 864-873 (868). 65  BVerfGE 121, 175 (190): „Das Geschlecht eines Menschen kann sich ändern. Die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht richtet sich zwar rechtlich zunächst nach den äußeren Geschlechtsmerkmalen im Zeitpunkt der Geburt. Allein danach kann sie jedoch nicht bestimmt werden. Sie hängt wesentlich auch von der psychischen Konstitution eines Menschen und seiner nachhaltig selbst empfundenen Geschlechtlichkeit ab.“ 66  Vgl. Richter (Fn. 46), S. 323 f.; ähnlich Rixen (Fn. 64). 67  Siehe die anschauliche Formulierung bei Robbers (Fn. 28), Art. 6 Rn. 17: „Das Grundgesetz schützt und fördert mit Ehe und Familie das Leben positiv empfundener Normalität.“ II. Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft 25 / 79 landen eingeführt (2001), es folgten Belgien (2003), Spanien (2005), Norwegen (2009), Schweden (2009), Portugal (2010), Island (2010), Dänemark (2012), Frankreich (2013), England und Wales (2014) sowie zuletzt nach einer Volksabstimmung Irland (2015).[68] Diese Regelungen sind mit europäischem Recht vereinbar: Im Recht der Europäischen Union gewährleistet Art. Art. 9 GrCh die Eheschließungsfreiheit. Wer eine Ehe schließen darf, richtet sich nach dem Recht der Mitgliedstaaten.[69] Art. 9 GrCh ist demnach offen für Rechtsordnungen, in denen die Ehe gleich- wie verschiedengeschlechtlichen Partner_innen zur Verfügung steht, verpflichtet die Mitgliedstaaten jedoch nicht zu einem solchen Modell.[70] Auslegungsbedürftiger ist der Begriff der Ehe in Art. 12 EMRK, in dem von «Männern und Frauen» die Rede ist.[71] Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat seine Rechtsprechung zum Ehebegriff in den vergangenen Jahren geändert: Während er die Verschiedengeschlechtlichkeit der Eheleute 1986 noch für ein zwingendes Merkmal der Ehe hielt,[72] hält er die einfachrechtliche Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare inzwischen für konventionskonform.[73] Auch nach Art. 12 EMRK haben die Staaten demnach einen entsprechenden Gestaltungsspielraum. Internationales Recht steht einer Öffnung der Ehe für alle Paare folglich nicht im Wege. d. Regelungsalternativen zur Gleichstellung aller formalisierten Paargemeinschaften aa. Gleichbehandlung gleich- und verschiedengeschlechtlicher Paarbeziehungen Die Lebenspartnerschaft wird gegenüber der Ehe in verfassungswidriger Weise ungleich behandelt. Die bestehenden Ungleichbehandlungen von Ehe und Lebenspartnerschaft sollten durch gesetzliche Gleichstellung beseitigt werden. Hierfür sind mehrere Wege denkbar: 68  Vgl. die Übersichten bei Benedict (Fn. 16), S. 484; Richter (Fn. 46) S. 304 f. 69  Art. 9 GrCh: „Das Recht, eine Ehe einzugehen, und das Recht, eine Familie zu gründen, werden nach den einzelstaatlichen Gesetzen gewährleistet, welche die Ausübung dieser Rechte regeln.“ 70  Vgl. Richter (Fn. 46), S. 311. 71  Art. 12 EMRK: „Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter haben das Recht, nach den innerstaatlichen Gesetzen, welche die Ausübung dieses Rechts regeln, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen.“ 72  EGMR, 17.10.1986, Az. 9532/81 – Rees/UK; EGMR, 27.09.1990, Az. 10843/84 – Cossey/UK. 73  EGMR, 24.06.2010, Az. 30141/04 – Schalk & Kopf/Österreich, NJW 2011, 1421; EGMR, 16.07.2014, Az. 37359/09 – Hämäläinen/Finnland. Kritisch zu dieser Rechtsprechung: Wiemann, Die Rechtsprechung des EGMR zu sexueller Orientierung. Von der (Un-)Geeignetheit des Beurteilungsspielraums der Mitgliedstaaten, ein Spannungsverhältnis zwischen zwei Konventionsrechten zu lösen – Das Urteil Schalk und Kopf gegen Österreich, EuGRZ 2010, S. 408 ff. II. Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft 26 / 79 (1) Modell 1: Angleichung von Ehe und Lebenspartnerschaft Man kann Ehe und Lebenspartnerschaft als zwei unterschiedliche Rechtsinstitute identischen Inhalts ausgestalten. Neben den in aktuellen Gesetzentwürfen bereits vorgeschlagenen Angleichungen wären dann jedenfalls die folgenden weiteren Änderungen notwendig: (a) Eingetragene Lebenspartnerschaften sollten das volle Adoptionsrecht erhalten, also ein Kind auch gemeinschaftlich adoptieren können.[74] (b) Ehen und Lebenspartnerschaften sollten beim Zugang zur assistierten Reproduktion gleichgestellt werden. Die Regelung der erlaubten Methoden der Fortpflanzungsmedizin ist bislang den Landesärztekammern vorbehalten. Hinsichtlich des gleichheitsrechtlich relevanten Zugangs zu diesen Methoden verstößt diese Verlagerung ins Satzungsrecht gegen den Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes.[75] Der Gesetzgeber sollte für den Zugang zu medizinischen Reproduktionstechniken eine gesetzliche Grundlage schaffen, wie es etwa in der Schweiz und in Österreich der Fall ist; (c) Die Krankenkassenfinanzierung der künstlichen Befruchtung (§ 27a SGB V) sollte auf eingetragene Lebenspartner_innen ausgeweitet werden. Einen Vorschlag für die vollständige Angleichung der beiden Rechtsinstitute hat im Jahr 2015 die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgelegt.[76] (2) Modell 2: Öffnung der Ehe für alle Paare Rechtspolitisch sinnvoller erscheint die Alternative, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen.[77] Man erspart sich damit eine unnötige Doppelstruktur, die zwei identische Rechtsinstitute unterschiedlichen Namens mit sich bringen und löst zugleich das Problem der Zuordnung von Inter*- und Trans*-Personen. Zudem wäre klargestellt, dass die rechtlich verfasste Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft zweier Menschen unabhängig von der Kombination der Geschlechter den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG genießt. Die Öff- 74  Vgl. Mangold (Fn. 54) S. 113 f.; Wapler (Fn. 37), S. 134 ff.; siehe auch Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts v. 19.02.2014, BT-Drs. 18/577; ein Normenkontrollantrag des AG Schöneberg, mit dem der gegenwärtige Ausschluss des Adoptionsrechts für Lebenspartner _ innen vor dem Bundesverfassungsgericht überprüft werden sollte, wurde im Januar 2014 wegen mangelnder Begründung als unzulässig zurückgewiesen, vgl. BVerfG, Beschluss v. 23.01.2014, Az. 1 BvL 2/13 und 3/13. 75  Wapler (Fn. 37), S. 139 f. 76  BT-Drs. 18/3031. 77  Vgl. schon Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen v. 30.06.2009, BT-Drs. 16/13596; BR-Drs. 196/13; Antrag der SPD-Fraktion „Recht auf Eheschließung auch gleichgeschlechtlichen Paaren ermöglichen“ v. 14.12.2011, BT-Drs. 17/8155; aus der rechtswissenschaftlichen Literatur siehe Grünberger (Fn. 46), S. 208;; Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 81, 83; dies. (Fn. 44), S. 171 f.; Mangold (Fn. 54), S. 116; Rixen (Fn. 64), S. 873. II. Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft 27 / 79 nung der Ehe wäre zudem rechtlich einfacher umzusetzen.[78] Auch für dieses Regelungsmodell liegt ein Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen aus dem Jahr 2015 vor.[79] 2. Die öffentliche Förderung der Ehe: Fortbestand traditioneller Leitbilder Aus dem besonderen Schutz von Ehe und Familie gem. Art. 6 Abs. 1 GG wird in der Zusammenschau mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) eine Pflicht des Staates abgeleitet, Ehe und Familie nicht nur gegen Beeinträchtigungen zu schützen, sondern als Institutionen positiv zu fördern.[80] Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass Ehe und Familie den Staat durch private Solidaritätsleistungen und – im Fall der Familie – die Pflege und Erziehung von Kindern entlasten.[81] Wie der Staat diese Förderung organisiert, unterliegt weitgehend seinem politischen Gestaltungsspielraum. a. Förderung von Ehe und Familie: gleichheitsrechtliche Aspekte Bei der öffentlichen Förderung privater Lebensgemeinschaften muss zwischen der Förderung der Ehe als einer Paargemeinschaft und der Familie im engeren Sinne als einem Eltern-Kind-Verhältnis differenziert werden. Denn wo es nur um die Ehe geht, darf der Staat nichteheliche und lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaften schlechter behandeln als die formal geschlossene Ehe.[82] Geht es hingegen um die Förderung von Eltern-Kind-Beziehungen, besteht ein Gleichbehandlungsanspruch aller Familienformen, der teilweise aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, teilweise unmittelbar aus Art. 6 Abs. 1 begründet wird.[83] 78  Vgl. Gesetzentwürfe BT-Drs. 18/5098, BT-Drs. 18/8. Siehe auch den Vorschlag bei Wapler (Fn. 35), S. 34 ff. 79  BT-Drs. 18/5098. 80  Vgl. BVerfGE 82, 60 (85 ff.); 99, 216 (233); 107, 205 (213); für Ableitung allein aus Art. 6 Abs. 1 ohne die Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 85 (Ehe), 129 (Familie). 81  Vgl. Brosius-Gersdorf, Demographischer Wandel und Familienförderung, 2011, S. 243 ff. 82  Coester-Waltjen (Fn. 33), Art. 6 Rn. 43; ausf. Brosius-Gersdorf (Fn. 81), S. 254 ff. 83  Vgl. für die Herleitung aus Art. 3 Abs. 1 GG BVerfGE 43, 108 (124 ff.); 47, 1 (22 ff., 29 ff.); Seiler, Grundzüge eines öffentlichen Familienrechts, 2008, S. 47; aus Art. 6 Abs. 1 Brosius-Gersdorf (Fn. 81), S. 220 ff.; und dies., in: Dreier (Fn. 16), Art. 6 Rn. 134; Pechstein, Familiengerechtigkeit als Gestaltungsgebot für die staatliche Ordnung, 1994, S. 129 ff. In seiner neueren Rechtsprechung sieht das BVerfG eine Verbindung von Art. 3 Abs. 1 und 6 Abs. 1 GG, vgl. BVerfGE 61, 319 (342 ff.); BVerfGE 82, 60 (86 ff.); BVerfGE 87, 1 (36); BVerfGE 106, 166 (175); BVerfGE 107, 205 (212). II. Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft 28 / 79 b. Das Neutralitätsgebot Bei der staatlichen Eheförderung ist zu berücksichtigen, dass nicht nur die Begründung einer Ehe, sondern auch ihre innere Ausgestaltung frei ist (Art. 6 Abs. 1 GG). Anders als in früheren Fassungen des BGB darf der Gesetzgeber keine verbindlichen Geschlechterrollen in der Ehe vorsehen oder andere Vorgaben zur Aufgabenverteilung machen. Darüber hinaus darf er keine finanziellen Anreize für eine bestimmte Rollenverteilung in der Ehe setzen und damit strukturelle Zwänge schaffen.[84] Des Weiteren ist die Pflicht des Staates aus Art. 3 Abs. 2 GG, auf die tatsächliche Gleichstellung von Männern und Frauen hinzuwirken, zu beachten. Auch die unterschiedlichen Familienformen sind grundsätzlich als gleichwertige Wege der Lebensgestaltung zu bewerten und vom Recht entsprechend zu behandeln. Diese verfassungsrechtlich gebotene Neutralität gegenüber unterschiedlichen familiären Lebensweisen macht die öffentliche Familienförderung zunehmend schwierig. Sind die Individuen in der Ausgestaltung ihres Familienlebens grundsätzlich frei, so muss auch die öffentliche Familienförderung die gewählten Lebensentwürfe grundsätzlich gleich behandeln. Ungleichbehandlungen unterschiedlicher Familienformen bedürfen einer sachlichen Rechtfertigung.[85] Das System der ehe- und familienbezogenen staatlichen Leistungen wurde im Jahr 2014 in einer umfangreichen Studie evaluiert.[86] Dabei hat sich gezeigt, dass gerade diejenigen Leistungsarten, die derzeit noch der Ehe und Lebenspartnerschaft vorbehalten sind, dem traditionellen Leitbild des Ernährer-/Hausfrauenmodells dienen und insofern im Hinblick auf das Neutralitätsgebot und die Pflicht des Staates, auf die tatsächliche Gleichberechtigung hinzuwirken, fragwürdig sind. aa. Ehegattensplitting Im Einkommenssteuerrecht haben Ehe- und seit 2013 auch Lebenspartner_innen (vgl. § 2 Abs. 8 EStG)[87] ein Wahlrecht zwischen Einzelveranlagung (§§ 26, 26a EStG) und Zusammenveranlagung (§§ 26, 26b, 32a Abs. 5 EStG). Im Verfahren der Einzelveranlagung werden die Partner_innen als je individuell Steuerpflichtige behandelt. 84  BVerfGE 6, 55 (81); BVerfG NJW 1993, 643; vgl. Brosius-Gersdorf (Fn. 81), S. 491 ff. 85  Vgl. Brosius-Gersdorf (Fn. 81), S. 292 ff.; Seiler (Fn. 83), S. 44 ff.; Huster, Die ethische Neutralität des Staates. Eine liberale Interpretation der Verfassung, 2002, S. 533. 86  Vgl. Prognos, Gesamtevaluation der ehe- und familienbezogenen Maßnahmen und Leistungen in Deutschland. Studie im Auftrag des BMF und des BMFSFJ, 2014. 87  Diese Norm geht auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 07.05.2013 zurück, vgl. BVerfGE 133, 377. Das Wahlrecht gilt in Lebenspartnerschaften rückwirkend bis 2001 (dem Jahr der Einführung des LPartG) für alle Lebenspartner _ innen, deren Veranlagung noch nicht bestandskräftig durchgeführt ist. II. Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft 29 / 79 Bei der Zusammenveranlagung gem. §§ 26, 26b EStG werden die Ehe- oder Lebenspartner_innen im Ergebnis wie ein einziger Steuerpflichtiger behandelt.[88] Dazu werden die Einkommen der Ehepartner zusammengerechnet und das Gesamteinkommen je zur Hälfte auf beidePartner_innen aufgeteilt. Beide Einkommenshälften werden nach dem Grundtarif besteuert und die sich daraus ergebenden Steuerbeträge zur Gesamtsteuerschuld addiert. Mit dem Ehegattensplitting einher geht die Doppelung des Grundfreibetrags, der auch Anwendung findet, wenn einer der Partner_innen nicht berufstätig ist. Zudem werden bei einzelnen Einkunftsarten spezielle Frei- und Pauschbeträge gewährt, die sich im Falle der Zusammenveranlagung verdoppeln und beiden Partner_innen gemeinsam gewährt werden. Damit kann ein_e Partner_in, wenn die eigenen Aufwendungen den Pauschbetrag übersteigen, auf den Pauschbetrag des/der anderen zugreifen bzw. diesen sogar allein ausnutzen. Auch beim Verlustabzug kann es durch die Zusammenrechnung der Einkünfte zu einem Ausgleich kommen, wenn die Einkünfte des einen Partners durch die Verluste des anderen ausgeglichen werden. Aufgrund der genannten Vorteile ist die Zusammenveranlagung in der Regel günstiger als die Einzelveranlagung.[89] Wird in einer Ehe- oder Lebenspartnerschaft nur ein Einkommen erzielt, wirkt sich das Ehegattensplitting in zweifacher Weise senkend auf die Steuerlast aus: Infolge des doppelten Freibetrags wird nur ein geringerer Teil des Einkommens besteuert, als dies bei einer alleinstehenden Person mit gleichem Einkommen der Fall wäre. Zudem profitieren die Partner vom angepassten Splittingtarif. Gleiches gilt, in abgeschwächter Form, bei einem hohen und einem vergleichsweise niedrigen Einkommen.[90] Aufgrund der abflachenden Progression ist die Steuerentlastung umso höher, je größer die Einkommensdifferenz zwischen den Ehegatten ausfällt. Faktische Lebensgemeinschaften können diese Begünstigung nicht in Anspruch nehmen. Diese Ungleichbehandlung wird grundsätzlich als verfassungsgemäß bewertet, da der Gesetzgeber nach Art. 6 Abs. 1 nur der Ehe zu „besonderem Schutz“ verpflichtet ist und andere Lebensgemeinschaften deswegen schlechter behandeln darf. Das Ehegattensplitting wird aber aus zwei anderen Gründen seit vielen Jahren kritisiert: (1) Der Splittingvorteil begünstigt Alleinverdienerpaare und Doppelverdienerpaare mit hohen Einkommensunterschieden gegenüber Paaren, die annähernd gleich viel verdie- 88  Vorangegangen war dem heutigen System die Haushaltsbesteuerung, wonach sich die Zusammenveranlagung von Ehepaaren steuerlich belastend auswirkte. Es wurde vom Bundesverfassungsgericht verworfen, das einen Verstoß gegen das aus Art. 6 Abs. 1 GG resultierenden Verbots der Schlechterstellung verheirateter Paare sah (BVerfGE 6, 55 [77]). 89  Vgl. Seeger, in: Weber-Grellet (Hrsg.), Einkommenssteuergesetz, 2015, § 26, Rn. 2, und die Beispiele bei Seiler, in: Kirchhof (Hrsg.), EStG, 2015, § 26a, Rn. 9 ff. 90  Haverkamp, Familienbesteuerung aus verfassungsrechtlicher und rechtsvergleichender Sicht, 2010, S. 31, siehe aber dessen Kapitel 4; Maurer, Verfassungsrechtliche Anforderungen, 2004, S. 21; Seiler (Fn. 89), § 26a, Rn. 16. II. Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft 30 / 79 nen.[91] Es setzt damit Anreize für die traditionelle Rollenverteilung in der Ehe[92] und macht es faktisch insbesondere für viele Frauen wirtschaftlich unsinnig, sich um eine eigene Existenzsicherung zu bemühen.[93] Damit verstößt das Ehegattensplitting gegen das Gebot der Neutralität staatlicher Förderung gegenüber unterschiedlichen Ausgestaltungsformen der Ehe, das sich aus Art. 6 Abs. 1 GG (Freiheit der Ausgestaltung des Ehelebens) ergibt.[94] (2) Das Ehegattensplitting führt zu einer Ungleichbehandlung formalisierter und nicht formalisierter Lebensgemeinschaften mit Kindern: Ehepaare und Lebenspartnerschaften, in denen ein_e Partner_in ganz oder teilweise auf Erwerbstätigkeit verzichtet, um Kinder zu betreuen, werden entlastet, ehe- und lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaften, die ein solches Betreuungsmodell wählen, jedoch nicht. Soweit das Ehegattensplitting als Instrument der Familienförderung gedacht ist – und dies war nach dem Willen des Gesetzgebers sein primärer Zweck[95] –, verstößt es daher gegen den Grundsatz der Gleichheit aller Familienmodelle, der sich aus Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG ableiten lässt, sowie gegen das Gebot der Gleichbehandlung nichtehelicher Kinder aus Art. 6 Abs. 5 GG.[96] Rechtspolitisch wird aus diesen Gründen seit Jahrzehnten gefordert, das Ehegattensplitting abzuschaffen und durch ein Modell zu ersetzen, bei dem Eheleute und Lebenspartner_innen grundsätzlich individuell besteuert werden. In einem solchen Modell könnte die Gleichbehandlung ehelicher und nichtehelicher Familien erreicht werden, indem man die 91  Lambrecht, in: Kirchhof (Hrsg.), EStG, 2015, § 32a, Rn. 12; Wersig, Der unsichtbare Mehrwert: Unbezahlte Arbeit und ihr Lohn, in: Foljanty, L./ Lembke, U. (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft. Ein Studienbuch, 2. Aufl. 2011, § 8 Rn. 26; Sacksofsky, Steuerung der Familie durch Steuern, NJW 2000, S. 1896 ff. (1898); Vollmer, Das Ehegattensplitting, 1998, S. 127, 220; Spangenberg, Reform der Besteuerung von Ehe und Lebenspartnerschaft. Gutachten für die Friedrich-Ebert-Stiftung, 2013; Brosius-Gersdorf (Fn. 81), S. 500 ff.; dies (Fn. 16), Art. 6 Rn. 95; Huster (Fn. 85), S. 591. 92  Vgl. hierzu bereits den gesetzgeberischen Willen, nachdem durch das Splitting u.a. die „besondere Anerkennung der Aufgabe der Ehefrau als Hausfrau und Mutter“ zum Ausdruck kommen sollte (BTDrs. III/260 S. 34). 93  Prognos (Fn. 86), S. 376 f., 380; Wersig (Fn. 91), § 8 Rn. 26; Vollmer (Fn. 91), S. 220. 94  Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 95; für einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG Vollmer (Fn. 91), S. 219 ff.; für Unvereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 Sacksofsky, Reformbedarf bei der Familienbesteuerung, FPR 2003, S. 395 ff. Für verfassungsrechtlich geboten halten das Ehegattensplitting P. Kirchhof, Ehe- und familiengerechte Gestaltung der Einkommensteuer, NJW 2000, S. 2792 ff. (2793 f.); Steiner (Fn. 60), § 108 Rn. 52. Keine Anreiz- und Steuerungswirkung zugunsten der Hausfrauenehe erkennt G. Kirchhof, Förderpflicht und Staatsferne. Die aktuellen Reformvorschläge zum Ehegattensplitting, Unterhaltsrecht und Scheidungsverfahren und der grundrechtliche Schutz von Ehe und Familie, FamRZ 2007, S. 2441 ff. (2443). 95  BT-Drs. 3/260, 34; BT-Drs. 7/1470, 222. 96  Vgl. Schumann (Fn. 9), Rn. 283 m.w.N. Der Bundesfinanzhof sieht allerdings keine gleichheitswidrige Rechtslage, vgl. BFH NJW 1990, 734; BFH BeckRS 2009, 25015573. II. Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft 31 / 79 wechselseitigen Aufwendungen für den Unterhalt von Angehörigen (insb. Kindern) unabhängig von der Lebensform steuermindernd berücksichtigt.[97] bb. Beitragsfreie Mitversicherung Auch die beitragsfreie Mitversicherung von Ehe- und Lebenspartner_innen in der Kranken- und Pflegeversicherung (§ 10 Abs. 1, § 3 S. 3 SGB V, § 25 Abs. 1, § 1 Abs. 6 S. 3, 56 Abs. 1 SGB XI) setzt Anreize insbesondere für Frauen, nicht zu arbeiten, und bevorteilt die Alleinverdienerehe gegenüber Doppelverdienerehe.[98] Seine Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Neutralität in der Ehe- und Familienförderung kann daher ebenfalls bezweifelt werden.[99] c. Regelungsalternativen Ehegattensplitting und beitragsfreie Ehegattenmitversicherung sind ehebezogene Leistungen, die Wahlfreiheit nicht fördern, sondern einschränken und Paare in eine traditionelle Rollenverteilung drängen. Sie sind im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Neutralitätsgebot und die Pflicht des Staates, auf die tatsächliche Gleichberechtigung hinzuwirken, fragwürdig. Es empfiehlt sich, sie abzuschaffen und durch lebensformenunabhängige Förderleistungen zu ersetzen. 3. Ausgleichsleistungen nach Auflösung der Ehe/ Lebenspartnerschaft Die wechselseitigen Ansprüche getrennter Partner_innen lassen sich in drei Kategorien einteilen: (1) güterrechtliche Ansprüche auf Vermögensausgleich, (2) Unterhaltsansprüche zur Deckung des täglichen Lebensbedarfs sowie (3) versorgungsrechtliche Ansprüche auf Teilhabe an der Altersvorsorge. Im Hinblick auf diese Ansprüche sind Eheleute und Lebenspartner_innen mittlerweile gleichgestellt, nicht aber die Partner_innen faktischer Lebensgemeinschaften. Die Frage, ob es auch nach der Auflösung nicht formalisierter Partnerschaften Ausgleichsansprüche gibt oder geben sollte, wird kontrovers diskutiert. Diesen und anderen Problemlagen der faktischen Lebensgemeinschaft widmen sich die folgenden Abschnitte. 97  Zu einem solchen Modell vgl. ausf. Spangenberg (Fn. 91), S. 56 ff.; Vollmer (Fn. 91), S. 230 ff. 98  Prognos (Fn. 86), S. 377, 380 f. 99  Brosius-Gersdorf (Fn. 81), S. 505 ff. II. Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft 32 / 79 III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften Ehe und Lebenspartnerschaft sind u.a. deswegen im Wesentlichen gleich zu behandeln, weil sie rechtlich formalisiert sind. Die Partner_innen haben sich bewusst und gemeinsam rechtlichen Regelungen unterworfen, mit denen wechselseitige Rechte und Pflichten begründet werden. Die Situation in nicht formalisierten Lebensgemeinschaften ist grundlegend anders, weil die Partner_innen sich gerade nicht dafür entschieden haben, ihre Partnerschaft rechtlich verbindlich auszugestalten. Die deutsche Rechtsordnung hat sich für ein Modell entschieden, nach dem nicht formalisierte Partnerschaften grundsätzlich außerrechtlichen Charakter haben.[100] Es gibt also kein Rechtsinstitut «nichteheliche Lebensgemeinschaft» bzw. «lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaft», dem feste rechtliche Konturen eigen wären. Nicht zuletzt aus diesem Grund erweist sich die Rechtslage faktischer Lebensgemeinschaften derzeit in Deutschland als außerordentlich unklar, unübersichtlich und in sich widersprüchlich. Für Menschen, die in nicht formalisierten Partnerschaften leben, ist kaum erkennbar, welche gegenseitigen Rechte und Pflichten ihr Zusammenleben herbeiführt und welche vertraglichen Ausgestaltungsmöglichkeiten ihnen zur Verfügung stehen. In den zentralen Fragen gegenseitiger Beistandspflichten, Auskunftsrechte und nachpartnerschaftlicher Ausgleichsansprüche haben sowohl die wenigen gesetzlichen Regelungen als auch die Rechtsprechung überwiegend kasuistischen Charakter und legen keine erkennbare Systematik zugrunde.[101] Rechtspolitisch kann daher kaum ein Zweifel daran bestehen, dass die Rechtsverhältnisse der nicht formalisierten Partnerschaften überdacht und überarbeitet werden sollten. In welcher Weise dies geschehen kann, wird jedoch nicht einheitlich beantwortet. Die besondere Schwierigkeit des Rechts der nicht formalisierten Lebensgemeinschaft liegt in der gelebten Vielfalt der Lebensverhältnisse. Sie verbietet es einerseits, die Regeln über die Ehe oder Lebenspartnerschaft schlicht analog anzuwenden, weil dies von den Partner_ innen möglicherweise bewusst nicht gewollt wird. Andererseits kann man aber auch nicht jeder faktischen Lebensgemeinschaft unterstellen, dass beide Partner_innen sich bewusst gegen jede rechtliche Bindung ausgesprochen haben oder die Regeln der Ehe oder Lebenspartnerschaft für sich ablehnen.[102] Dass die Partnerschaft nicht formalisiert wird, kann auch daran liegen, dass es rechtlich nicht möglich ist (weil eine_r der Partner_innen anderweitig verheiratet ist), dass die Heirat oder Verpartnerung erst für später angestrebt 100  Muscheler (Fn. 13), Rn. 490. 101  Vgl. die Kritik bei Schumann (Fn. 9), Rn. 4 f. 102  Coester, Zum Ausgleichsanspruch des Erben gegen den nichtehelichen Partner des Erblassers, JZ 2008, S. 315 f.; Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 22. Dagegen wohl Muscheler (Fn. 13), Rn. 501, nach dem ein „Rechtsbindungswille“ nicht unterstellt werden könne. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 33 / 79 wird oder die Partner_innen darauf bauen, dass der/die andere sich im Konfliktfall fair und solidarisch verhalten wird. Eine rechtstatsächliche Untersuchung in der Schweiz hat zudem ergeben, dass viele Menschen das faktische Zusammenleben für verbindlicher halten als es realiter ist, und beispielsweise davon ausgehen, auch außerhalb der Ehe oder Lebenspartnerschaft erbberechtigt zu sein.[103] Die Konsequenz sollte sein, die faktische Lebensgemeinschaft weder als einheitlichen Lebenssachverhalt zu behandeln noch als rechtsfreien Raum.[104] Ihr zentrales Merkmal ist wie bei der Ehe und Lebenspartnerschaft ihre Ausgestaltung als Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft. Diese wechselseitige Solidarität kann rechtliche Regelungen in zweierlei Hinsicht notwendig machen: Im Verhältnis der Partner_innen können wie in Ehe und Lebensgemeinschaft gegenseitige Abhängigkeiten und erhebliche wirtschaftliche Ungleichgewichte entstehen, die Regelungen zum Schutz der schwächeren Partei erforderlich machen. Im Verhältnis zum Staat geht es darum, die nichteheliche Lebensgemeinschaft konsequenter als bisher als Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft ernst zu nehmen und einen fairen Ausgleich zwischen gegenseitigen Beistandspflichten und staatlicher Anerkennung sowie staatlichem Schutz zu erreichen.[105] 1. Verfassungsrechtliche Grundlagen Dass Menschen nicht heiraten müssen, auch wenn sie wie Eheleute zusammenleben, ist Teil ihrer negativen Eheschließungsfreiheit aus Art. 6 Abs. 1 GG.[106] Miteinander zu leben, ohne die rechtlich verbindliche Form der Ehe oder Lebenspartnerschaft zu wählen, ist zudem Bestandteil der Privatautonomie, die verfassungsrechtlich durch das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG geschützt wird.[107] Wie Partner_innen ihre Bindung ausgestalten, ist grundsätzlich ebenfalls Sache ihrer freien Entscheidung. Die Privatautonomie ist daher auch dann verletzt, wenn man ihnen eine rechtliche Vergemeinschaftung gegen ihren Willen aufdrängt.[108] Zwar genießen nichteheliche und lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaften nicht den besonderen Schutz der Ehe gem. Art. 6 Abs. 1 GG und haben insofern keinen Anspruch auf Gleichbehandlung. Der Gesetzgeber darf sie jedoch gleich behandeln, wenn und soweit 103  Vgl. Cottier, Ein zeitgemäßes Erbrecht für die Schweiz, Not@Lex Sonderheft, 2014, S. 29 ff. (32). Zu einer Typisierung der Motive für das faktische Zusammenleben Schumann (Fn. 9), Rn. 20. 104  Vgl. Schwenzer, Gesetzliche Regelung der Rechtsprobleme nichtehelicher Lebensgemeinschaften?, JZ 1988, S. 781 ff. (782); Dethloff, Aufgabe des Grundsatzes des Nichtausgleichs in der nichtehelichen Lebensgemeinschaft, JZ 2009, S. 418 ff. (418). 105  Vgl. Schwab, Familienrecht, 22. Aufl. 2014, Rn. 964; Schumann (Fn. 9), Rn. 5; Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 2. 106  Vgl. Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 8. 107  Vgl. Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 7. 108  Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 2. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 34 / 79 die in ihnen geleistete wechselseitige Solidarität mit Ehen und Lebenspartnerschaften vergleichbar ist. Wo der Gesetzgeber faktischen Lebensgemeinschaften gleiche Lasten wie Ehen und Lebenspartnerschaften auferlegt, kann zudem das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 1 GG verletzt sein, wenn dem nicht auch gleiche Begünstigungen gegenüberstehen.[109] In Bezug auf Kinder sind formalisierte und nicht formalisierte Lebensgemeinschaften gleich zu behandeln, da alle Familienformen unter den Schutz der Familie des Art. 6 Abs. 1 GG fallen.[110] Nichteheliche Kinder haben zudem einen Anspruch auf Gleichbehandlung mit ehelichen Kindern aus Art. 6 Abs. 5 GG.[111] 2. Die rechtliche Situation faktischer Lebensgemeinschaften im Vergleich zu Ehe und Lebenspartnerschaft Die rechtliche Behandlung nicht formalisierter Lebensgemeinschaften ist lückenhaft, unübersichtlich und uneinheitlich. Eine Systematik lässt sich weder im Gesetz noch in der Rechtsprechung ausmachen. Die folgenden Abschnitte geben einen Überblick über die wesentlichen Aspekte der geltenden Rechtslage im Vergleich zur Rechtslage formalisierter Lebensgemeinschaften.[112] a. Steuerrecht Das Steuerrecht enthält zahlreiche Begünstigungen für Ehen, Lebenspartnerschaften und Familien. Die faktische Lebensgemeinschaft kann von diesen Entlastungen nur teilweise profitieren. aa. Ehegattensplitting Die Kritik am Ehegattensplitting wurde oben bereits dargestellt (II 2 b aa). Diese Form der steuerlichen Entlastung ist nicht nur im Hinblick auf die Ungleichbehandlung formalisierter und faktischer Lebensgemeinschaften fragwürdig. Das Ehegattensplitting unterstützt überkommene Rollenvorstellungen und setzt Anreize insbesondere für Frauen, sich in ökonomische Abhängigkeit zu begeben. Aus diesen Gründen kann nicht empfohlen werden, das Ehegattensplitting in seiner bisherigen Form auf alle Lebensgemeinschaften oder Familien 109  Vgl. Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 57. 110  BVerfGK 106, 166 (176); BVerfG NJW 2003, 3691; BVerfGE 112, 50 (65); vgl. dazu schon Schumann (Fn. 9), S. 169 ff. 111  Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 57. 112  Eine noch ausführlichere Darstellung findet sich bei Schumann (Fn. 9), Rn. 32 ff., deren Arbeiten für die Erstellung dieses Gutachtens eine außerordentlich wertvolle Hilfe waren. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 35 / 79 auszuweiten. Stattdessen sollte es abgeschafft und durch eine lebensformenunabhängige Form der Familienbesteuerung ersetzt werden. bb. Erbschafts- und Schenkungssteuer Ehegatten und Lebenspartner_innen können im Erbfall und für Schenkungen erhöhte Freibeträge in Anspruch nehmen (§§ 15 ff. ErbStG), die den Partner_innen nicht formalisierter Beziehungen nicht zur Verfügung stehen.[113] Auch diese Ungleichbehandlung wird als gleichheitswidrig kritisiert. Denn der Zweck der erhöhten Freibeträge besteht darin, das gemeinsam erwirtschaftete Vermögen der Ehe/Lebenspartnerschaft den nächsten Angehörigen auch über den Tod hinaus zu erhalten.[114] Diese Interessenlage besteht in formalisierten wie nicht formalisierten Paargemeinschaften, und dies umso mehr, wenn in ihnen Kinder aufwachsen.[115] Auch die Privilegien bei der Erbschafts- und Schenkungssteuer verstoßen daher gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung aller Familienformen aus Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG sowie das Gebot der Gleichbehandlung nichtehelicher Kinder aus Art. 6 Abs. 5 GG.[116] Rechtspolitisch wird daher gefordert, die Eheprivilegien bei beiden Steuerarten auf nicht formalisierte Lebensgemeinschaften auszuweiten.[117] cc. Kosten der Erziehung von Kindern Steuerliche Entlastungen zugunsten von Kindern wie Kindergeld (§ 64 EStG) und Kinderfreibetrag (§ 32 Abs. 6 S. 1 EStG), Kinderausbildungsfreibetrag (§ 33a Abs. 2 EStG) und die Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten (§ 10 Abs. 1 Nr. 5 EStG) bestehen unabhängig von der Verbindung der Eltern. Formalisierte und nicht formalisierte Lebensgemeinschaften werden hier also gleich behandelt. Gleiches gilt für die Berücksichtigung gesetzlicher und freiwilliger Unterhaltsleistungen als außergewöhnliche Belastungen (§ 33a Abs. 1 S. 1 EStG). Allerdings gelten diese Begünstigungen nicht für die faktische Stieffamilie: Stiefkinder werden einkommenssteuerrechtlich grundsätzlich nicht als Kinder berücksichtigt (§ 32 Abs. 1 EStG). Sonderregeln, die Stiefkinder einbeziehen, gelten nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs wiederum nur für verheiratete/verpartnerte Stiefeltern.[118] Nicht verheiratete/verpartnerte Stiefelternteile haben somit keinen Anspruch auf Kindergeld (§ 63 Abs. 1 EStG) bzw. den Kinderfreibetrag (§ 32 Abs. 6 EStG) oder den Kinderzuschlag nach § 6a BKGG, selbst wenn die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind. Freiwillige Unterhaltsleistungen an Stiefkinder werden nur dann als außergewöhnliche Belastungen 113  Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 15; zur Nichtberücksichtigung bei der Grunderwerbssteuer vgl. BFH NJW 2001, 2655. Zu weiteren punktuellen Ungleichbehandlungen im Recht siehe Schumann (Rn. 9), Rn. 4. 114  BVerfGE 126, 400 (421 ff.). 115  Zu diesem Aspekt Schumann (Fn. 9), Rn. 285. 116  Schumann (Fn. 9), Rn. 283. 117  Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 6. Aufl. 2010, S. 496. 118  BFH BeckRS 2004, 25003261. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 36 / 79 berücksichtigt, wenn das Stiefkind das Kind des Ehegatten/Lebenspartners ist. Auch diese Ungleichbehandlungen sind im Hinblick auf den Grundsatz der Gleichbehandlung aller Familienformen fragwürdig.[119] b. Sozialrecht Im Sozialrecht sind insbesondere zwei Bereiche im Hinblick auf Diskriminierungsverbote problematisch: die Ungleichbehandlung im Bereich der Sozialversicherung (aa) sowie die Anrechnung des Partnereinkommens im Rahmen von sozialen Leistungsansprüchen (bb). Ungleichbehandlungen finden sich darüber hinaus punktuell auch bei Leistungen, die sich auf die Betreuung von Kindern und die Pflege von Angehörigen beziehen (cc). aa. Sozialversicherung (1) Kranken- und Pflegeversicherung: Nicht erwerbstätige/geringverdienende Partner_innen einer nicht formalisierten Partnerschaft können nicht wie Eheleute/Lebenspartner_innen beitragsfrei in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung mitversichert werden (§ 10 Abs. 1, 2 SGB V, § 25 Abs. 1 SGB XI).[120] Eine Ausweitung dieser Begünstigung wird rechtspolitisch selten gefordert, weil sie zu erheblichen Beitragssteigerungen führen würde. Kritisiert wird vielmehr die beitragsfreie Mitversicherung als solche, weil sie wie das Ehegattensplitting Anreize insbesondere für Frauen setzt, nicht oder nicht existenzsichernd zu arbeiten. Des Weiteren bevorteilt sie die Alleinverdiener- gegenüber der Doppelverdienerehe.[121] Die Vereinbarkeit der beitragsfreien Mitversicherung mit dem Grundsatz der Neutralität in der Ehe- und Familienförderung (Art. 6 Abs. 1 GG) kann daher bezweifelt werden.[122] Die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern in der gesetzlichen Krankenkasse wird hingegen nicht in Frage gestellt. Sie gilt für nahezu alle Kinder unabhängig von der Familienform (§ 10 Abs. 2 SGB V). Lediglich nichteheliche Stiefkinder können nicht über den Stiefelternteil mitversichert werden (vgl. die Beschränkung auf Stiefkinder des Ehegatten/ Lebenspartners in § 10 Abs. 4 S. 1, 3 SGB V). (2) Rente: In der gesetzlichen Rentenversicherung werden Kindererziehungszeiten für die ersten drei Lebensjahre des Kindes unabhängig von der Familienform angerechnet (§ 3 Nr. 1 i.V.m. § 56 Abs. 1, 57 SGB VII). Hier werden formalisierte und nicht formalisierte Lebensgemeinschaften also gleich behandelt. Das Sozialgericht Kassel hat im Jahr 2008 119  Zur Kritik vgl. Schumann (Fn. 9), Rn. 289 f. 120  BVerfG FamRZ 2003, 356. 121  Prognos (Fn. 86), S. 377, 380 f. Siehe dazu schon oben II 2b, Abschnitt bb. 122  Brosius-Gersdorf (Fn. 81), S. 505 ff. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 37 / 79 auch die Betreuung eines nichtehelichen Stiefkindes als rentenrechtlich relevant anerkannt.[123] Ansprüche auf Witwenrente (§ 46 SGB VI) bestehen in nicht formalisierten Lebensgemeinschaften nach dem Tod eines/einer Partner_in nicht.[124] Hingegen bezieht das sogenannte «Familienprivileg», nach dem Versicherungsansprüche gegen Familienangehörige nicht auf den Versicherer übergehen (§ 86 III VVG, 116 VI SGB X), auch Partner_innen nicht formalisierter Lebensgemeinschaften ein.[125] bb. Die sozialrechtliche Bedarfsgemeinschaft (SGB II) Bei den staatlichen Sozialleistungen ist die Art und Weise des Zusammenlebens vor allem bei der sozialrechtlichen Bedürftigkeitsprüfung relevant, also für die Frage, ob das Einkommen der Partner_innen leistungsmindernd zu berücksichtigen ist. Bei dieser Prüfung geht es aus der Sicht des Staates darum, den Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe auch in Fällen durchzusetzen, in denen eine Person von einer anderen finanziell versorgt wird, ohne dass diese gesetzlich dazu verpflichtet ist. (1) Verfassungsrechtlich problematisch ist in diesem Zusammenhang vor allem die Konstruktion der sozialrechtlichen Bedarfsgemeinschaft im Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), weil sie mit gesetzlichen Vermutungen arbeitet: Eine Person muss sich das Einkommen einer anderen anrechnen lassen, wenn sie mit dieser in einer Bedarfsgemeinschaft lebt. Eine Bedarfsgemeinschaft liegt unter anderem dann vor, wenn nach verständiger Würdigung davon ausgegangen werden kann, dass zusammenlebende Partner_innen bereit sind, füreinander Verantwortung zu übernehmen (§ 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II). Diese Bereitschaft wiederum wird unter anderem dann vermutet, wenn die Partner_innen seit mehr als einem Jahr zusammenleben (§ 7 Abs. 3a Nr. 1 SGB II). Verfassungsrechtlich berührt die gesetzliche Vermutung, eine Einstandsgemeinschaft zu sein, das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG und kann im Verhältnis zu Alleinstehenden bzw. Alleinlebenden diskriminierende Wirkung entfalten (Art. 3 Abs. 1 GG). Sofern die Partner_innen sich tatsächlich gegenseitig finanziell unterstützen, ist die wechselseitige Anrechnung des Einkommens dadurch zu rechtfertigen, dass ansonsten Eheleute und Lebenspartner_innen, die einander zum Unterhalt verpflichtet sind, benachteiligt würden (Art. 6 Abs. 1 GG).[126] Äußern sich die Partner_innen zu 123  SG Kassel, 26.03.2008, Az. S 7 R 58/05; zustimmend Schumann (Fn. 9), Rn. 60. 124  BSG NJW 1995, 3270. Eine Verfassungsbeschwerde gegen diese Regelungen hat das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2012 als unzulässig zurückgewiesen, in der Sache also nicht entschieden (BVerfG NJW 2012, 2176). 125  Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 13. 126  Vgl. zur früheren Rechtsprechung zur eheähnlichen Gemeinschaft BVerfGE 87, 234 (263 ff.); zur jetzigen Rechtslage Brosius-Gersdorf, Bedarfsgemeinschaften im Sozialrecht. Nichteheliche und nichtlebenspartnerschaftliche Lebensgemeinschaften als Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft in den Not- und Wechselfällen des Lebens, NZS 2007, S. 410 ff. (412 f.). III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 38 / 79 dieser Frage nicht, so ist es ebenfalls verfassungsrechtlich zu rechtfertigen, anhand von Indizien eine derartige Verantwortungsgemeinschaft zu vermuten. Allerdings müssen die Kriterien so gewählt sein, dass sie zuverlässig auf gegenseitigen Beistand hindeuten. Allein die mit einem Jahr relativ kurze Dauer des Zusammenlebens dürfte dafür nicht hinreichen, weil sie keine überzeugende Abgrenzung zu einer Wohngemeinschaft oder einer unverbindlichen Beziehung möglich macht.[127] Vielmehr muss nachgewiesen sein, dass die Partner_innen jeweils so zum gemeinsamen Haushalt beitragen, dass ihr Verhalten dem von rechtlich einander Unterhaltspflichtigen nach § 1360 BGB bzw. § 5 LPartG gleichkommt.[128] Die Problematik verschärft sich dadurch, dass es kaum realistische Möglichkeiten gibt, die gesetzliche Vermutung zu widerlegen: Es ist nicht einfach zu beweisen, dass etwas nicht ist. Während beispielsweise die Existenz eines Doppelbettes, die gemeinschaftliche Nutzung von Küche und Bad, die gemeinsame Einnahme von Mahlzeiten[129] oder gar die gemeinsame Erwähnung in einer Traueranzeige[130] als überzeugende Indizien für eine Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft gewertet werden, reichen weder getrennte Konten[131] noch ein schriftlicher Partnerschaftsvertrag,[132] um gegenseitige finanzielle Unabhängigkeit zu belegen. Jedenfalls § 7 Abs. 3a Nr. 1, Abs. 3 Nr. 4 und § 9 Abs. 2 S. 2 SGB II sind daher im Hinblick auf den sozialstaatlichen Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum problematisch.[133] Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Anrechnungsregelungen sich insgesamt deutlich stärker auf den Leistungsbezug von Frauen auswirken als auf den von Männern, Frauen also häufiger wegen der Anrechnung von Partnereinkommen geringere oder keine Leistungen erhalten.[134] Darin kann eine mittelbare Diskriminierung von Frauen und mithin ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 GG gesehen werden. Die einzige realistische Möglichkeit, um der «Zwangsvergemeinschaftung» und der erzwungenen Abhängigkeit von dem/der Partner_in zu entkommen, besteht darin, den gemeinsamen Haushalt zu verlassen. Die Freiheit 127  Siehe zu verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 7 Abs. 3a Nr. 1 SGB II LSG Celle, 24.04.2014, Az. L 15 AS 358/12 ZVW; Brosius-Gersdorf (Fn. 126), S. 414. 128  Hänlein, in: Gagel, SGB II/SGB II, 58. EL Juni 2015, § 7 SGB II, Rn. 49. 129  LSG Schleswig, 22.01.2015, Az. L 6 AS 214/14 B ER. 130  LSG Celle, 05.03.2014, Az. 13 AS 206/13. 131  LSG Schleswig, 22.01.2015, Az. L 6 AS 214/14 B ER; siehe aber die differenzierteren Betrachtungen in BSGE 112, (215), wonach getrennte Haushaltskassen unter Umständen gegen die Vermutung einer Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft sprechen können (Ziff. 24). 132  LSG Celle, 05.03.2014, Az. 13 AS 206/13. 133  Vgl. SG Berlin, 20.12.2006, Az. S 37 AS 11401/06 ER. 134  Betzelt, Hartz IV aus Gender-Sicht. Einige Befunde und viele offene Fragen. WSI-Mitteilungen 6/2007, S. 298 ff. (299); ausf. Betzelt/Rust (Hrsg.), Individualisierung von Leistungen des SGB II unter Berücksichtigung der familialen Unterhaltsverpflichtungen, 2010. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 39 / 79 Alleinstehender und Alleinerziehender, neue Partnerschaften einzugehen und nach freiem Willen auszugestalten, wird hierdurch empfindlich beeinträchtigt.[135] (2) Die gesetzliche Vermutung einer Verantwortungsgemeinschaft erstreckt sich auch auf die im Haushalt lebenden Kinder (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II). Problematisch ist an der Formulierung «im Haushalt lebend», dass sie auch Stiefkinder erfasst (vgl. §§ 7 Abs. 3 Nr. 4, 9 Abs. 2 S. 2 SGB II). Der Gesetzgeber unterstellt mithin regelhaft, dass eine Person, die mit Kindern ihres Partners/ihrer Partnerin in einem Haushalt lebt, diese Kinder aus ihren eigenen Einkünften (mit) versorgt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist diese typisierende Annahme zulässig.[136] Empirische Erkenntnisse, mit denen man eine solche Vermutung untermauern könnte, liegen bislang nicht vor. Damit steigt die Gefahr, dass hinter der Vorstellung «typischer» Lebensverhältnisse starke Normalitätsvorstellungen wirksam werden, die mit der Wirklichkeit in Stieffamilien nicht notwendig übereinstimmen müssen.[137] Unabhängig davon bestehen erhebliche Widersprüche zu anderen Rechtsbereichen: (a) Stiefkinder haben gegen den Stiefelternteil keinen gesetzlichen Unterhaltsanspruch. Damit konstruiert das Recht eine Solidarpflicht, die im Innenverhältnis nicht durchgesetzt werden kann: Ob die Einkünfte in der vermuteten Bedarfsgemeinschaft also tatsächlich angemessen aufgeteilt werden, lässt sich staatlicherseits nicht kontrollieren. Im Gegenteil können die Beteiligten die gesetzliche Vermutung nicht widerlegen – anders als im Verhältnis der Erwachsenen, die dies zumindest versuchen können (s.o.). Mit dieser unwiderlegbaren gesetzlichen Vermutung einer Verantwortungsbeziehung im Stiefkindverhältnis wird lediglich die Fiktion geschaffen, das Stiefkind sei nicht hilfebedürftig.[138] (b) Sind die Stiefeltern nicht verheiratet oder verpartnert, werden die Stiefkinder steuerrechtlich gerade nicht als Kinder des Stiefelternteils berücksichtigt (s.o. III 2 a). Faktisch geleistete Unterhaltszahlungen können in dieser Konstellation nicht steuerlich abgesetzt werden, und auch Ansprüche auf Kindergeld, Kinderfreibetrag oder Kinderzuschlag bestehen nicht. (c) Erschwerend kommt hinzu, dass alle Kinder – einschließlich der Stiefkinder – nach dem SGB II bis zum Alter von 25 Jahren verpflichtet sind, im Haushalt ihrer Eltern zu leben, um Hilfebedürftigkeit zu vermeiden (§ 22 Abs. 5 SGB II). Diese Differenzierung zwischen 135  Vgl. Rust, Entlastung des Staates oder Entlastung der Familie?, in: Knickrehm/Rust (Hrsg.), Arbeitsmarktpolitik in der Krise, Festgabe für Prof. Dr. Karl-Jürgen Bieback, 2010, S. 148 ff, 156. 136  BSG NZS 2009, 634; BSG, 23.05.2013, Az. B 4 AS 67/11; krit. Wersig (Fn. 91), § 8 Rn. 46 („Zwangsvergemeinschaftung von Menschen“). 137  Vgl. Wenner, Einstandspflicht des Partners für die Kinder des anderen?, Soziale Sicherheit 2013, S. 356 f.; ders., Verfassungsrechtlich problematische Regelungen für eheähnliche Gemeinschaften und Stiefeltern, Soziale Sicherheit 2006, 146 ff. 138  Für die Verfassungswidrigkeit der Anrechnungsregel daher SG Berlin, 20.12.2006, Az. S 37 AS 11401/06 ER; siehe auch Rust (Fn. 135), S. 148; Schumann (Fn. 9), Rn. 43 f. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 40 / 79 volljährigen Personen unter und über 25 Jahren ist schon für sich genommen im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich bedenklich. Für Stiefkinder verlängert sie die Abhängigkeit von dem Stiefelternteil, die durch keinen gesetzlichen Unterhaltsanspruch abgemildert wird, noch weit über die Volljährigkeitsgrenze hinaus. (3) Alle im Rahmen einer Bedarfsgemeinschaft faktisch erbrachten Unterhaltsleistungen können als außergewöhnliche Belastungen nach § 33a Abs. 1 S. 3 EStG steuerlich geltend gemacht werden. Hier werden formalisierte und nicht formalisierte Lebensgemeinschaften einschließlich der nichtehelichen Stieffamilie rechtlich gleich behandelt.[139] cc. Die sozialrechtliche Einsatzgemeinschaft (SGB XII) Nach etwas anderen Regeln werden die Einkünfte von Partner_innen im Recht der Sozialhilfe (SGB XII) angerechnet. Hier gilt schon seit Langem der Grundsatz, dass eheähnliche Lebensgemeinschaften bei der Gewährung von Sozialhilfe nicht besser gestellt werden dürfen als Ehepaare (§ 20 SGB XII). Die gesetzliche Formulierung wurde im Jahr 2006 auf lebenspartnerschaftliche Gemeinschaften erstreckt, gilt nunmehr also für alle nicht faktischen Paarbeziehungen. § 20 SGB XII enthält keine gesetzliche Vermutung wie § 7 SGB II, die ehe- oder lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaft wird aber anhand vergleichbarer Kriterien als Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft definiert.[140] Anders als im SGB II erstreckt sich die Einstandspflicht im Recht der Sozialhilfe aber nur auf minderjährige Kinder, die mit ihrem leiblichen Elternteil in einem Haushalt leben (§ 27 Abs. 2 S. 3 SGB XII). Die im SGB II verfassungsrechtlich problematische Ausweitung auf volljährige Kinder bis 25 Jahre und auf Stiefkinder findet sich hier folglich nicht. dd. Die Haushaltsgemeinschaft Können Menschen, die in einem Haushalt zusammenleben, nicht als Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft im oben beschriebenen Sinne identifiziert werden, besteht immer noch die Möglichkeit, die gegenseitige Unterstützung im Rahmen einer Haushaltsgemeinschaft zu vermuten. Auch hier bestehen im SGB II (Grundsicherung) und SGB XII (Sozialhilfe) unterschiedliche Voraussetzungen: (1) Nach § 9 Abs. 5 SGB II gehören zur Haushaltsgemeinschaft alle Verwandten und Verschwägerten, die unter einem Dach leben. Bei ihnen wird die gegenseitige Unterstützung vermutet, «soweit dies nach deren Einkommen und Vermögen erwartet werden kann». Da die Partner_innen einer faktischen Lebensgemeinschaft weder verwandt noch verschwägert sind, fallen sie nicht unter den Begriff der Haushaltsgemeinschaft.[141] Ihre Einkünfte können folglich nicht nach dieser Vorschrift einander angerechnet werden. 139  BFH NJW 2009, 622. 140  Grube (Fn. 10), § 20 SGB XII, Rn. 9 ff. 141  Siehe die Gesetzesbegründung BT-Drs. 15/1516, 53. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 41 / 79 (2) Anders nach § 39 SGB XII: Zur Haushaltsgemeinschaft gehören nach dieser Bestimmung alle Personen, die in einer Wohnung zusammenleben. Für diese Gemeinschaft wird zum einen vermutet, dass sie gemeinsam wirtschaften, und zum anderen, dass sie sich gegenseitig finanziell unterstützen.[142] Faktische Lebensgemeinschaften, die sich noch nicht zu einer Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft im Sinne des § 20 SGB XII verfestigt haben, können als Haushaltsgemeinschaft zu gegenseitigem Beistand verpflichtet werden, sofern es ihnen nicht gelingt, die gesetzliche Vermutung zu widerlegen (§ 39 Abs. 1 S. 2 SGB XII).[143] ee. Leistungen der sozialen Förderung Während sich das faktische Zusammenleben bei den existenzsichernden Leistungen über die Konstrukte der Bedarfs-, Einsatz- und Haushaltsgemeinschaft regelmäßig leistungsmindernd auswirkt, ist die Rechtslage im Bereich der sozialen Förderung uneinheitlicher: (1) Elternzeit und Elterngeld stehen verheirateten, verpartnerten sowie faktisch zusammenlebenden Eltern ebenso zu wie Alleinerziehenden. Eine Ausnahme gilt lediglich für die nichteheliche Stieffamilie: Der Stiefelternteil hat weder Anspruch auf die steuerlichen Entlastungen (s.o.) noch auf Elternzeit oder Elterngeld. Rechtspolitisch wird gefordert, diese Ungleichbehandlung abzuschaffen und die Betreuungsleistungen von Stiefeltern nicht anders zu behandeln als die leiblicher Mütter und Väter.[144] (2) Den Anspruch auf Betreuung in der Tagespflege hat das Kind selbst; er besteht unabhängig von den Lebensverhältnissen seiner Eltern (§ 24 Abs. 2 und 3 SGB VIII). c. Erbrecht Anders als Ehe- und Lebenspartner_innen haben die Beteiligten einer nicht formalisierten Lebensgemeinschaft kein gesetzliches Erbrecht, und sie können kein gemeinschaftliches Testament aufsetzen (§§ 2265 ff. BGB, zur Erbschaftssteuer siehe bereits oben). Demgegenüber erstreckt sich die Pflicht des Erben, den «Familienangehörigen» des Erblassers, die mit ihm zusammenlebten und Unterhalt von ihm bekamen, dreißig Tage nach 142  § 39 Abs. 1 S. 1 SGB XII: „Lebt eine nachfragende Person gemeinsam mit anderen Personen in einer Wohnung oder in einer entsprechenden anderen Unterkunft, so wird vermutet, dass sie gemeinsam wirtschaften (Haushaltsgemeinschaft) und dass die nachfragende Person von den anderen Personen Leistungen zum Lebensunterhalt erhält, soweit dies nach Einkommen und Vermögen erwartet werden kann.“ 143  Schumann (Fn. 9), Rn. 48. 144  Vgl. Schumann (Fn. 9), Rn. 50. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 42 / 79 Eintritt des Erbfalls ihren Unterhalt weiter auszuzahlen («Dreißigster»), auch auf Partner_innen aus nicht formalisierten Beziehungen.[145] d. Ausgleichsansprüche nach Auflösung der Partnerschaft Nach der Auflösung der nicht formalisierten Partnerschaft bestehen grundsätzlich keine wechselseitigen finanziellen Ansprüche.[146] Dieser Grundsatz erfährt einige Durchbrechungen, die teilweise gesetzlich geregelt sind und teilweise in der Rechtsprechung entwickelt wurden. aa. Unterhaltsrecht Während des Bestehens einer Ehe oder Lebenspartnerschaft sind die Eheleute/Lebenspartner_innen einander unterhaltspflichtig (§§ 1360 ff. BGB). Eine vergleichbare Unterhaltspflicht besteht in faktischen Lebensgemeinschaften nicht. Für die Zeit nach Trennung oder Scheidung müssen zwei Arten nachpartnerschaftlichen Unterhalts differenziert werden: Eheleute und Lebenspartner_innen können Ehegattenunterhalt beanspruchen, wenn sie aus bestimmten Gründen (z.B. Alter, Krankheit, Erwerbslosigkeit) bedürftig sind (§§ 1571 ff. BGB). Dieser Ausgleich zwischen den erwachsenen Partner_innen ist nicht auf die faktische Lebensgemeinschaft übertragbar. Anders ist die Rechtslage beim Unterhalt wegen der Betreuung eines gemeinsamen Kindes. Hier greift nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Gebot der Gleichbehandlung ehelicher und nichtehelicher Kinder. Die Unterhaltsansprüche wegen der Betreuung eines gemeinsamen Kindes werden daher seit der Unterhaltsrechtsreform aus dem Jahr 2007 für getrennte Eheleute/Lebenspartner_innen (§ 1570 BGB) und nichteheliche Partner_innen (§ 1615l BGB) unter nahezu gleichlautenden Voraussetzungen gewährt.[147] 145  OLG Düss FamRZ 1983, 274. 146  St. Rspr. d. BGH, vgl. nur BGH NJW 2008, 443, Ziff. 16 und die weiteren Nachweise bei Gernhuber/Coester-Waltjen (Fn. 117), § 40 Rn. 20; Dethloff, Familienrecht, 2012, § 8 Rn. 18; Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 57. 147  Zur Kritik an der Ausgestaltung dieser Unterhaltsrechtsregeln im Hinblick auf die rechtliche Anerkennung von Care siehe Wapler, Kinderbetreuung und Erwerbsobliegenheit: Tendenzen in der neueren Rechtsprechung zum nachehelichen Unterhalt, RdJB 2014, S. 36 ff.; dies., Was kommt nach dem Altersphasenmodell? Die Erwerbsverpflichtung des alleinerziehenden Elternteils im Unterhaltsrecht und im Recht der Grundsicherung, in: Scheiwe/Wersig (Hrsg.), Einer zahlt und eine betreut? Kindesunterhaltsrecht im Wandel, 2009, S. 251 ff. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 43 / 79 bb. Versorgungsausgleich Die Regelungen des Versorgungsausgleichs, mit dem die während der gemeinsamen Zeit erworbenen Altersvorsorgeansprüche aufgeteilt werden, sind auf faktische Lebenspartner_ innen nicht anwendbar.[148] cc. Vermögensrechtlicher Ausgleich Auch die Bestimmungen des ehelichen Güterrechts gelten nicht für faktische Lebensgemeinschaften; insbesondere findet kein Zugewinnausgleich statt.[149] Für bestimmte Arten von Zuwendungen, die während der Partnerschaft geleistet wurden, gewährt die Rechtsprechung mittlerweile einen finanziellen Ausgleich. Über die mögliche Rechtsgrundlage herrscht allerdings Uneinigkeit: (1) In eng begrenzten Fällen werden hierfür die Regelungen über die BGB-Gesellschaft analog angewendet. Allerdings wird nicht schon die faktische Lebensgemeinschaft als solche als Gesellschaft angesehen. Voraussetzung ist vielmehr, dass die Partner_innen über ihre bloße Lebensgemeinschaft hinaus wertschöpfend tätig sein wollten, etwa indem sie ein Unternehmen gründeten.[150] (2) Überwiegend werden Leistungen, die im Vertrauen auf die Dauerhaftigkeit der Beziehung aufgewendet wurden, nach den Regeln der unbenannten Zuwendungen im Eherecht behandelt. Als Rechtsgrundlage wird entweder der Anspruch bei Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) oder aber der Herausgabeanspruch bei ungerechtfertigter Bereicherung (Zweckverfehlungskondiktion, § 812 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 BGB) herangezogen.[151] Der Gedanke ist in beiden Fällen folgender: Leistet eine Person im Vertrauen auf die Dauerhaftigkeit der Beziehung, so liegt dieser Leistung ein stillschweigender «familienrechtlicher Kooperationsvertrag» zugrunde. Geht die Beziehung in die Brüche, fällt diese Geschäftsgrundlage (§ 313) bzw. dieser Rechtsgrund (§ 812) weg, und es entsteht ein entsprechender Ausgleichanspruch.[152] Dieser Gedanke wird auf Vermögensübertragungen (insb. Schenkungen) wie auf Arbeitsleistungen (etwa Bau eines gemeinsamen Hauses)[153] angewendet. Im Einzelnen ist hier jedoch vieles ungeklärt. Insbesondere gibt es keine Einigkeit über die Voraussetzungen, unter denen man von einem stillschweigenden Kooperationsvertrag ausgehen kann.[154] Für die Betreuung eines gemeinsamen Kindes 148  Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 54. 149  LG Aachen NJW-RR 1988, 450 (451), Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 54. 150  BGH FamRZ 2003, 1542; BGH FamRZ 2005, 1151; bejahend Dethloff (Fn. 104), S. 418; kritisch zur Unklarheit dieses Kriteriums Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 64. 151  Ausführlich Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 67 ff.; 72 f. 152  BGHZ 165, 1 (10); BGHZ 177, 193 (199); BGH NJW 2011, 2880 (2881); BGH NJW 2012, 1789; grundsätzlich bejahend bei Kritik im Detail Dethloff (Fn. 104), S. 420; Schwab (Fn. 105), Rn. 975; Gernhuber/Coester-Waltjen (Fn. 117), S. 508 153  BGHZ 177, 193 (209); Muscheler (Fn. 13), Rn. 502b. 154  So die Kritik bei Gernhuber/Coester-Waltjen (Fn. 117), S. 507. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 44 / 79 oder auch die Pflege des Partners wird der Gedanke der unbenannten Zuwendung zudem bislang nicht angewandt. Eine zentrale Ursache für wirtschaftliche Ungleichheit nach der Trennung, die überwiegend Frauen betrifft, wird damit nicht erfasst.[155] Insgesamt ist die Rechtslage für die betroffenen Paare unübersichtlich, wenig vorhersehbar und den tatsächlichen Lebensverhältnissen nur punktuell angepasst. Für eine Reform des Rechts der faktischen Lebensgemeinschaft bestehen hier die größten rechtspolitischen Schwierigkeiten. e. Reproduktionsmedizin Nach den Richtlinien der Bundesärztekammer, die in den meisten Bundesländern Teil des ärztlichen Berufsrechts sind, sollen grundsätzlich nur Eheleute Leistungen der medizinischen Reproduktion erhalten. Nichteheliche Lebensgemeinschaften verschiedengeschlechtlicher Partner_innen müssen danach den behandelnden Ärzt_innen nachweisen, dass sie in einer stabilen Partnerschaft leben.[156] Nach § 27a SGB V werden Leistungen der künstlichen Befruchtung zudem nur bei Ehepaaren von den Krankenkassen finanziert.[157] Seit dem 07. Januar 2016 können nichteheliche (verschiedengeschlechtliche) Paare jedoch einen staatlichen Zuschuss beantragen (siehe dazu noch unten IV 1 a). f. Auskunfts-, Informations- und Zeugnisverweigerungsrechte Unterschiedliche Behandlung erleben nicht formalisierte Lebensgemeinschaften auch im Hinblick auf den Schutz ihrer engen persönlichen Bindung: Vor Gericht haben sie keine gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrechte (vgl. § 52 StPO).[158] Im Falle der Tötung der Partner_in besteht im Strafprozess kein Recht zur Nebenklage (§ 395 Abs. 2 Nr. 1 155  Vgl. die Kritik bei Dethloff, Gutachten zum 67. Deutschen Juristentag, Band 1, S. A 140. 156  Siehe hierzu die Nachweise in Fn. 37 157  BVerfGE 177, 316. 158  BVerfG NJW 1999, 1622. Dagegen genügt bereits das Versprechen, eine formalisierte Paarbeziehung eingehen zu wollen, eine zwischenzeitlich aufgelöste formalisierte Paarbeziehung oder eine Verschwägerung. Ehe und Lebenspartnerschaft entfalten hier sowohl Vor- als auch Nachwirkung, sie erstrecken das Zeugnisverweigerungsrecht sogar auf Personen außerhalb von Paarbeziehung und Verwandtschaft. Für verfassungsrechtlich geboten hält die Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechts auf nicht formalisierte Paare Schumann, (Fn. 9), Rn. 10. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 45 / 79 StPO)[159] und zivilrechtlich kein Schadensersatzanspruch (§§ 844, 845 BGB).[160] Sitzt ein_e Partner_in in Haft, so besteht kein Besuchsrecht.[161] Liegt ein_e Partner_in im Krankenhaus oder ist anderweitig nicht in der Lage, seine Angelegenheiten selbst zu regeln, so hat der/die andere keine Auskunfts-, Informations- und Vertretungsrechte. Diese Ausschlüsse sind verfassungsrechtlich kaum zu rechtfertigen, da die enge persönliche Beziehung zwar nicht nach Art. 6 Abs. 1 GG, aber in jedem Fall als Teil der Privat- und Intimsphäre gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützt ist. Eine wie auch immer geartete Reform des Rechts der nicht formalisierten Beziehungen sollte die genannten Rechte daher ohne Abstriche auf diese Lebensgemeinschaften erstrecken.[162] g. Wohnrechte Weitgehend gleichgestellt sind Lebensgemeinschaften im Hinblick auf die Nutzung von Wohnungen: (1) Der/die Partner_in einer nicht formalisierten Partnerschaft darf den/ die andere Partner_in seiner Mietwohnung wohnen lassen (§ 535 Abs. 1 S. 1 BGB).[163] Stirbt die Mieter_in, kann die Partner_in in den Mietvertrag eintreten (§ 563 Abs. 2 S. 4 BGB – «Familienangehörige, die mit dem Mieter einen gemeinsamen Haushalt führen»).[164] Auch Berechtigte eines dinglichen Wohnrechts können ihre faktischen Partner_innen in die Wohnung aufnehmen (§ 1093 Abs. 2 BGB: «Familie»).[165] Des Weiteren bestehen Ansprüche auf Zuweisung der gemeinsamen Wohnung zur Alleinnutzung nach dem Gewaltschutzgesetz unabhängig von der Formalisierung der Partnerschaft (§ 2 GewSchG). Gleiches gilt für Ansprüche auf Entschädigung nach dem Opferschutzgesetz.[166] 159  BVerfG FamRZ 1993, 781. 160  Vgl. EGMR, 23.02.2010, Az. 1289/09. 161  OLG Koblenz NStZ 2002, 529. 162  Gernhuber/Coester-Waltjen (Fn. 117), S. 496. 163  BGHZ 157, 1. 164  BGHZ 180, 272. Dieser Begriff der Haushaltsgemeinschaft erfasst auch Menschen, die nicht in einer Paarbeziehung zusammenleben, vgl. Schumann (Fn. 9), Rn. 4, und die Legaldefinition in § 39 Abs. 1 S. 1 SGB XII. 165  BGHZ 84, 36; Joost (Fn. 34), § 1093 Rn. 12; Berger (Fn. 34), § 1093 Rn. 7; für die analoge Anwendung Muscheler (Fn. 13), Rn. 494. 166  BVerfGE 112, 50. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 46 / 79 3. Möglichkeit und Grenzen vertraglicher Ausgestaltung sozialer Nahbeziehungen Da es im deutschen Recht kein rechtlich gefestigtes und ausgestaltetes Institut der „faktischen Lebensgemeinschaft“ gibt, ist zu fragen, ob und wie weit private Lebensbeziehungen vertraglich ausgehandelt werden können. Dabei bestehen grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Die Partner_innen können heiraten/sich verpartnern und die gesetzlichen Folgen dieses Aktes durch einen Ehe- bzw. Lebenspartnerschaftsvertrag modifizieren. Die Alternative ist, auf eine Heirat zu verzichten und die Partnerschaft individuell vertraglich auszugestalten. Beide Optionen sind im deutschen Recht aufgrund der allgemeinen Vertragsfreiheit (Privatautonomie, Art. 2 Abs. 1 GG, im Falle der Ehe auch der Ausgestaltungsfreiheit aus Art. 6 Abs. 1 GG[167]) grundsätzlich möglich, unterliegen jedoch rechtlichen Grenzen. a. Ausgestaltung der Ehe durch Ehe- oder Lebenspartnerschaftsvertrag Dass Eheverträge grundsätzlich zulässig sind, ergibt sich aus Art. 6 Abs. 1 GG. Über die bereits erwähnte Institutsgarantie hinaus enthält diese Norm ein Freiheitsrecht der Eheleute, ihr Zusammenleben ohne staatliche Einmischung nach ihren Vorstellungen zu gestalten (Ausgestaltungsfreiheit).[168] Dem Grundsatz nach herrscht auch in der Ehe daher Vertragsfreiheit, und die gesetzlichen Vorschriften sind frei ausgestalt- und abdingbar. Begrenzt wird diese Freiheit durch die Pflicht des Staates, die Ehe zu schützen, die sich ebenfalls aus Art. 6 Abs. 1 GG ergibt («[ ] steht unter dem besonderen Schutz des Staates.»). Die staatliche Schutzpflicht bezieht sich nicht nur auf Bedrohungen durch den Staat selbst, sondern auch auf solche, die sich im Innenverhältnis der Eheleute ergeben, sofern sie eine gewisse Schwelle der Zumutbarkeit überschreiten.[169] Mit dieser staatlichen Schutzpflicht wird die staatliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen begründet und gleichzeitig auf Fälle eklatant gestörter Vertragsparität begrenzt.[170] Maßstab ist dabei der Schutzzweck der gesetzlichen Regelungen zum Ehegüterrecht und nachehelichen Unterhalt. Nach der Rechtsprechung des BGH wird dieser Schutzzweck dann unterlaufen, wenn durch die vertragliche Vereinbarung eine evident einseitige und durch die individu- 167  BVerfG FamRZ 2001, 343 (346). 168  Zu diesem vgl. ausf. Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 115 ff. 169  Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 48. 170  BVerfGE 103, 89, Ziff. 30 ff.; BVerfG NJW 2005, 2384; vgl. Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 90. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 47 / 79 elle Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse nicht gerechtfertigte Lastenverteilung entstünde.[171] Eine solche Situation wird vor allem dann angenommen, wenn eine Partei strukturell unterlegen ist, etwa weil sie wirtschaftlich schwächer dasteht oder wegen der Betreuung kleiner Kinder oder gesundheitlicher Probleme nicht erwerbstätig sein kann.[172] Eheleute und Lebenspartner_innen (§§ 7, 16 S. 2 LPartG) können ihre güterrechtlichen Verhältnisse (§ 1408 BGB) einschließlich des Versorgungsausgleichs (§ 1408 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 ff. VersAusglG sowie den nachehelichen Unterhalt (1585c BGB) vertraglich regeln und dabei die gesetzlichen Vorschriften ganz oder teilweise abbedingen. Ehe- und Lebenspartnerschaftsverträge bedürfen im Regelfall der notariellen Beurkundung (§§ 1410, 1585c S. 2 BGB, § 7 VersAusglG). Im Einzelnen sind im Rahmen der oben genannten Grenzen der Fairness insbesondere folgende Vereinbarungen zulässig: (1) Der gesetzliche Güterstand der Zugewinngemeinschaft kann vertraglich durch die Gütertrennung (§ 1414 BGB) oder die Gütergemeinschaft (§§ 1415 ff. BGB) ersetzt werden. (2) Bleibt es bei dem gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft, so kann dieser frei abgeändert werden,[173] etwa indem man einzelne Vermögensgegenstände (z.B. eine Immobilie oder ein Unternehmen) von ihm ausnimmt.[174] Die Zugewinngemeinschaft kann aber auch ohne Vereinbarung eines anderen Güterstandes ganz ausgeschlossen werden.[175] Streitig ist, ob auf den Zugewinnausgleich einseitig verzichtet werden kann.[176] (3) Auch der gesetzliche Güterstand der Gütergemeinschaft kann an die individuellen Bedürfnisse angepasst werden.[177] (4) Der Versorgungsausgleich kann modifiziert oder ganz ausgeschlossen werden (§ 6 Abs. 1 VersAusglG). (5) Die gesetzlichen Vorschriften über nacheheliche Unterhaltsansprüche der Partner_innen[178] können im Verhältnis zwischen den Eheleuten abgeändert (modifizierende 171  BGH FamRZ 2004, 930; FamRZ 2005, 1444; 2006, 1359; 2009, 1041. 172  BVerfG NJW 2001, 957, 2248; siehe aber die Kritik bei Muscheler (FN. 13), Rn. 447. 173  BGH 86, 143 (151). 174  BGH FamRZ 1997, 800; OLG Stuttgart DNotZ 1983, 693; OLG Karlsruhe DNotZ 2010, 140. 175  Kanzleiter, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2013, § 1408 Rn. 14 m.w.N. 176  Dafür: OLG Stuttgart DNotZ 1983, 693; Kanzleiter (Fn. 175), § 1408 Rn. 14; dagegen Gernhuber/ Coester-Waltjen (Fn. 117), § 32 Abs. 3 S. 5. 177  Einzelheiten bei Kanzleiter (Fn. 175), § 1408 Rn. 14 m.w.N. 178  Ein Verzicht auf den Kindesunterhalt ist nicht möglich, vgl. § 1614 Abs. 1 BGB und BGH FamRZ 1986, 444; auch ein Teilverzicht ist unzulässig, vgl. OLG Hamm FamRZ 2010, 2000. Ein Elternteil kann den anderen zwar im Innenverhältnis von der Unterhaltspflicht freistellen, der gesetzliche Anspruch des Kindes bleibt von einer solchen Vereinbarung jedoch unberührt, vgl. BGH FamRZ 1986, 444; OLG Stuttgart NJW-RR 2007, 151; OLG Hamm FamRZ 1999, 163. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 48 / 79 Vereinbarung) oder ganz abbedungen und eigenständig vertraglich geregelt werden (novierende Vereinbarung).[179] Der individuellen Regelung zugänglich sind letztlich alle Aspekte des Unterhaltsrechts, insbesondere die Art und Weise der Gewährung, die Grundlage der Berechnung und die Höhe des Unterhalts.[180] Unterhaltsansprüche können zeitlich befristet werden.[181] Auch ein vollständiger Verzicht ist grundsätzlich möglich.[182] b. Vertragliche Vereinbarungen bei nicht formalisierter Lebensgemeinschaft Das Recht nichtehelicher und nichtlebenspartnerschaftlicher Gemeinschaften, ihre Angelegenheiten vertraglich zu regeln, ergibt sich aus ihrer Vertragsfreiheit, die wiederum ihrer verfassungsrechtlich geschützten Privatautonomie entspringt (Art. 2 Abs. 1 GG). Hier liegt die verfassungsrechtliche Grenze naturgemäß nicht im besonderen staatlichen Schutz der Ehe, sondern in den allgemeinen Grenzen der Vertragsfreiheit, insbesondere der Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB) sowie des Prinzips von Treu und Glauben (§ 242 BGB).[183] Inhaltlich unterscheidet sich die Kontrolle partnerschaftlicher Vereinbarungen wenig von der Kontrolle von Eheverträgen. Auch hier geht es darum, den strukturell unterlegenen Teil vor einer unangemessenen Übervorteilung zu schützen.[184] Im Einzelnen ist hier vieles noch ungeklärt oder umstritten. Grundsätzlich sind insbesondere folgende Arten von Vereinbarungen möglich: (1) Für die Zeit des Zusammenlebens können vermögensrechtliche Fragen geklärt werden, etwa ob größere Vermögensgegenstände gemeinschaftlich erworben werden oder im jeweils getrennten Eigentum verbleiben.[185] Eine gemeinschaftliche Eigenheimfinanzierung kann beispielsweise auf diese Art vertraglich abgesichert werden. (2) Für die Zeit nach der Trennung kann beispielsweise vereinbart werden, dass die Regeln über den nachehelichen Zugewinnausgleich gelten sollen.[186] 179  Hammermann, in: Johannsen/Henrich, Familienrecht, 6. Aufl. 2015, § 1585c Rn. 16. 180  BVerfG FAmRZ 2004, 601 (604); BGH FamRZ 2012, 699 (700); Hammermann (Fn. 179), § 1585c Rn. 16. 181  Hammermann (Fn. 179), § 1585c Rn. 24; Maurer, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2013, § 1585c Rn. 16. 182  BGH FamRZ 2014, 629 (632); Gernhuber/Coster-Waltjen (Fn. 117), § 30 Rn. 176; Maurer (Fn. 181), § 1585c Rn. 21. 183  Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 25. 184  Dethloff (Fn. 155), S. A 140 ff. 185  Gernhuber/Coster-Waltjen (Fn. 117), S. 501. 186  Gernhuber/Coster-Waltjen (Fn. 117), S. 501; Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 54. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 49 / 79 (3) Auch gegenseitige Unterhaltsansprüche oder Abfindungen für den Fall der Auflösung der Partnerschaft können festgelegt werden.[187] Solche Abreden für die Zukunft sind allerdings – anders als im Ehe- und Lebenspartnerschaftsrecht – schenkungssteuerpflichtig.[188] Zudem dürfen sie anderweitige gesetzliche Unterhaltsansprüche, etwa aus einer früheren oder noch bestehenden Ehe, nicht beeinträchtigen.[189] (4) Vertretungs- und Informationsrechte für den Fall der Krankheit, Bewusstlosigkeit und den Todesfall können mit den Instrumenten der Patientenverfügung (§§ 1901a ff. BGB), der Betreuungsverfügung (§ 1897 Abs. 4 BGB) sowie der Vorsorgevollmacht bestimmt werden.[190] Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht bedürfen der Schriftform (§§ 1901a Abs. 1 S. 1, 1905 Abs. 5 BGB); alle diese Erklärungen sollten aber der Rechtssicherheit halber notariell beurkundet werden.[191] Die Vorsorgevollmacht kann zusätzlich in das zentrale Vorsorgeregister bei der Bundesnotarkammer eingetragen werden. (5) Erbrechtliche Verfügungen können durch abgesprochene Einzeltestamente oder aber durch einen gemeinsamen Erbvertrag geregelt werden.[192] Anders als bei der Ehe erlischt ein Erbvertrag allerdings nicht automatisch, wenn die Partnerschaft endet (vgl. § 2077 BGB),[193] muss nach einer Trennung folglich aufgehoben bzw. abgeändert werden. Nicht vertraglich vereinbart werden können gesetzlichen Vergünstigungen für Ehe- und Lebenspartner_innen wie das Recht, einen gemeinsamen Namen zu tragen, das Recht der Zeugnisverweigerung, die beitragsfreie Mitversicherung in der Kranken- und Pflegeversicherung oder steuerliche Vorteile wie das Ehegattensplitting. Gesetzliche Unterhaltspflichten gegenüber Dritten sowie das gesetzliche Pflichtteilsrecht im Erbfall können vertraglich ebenfalls nicht modifiziert werden. 4. Alternative Regelungsmodelle Die bestehende Rechtslage der nicht formalisierten Lebensgemeinschaften ist unübersichtlich und inkonsistent. Zwar gibt es die Möglichkeit, einen Partnerschaftsvertrag zu schließen und der Paarbeziehung damit auch ohne Ehe oder Lebenspartnerschaft einen rechtlich verbindlichen Rahmen zu schaffen, doch werden diese Instrumente nach empi- 187  Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 37. 188  Wellenhofer (Fn. 15), Rn. 37; Muscheler (Fn. 13), Rn. 496. 189  Schwab (Fn. 105), Rn. 990; Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 49 f. 190  Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 48. 191  Kristic, in: Schulze/Grziwotz/Lauda, BGB, Vertrags- und Prozessformularbuch, 2. Aufl. München 2014, § 164 BGB Rn. 95. 192  Gernhuber/Coster-Waltjen (Fn. 117), S. 502. 193  OLG Celle, FAmRZ 2004, 310. Für analoge Anwendung der eherechtlichen Vorschrift Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 50. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 50 / 79 rischen Erkenntnissen nur von sehr wenigen Paaren genutzt.[194] Angesichts der engen wirtschaftlichen Verflechtungen in vielen faktischen Lebensgemeinschaften, in denen gemeinsam gewirtschaftet wird, in denen Kinder aufwachsen und Partner_innen zugunsten von Care-Arbeit auf Erwerbstätigkeit und berufliche Weiterentwicklung verzichten, kann die Absicherung der Partner_innen in faktischen Lebensgemeinschaften nicht der Privatautonomie überlassen bleiben, sondern bedarf gesetzlicher Regelungen.[195] Dabei steht das Recht vor der Schwierigkeit, einerseits die strukturell und wirtschaftlich schwächere Partei wirksam zu schützen, andererseits aber der Vielfalt der Lebensverhältnisse gerecht zu werden und die Freiheit der Lebensgestaltung nicht unnötig einzuschränken. a. Grundsätze für ein Recht der faktischen Lebensgemeinschaften Die maßgeblichen Grundsätze, denen eine Neuregelung des Rechts der nicht formalisierten Paargemeinschaft genügen sollten, sind folgende: (1) Alle Leistungen, die einen Ausgleich für die Betreuung von Kindern verschaffen sollen, sind für alle Kinder gleich auszugestalten. Der Kindesunterhalt und der Unterhalt wegen der Betreuung eines Kindes müssen daher unabhängig von der Art der Elternbeziehung ausgestaltet werden. Dieser Grundsatz ist im deutschen Recht weitgehend umgesetzt. (2) Die faktische Partnerschaft sollte im Außenverhältnis so behandelt werden, dass wirtschaftliche Be- und Entlastung in einem angemessenen Verhältnis stehen. Insbesondere sozial- und steuerrechtliche Regelungen sind daher sorgfältig aufeinander abzustimmen. (3) Wo Paare sich im Innenverhältnis gemeinsam für eine bestimmte Rollenverteilung entscheiden, tragen sie auch nach Auflösung der Partnerschaft gemeinsam Verantwortung für die Folgen dieser Entscheidung. Das Recht muss daher Mechanismen bereithalten, die einen Ausgleich dafür bieten, wenn sich während der gemeinsamen Zeit erhebliche wirtschaftliche Unwuchten ausgebildet haben. (4) Aus dem Fehlen einer vertraglichen Regelung darf nicht ohne Weiteres darauf geschlossen werden, dass eine rechtliche Bindung nicht gewollt ist.[196] Auf der anderen Seite aber sind Paare, die ausdrücklich auf rechtlichen Schutz verzichten, in dieser Entscheidung ernst zu nehmen. Wo ein Nichtehelichenrecht also an das Bestehen einer faktischen Lebensgemeinschaft Folgen knüpft, muss es die Möglichkeit geben, sich verbindlich gegen diese Folgen zu entscheiden (Opt-Out). 194  Dethloff (Fn. 155), S. A 20 spricht von etwa 10% aller faktischen Paargemeinschaften, die vertragliche Regelungen getroffen haben. 195  Dethloff (Fn. 155), S. A 41. 196  Vgl. Dethloff (Fn. 155), S. A 137 f. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 51 / 79 In vielen europäischen und außereuropäischen Staaten sind in diesem Kontext den letzten Jahren sehr unterschiedliche rechtliche Regelungen geschaffen worden. Dabei können zwei Modelle unterschieden werden: Man kann die Rechtswirkungen, die an faktisches Zusammenleben geknüpft werden, erweitern, systematisieren und gesetzlich ausdrücklich regeln (unten b). Die Alternative ist, ein neues Rechtsinstitut neben Ehe und Lebenspartnerschaft zu schaffen, mit dem die Partner_innen ihr Zusammenleben auf eine rechtlich verbindliche Grundlage stellen können (unten c). b. Modell 1: Erweiterte Rechtswirkungen der nicht formalisierten Lebensgemeinschaft (Opt Out) aa. Rechtsvergleichender Überblick Einige europäische Staaten (u.a. Norwegen, Kroatien, Portugal, Schweden, Slowenien und Spanien) sowie außerhalb Europas Neuseeland, Teile Australiens und einige Provinzen Kanadas haben die Lebensverhältnisse nicht formalisierten Zusammenlebens umfassender geregelt als Deutschland, ohne diesen Lebensgemeinschaften damit aber den Status eines weiteren formalisierten Rechtsinstituts neben Ehe und ggf. Lebenspartnerschaft zu geben.[197] Anknüpfungspunkt für Rechtswirkungen ist in diesen Modellen das faktische Zusammenleben, das zumeist eine gewisse Dauer von einem bis drei Jahren erreicht haben muss; teilweise werden zusätzliche Kriterien aufgestellt.[198] In allen Fällen jedoch ist keine Registrierung erforderlich, die Partnerschaft muss also nicht formalisiert werden, um Rechtswirkungen zu entfalten. Welche Rechtswirkungen eintreten (können), ist in den jeweiligen Rechtsordnungen unterschiedlich ausgestaltet. Sie betreffen beispielsweise güterrechtliche Regelungen für die Zeit des Bestehens der Partnerschaft, sowie vermögensrechtliche Normen für den Fall der Trennung oder auch gesetzliche Erbrechte. In einigen Staaten (Slowenien, Australien, Neuseeland) werden die Normen des Eherechts mehr oder weniger weitreichend analog angewendet, sofern die Voraussetzungen der nichtehelichen bzw. nichtpartnerschaftlichen Lebensgemeinschaft vorliegen.[199] Demgegenüber hat Schweden die Rechtswirkungen faktischen Zusammenlebens in einem eigenen Gesetz geregelt.[200] Den meisten dieser Regelungen ist gemeinsam, dass das Bestehen einer faktischen Lebensgemeinschaft an objektivierbare Kriterien geknüpft wird, die Partner_innen jedoch die Möglichkeit haben, in 197  Vgl. für einen Überblick Dethloff (Fn. 155), S. A 35 ff.; Cottier (Fn. 103), S. 33; Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 19 ff. 198  Cottier (Fn. 103), S. 33; Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 19. 199  Vgl. für Australien und Neuseeland Cottier (Fn. 103), S. 33; für Slowenien Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 19; Novak, in: Kroppenberg et al. (Hrsg.), Rechtsregeln für das nichteheliche Zusammenleben, 2008, S. 265 ff. 200  Vgl. Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 19. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 52 / 79 einem individuellen Partnerschaftsvertrag auf die gesetzlichen Rechtsfolgen zu verzichten (opt-out-Modell).[201] In Deutschland hat die Bundestagsfraktion der Grünen 1997 ein derartiges Modell vorgeschlagen: Danach sollten an das faktische Zusammenleben gleich- wie verschiedengeschlechtlicher Partner_innen unter bestimmten Voraussetzungen Rechtswirkungen geknüpft werden. Für weitere Vergünstigungen sollte Paaren zudem die Option gegeben werden, sich als nichteheliche Lebensgemeinschaft registrieren zu lassen.[202] Für das Schweizer Recht wurde im vergangenen Jahr ein Vorschlag vorgelegt, die faktische Lebensgemeinschaft gesetzlich zu definieren und eine Reihe von Rechtswirkungen des faktischen Zusammenlebens ausdrücklich zu normieren.[203] bb. Verfassungsrechtliche Bewertung Eine gesetzliche Regelung, die an das Bestehen einer faktischen Lebensgemeinschaft gewisse Rechtswirkungen knüpfen, begegnet keinen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken. Bei der Ausgestaltung eines solchen Modells wäre auf der einen Seite zu berücksichtigen, dass tatsächlich gelebte eheähnliche Solidarität im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) nur dann gegenüber Ehe und Lebenspartnerschaft schlechter gestellt werden darf, wenn gerade die rechtliche Verfestigung der formalisierten Partnerschaft dies sachlich rechtfertigt. Auf der anderen Seite ist zu bedenken, dass Paare, die eine rechtlich verbindliche Gemeinschaft gerade nicht möchten, nicht gegen ihren Willen in eine solche gezwungen werden dürfen (Art. 2 Abs. 1 GG). cc. Regelungsmöglichkeiten in Deutschland Wollte man ein solches Modell in Deutschland etablieren, so müsste man zum einen die faktische Lebensgemeinschaft definieren und zum anderen festlegen, welche Rechtsfolgen an ihr Bestehen zu knüpfen sind. (1) Gesetzliche Definition der faktischen Lebensgemeinschaft Eine gesetzliche Regelung könnte sich an dem Modell orientieren, das Cottier für die Schweiz vorgeschlagen hat.[204] Danach besteht eine faktische Lebensgemeinschaft dann, wenn zwei Personen gleichen oder verschiedenen Geschlechts als Paar (bzw. nach anderen Vorschlägen: in enger emotionaler Verbundenheit)[205] zusammenleben und mindestens eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt ist: 1. Mindestdauer: Die Wirkungen der faktischen Lebensgemeinschaften können eintreten, wenn ein Paar über eine bestimmte Zeit zusammenlebt. Hier sind längere oder kürzere 201  Cottier (Fn. 103), S. 33. 202  BT-Drs. 13/7228. 203  Cottier (Fn. 103), S. 35. 204  Cottier (Fn. 103), S. 35. 205  Vgl. Dethloff (Fn. 155), S. A 145. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 53 / 79 Fristen denkbar, je nachdem, welche wirtschaftlichen Folgen an die Annahme einer faktischen Lebensgemeinschaft geknüpft werden. Cottier schlägt drei Jahre vor. Im europäischen Rechtsvergleich sind Fristen von einem Jahr bis drei Jahren üblich.[206] 2. Zusammenleben mit gemeinsamen Kindern: Lebt ein Paar mit gemeinsamen Kindern zusammen, kann man unterstellen, dass ihre Lebensverläufe organisatorisch wie wirtschaftlich eng verflochten sind und das Bedürfnis nach rechtlicher Absicherung ohne Einhaltung einer Frist unmittelbar besteht.[207] 3. Faktische Solidarleistungen: In dem Vorschlag von Cottier findet sich als drittes Kriterium, dass die Partner_innen sich in erheblichem Ausmaß tatsächlich gegenseitig wirtschaftlichen Beistand leisten. Auch dann sollen die Rechtswirkungen der faktischen Lebensgemeinschaft ohne das Erfordernis einer Frist eintreten. Dieses Kriterium kann im Innenverhältnis dann Wirkungen entfalten, wenn ein_e Partner_in der anderen bereits vor dem Ablauf der Mindestfrist erheblich finanziell beisteht, etwa erhebliche Teile des Lebensbedarfs oder eine Ausbildung finanziert. Es kann aber auch dann eintreten, wenn die Paargemeinschaft sozialrechtlich als Einstandsgemeinschaft behandelt wird (s.o.). (2) Rechtsfolgen Der Zuschnitt der Rechtsfolgen muss von dem Grundgedanken getragen sein, dass der Zweck der gesetzlichen Regelung darin besteht, minimale Gerechtigkeitsbedingungen für eine wechselseitige Solidaritätsbeziehung zu erreichen. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass die Beteiligten gerade keine Ehe bzw. Lebenspartnerschaft geschlossen haben. Es fehlt eine förmliche Erklärung, dauerhaft füreinander einstehen zu wollen. Der wesentliche Unterschied zur Ehe besteht demnach in der fehlenden Verpflichtung zu einer potentiell lebenslangen Gemeinschaft. Dieser Unterschied muss sich im Recht niederschlagen. Die Rechtsfolgen der faktischen Lebensgemeinschaft sollten sich daher drauf beschränken, die soziale Nähe und wechselseitige Verantwortung für die Zeit des Bestands der Gemeinschaft abzusichern (einschließlich klarer Regeln für die Abwicklung nach Trennung), auf die Regelung nachpartnerschaftlicher Solidarität jedoch verzichten. Im Einzelnen führt dies zu folgenden Konsequenzen: (1) Die Zeugnisverweigerungsrechte für Eheleute und Lebenspartner_innen sollten auf die Partner_innen einer faktischen Lebensgemeinschaft ausgeweitet werden. (2) Im Falle von Abwesenheit, Krankheit und Tod sollten faktische Partner_innen Auskunfts-, Informations- und Vertretungsrechte erhalten. (3) Die Eheprivilegien bei der Erbschafts- und Schenkungssteuer sollten auch für faktische Lebensgemeinschaften gelten. 206  Vgl. Dethloff (Fn. 155), S. A 146. 207  Vgl. Dethloff (Fn. 155), S. A 146. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 54 / 79 (4) Was die übrigen steuerlichen Entlastungen betrifft, sollte eine Reform des Nichtehelichenrechts mit einer grundlegenden Reform des Ehe- und Familiensteuerrechts einhergehen, in der insbesondere das Ehegattensplitting in seiner bisherigen Form abgeschafft wird. Eine Ausweitung auf die faktische Lebensgemeinschaft kann nicht empfohlen werden. (5) Da das Bestehen der faktischen Lebensgemeinschaft ausdrücklich das Bestehen einer tatsächlichen (und nicht nur vermuteten) Verantwortungsgemeinschaft voraussetzt, würde sie sozialrechtlich als Einstandsgemeinschaft behandelt werden, also gegenseitige finanzielle Beistandspflichten begründen. Die Voraussetzungen der Bedarfs- und Einstandsgemeinschaft sollten an die Definition der nichtehelichen Lebensgemeinschaft angepasst werden. Eine in sich konsistente Regelung müsste die sozialrechtlichen Beistandspflichten mit Ansprüchen im Innenverhältnis und steuerrechtlichen Entlastungen absichern. Faktische Lebenspartner_innen müssten also gegenseitige Ansprüche auf Beistand in finanzieller Not geltend machen und tatsächliche Unterhaltsleistungen steuerlich absetzen können. Demgegenüber sollten Stiefkinder sozialrechtlich nur dann in die Bedarfsgemeinschaft mit ihrem Stiefelternteil gerechnet werden, wenn der Stiefelternteil tatsächlich Unterhalt leistet. (6) Dies impliziert, dass faktische Lebenspartner_innen einander während des Bestands der Lebensgemeinschaft unterhaltspflichtig sein müssten. Für die Zeit nach der Trennung hingegen sind keine Unterhaltsansprüche unter den erwachsenen Partner_innen vorzusehen, sofern keine gemeinsamen Kinder zu betreuen sind. Für den Fall, dass nach der Trennung gemeinsame Kinder zu betreuen sind, gibt es bereits Regelungen zum Kindes- und Betreuungsunterhalt, die aufrecht erhalten werden müssten. (7) Notwendig erscheint es demgegenüber, für die Zeit nach der Trennung einen güterrechtlichen Ausgleich vorzunehmen. Die Regeln des ehelichen Güterrechts entsprechend anzuwenden, wäre regelungstechnisch einfach, verfehlte aber vermutlich die Bedürfnisse vieler faktischer Lebensgemeinschaften. Der eheliche Zugewinnausgleich nimmt die Vermögenslage bei der Eheschließung zum Ausgangspunkt – ohne eine förmliche Registrierung der Partnerschaft fehlt bei der faktischen Gemeinschaft schon dieser konkrete Zeitpunkt. In der Lebenswirklichkeit entwickeln sich faktische Lebensgemeinschaften zumeist schrittweise in eine immer engere Verbindung, so dass ein klarer «Startpunkt» für den Vermögensausgleich kaum zu ermitteln ist. Sinnvoller scheint es deswegen, an die bisherige Rechtsprechung zu den nachpartnerschaftlichen Ausgleichsansprüchen anzuknüpfen und diese gesetzlich klar zu regeln. Solche Ansprüche müssten für erhebliche Zuwendungen materieller und immaterieller Art gelten und sollten in der Form einer einmaligen Geldzahlung ausgeglichen werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, einen Ausgleich nicht nur wie bisher für finanzielle Zuwendungen und Arbeitsleistungen im engeren Sinne (Mitarbeit im Betrieb, gemeinsamer Hausbau) vorzusehen, sondern auch für Care-Leistungen, also die Betreuung von Kindern und pflegebedürftigen Angehörigen. (3) Schriftlicher Opt-Out Schon aus verfassungsrechtlichen Gründen (s.o.) wäre des Weiteren eine gesetzliche Möglichkeit zu schaffen, die Rechtsfolgen des faktischen Zusammenlebens einvernehmlich III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 55 / 79 auszuschließen (Opt-Out).[208] Die Anforderungen an diese Erklärung müssten möglichst niedrigschwellig gehalten werden. Wie beim Testament sollte eine schriftliche und eigenhändig (hier: von beiden Partner_innen) unterschriebene Erklärung genügen. Daneben sollte die Möglichkeit bestehen, eine solche Erklärung notariell beurkunden zu lassen.[209] c. Modell 2: Das faktische Zusammenleben als (neues) formalisiertes Rechtsinstitut (Opt-in, Solidaritätspakt) aa. Rechtsvergleichende Überlegungen: das Modell PACS (Frankreich) Der Prototyp für das Modell einer registrierten Partnerschaft außerhalb der Ehe ist der französische pacte civil de solidarité (PACS), der 1999 in den Code Civil (CC) eingeführt wurde.[210] Der PACS steht zwei Personen gleichen oder verschiedenen Geschlechts offen, um ihr Zusammenleben zu organisieren (Art. 515-1 CC). Parallel können in Frankreich mittlerweile gleich- wie verschiedengeschlechtliche Paare die Ehe eingehen. Der PACS wird anders als ursprünglich intendiert überwiegend von verschiedengeschlechtlichen Lebensgemeinschaften genutzt – im Jahr 2013 waren es 95% der Neugründungen.[211] Mittlerweile haben 41% aller formalisierten Paarbeziehungen die Form des PACS.[212] Neben Eheleuten und Angehörigen eines PACS gibt es aber weiterhin rein faktische Lebensgemeinschaften.[213] Berechtigt, einen PACS zu schließen, sind volljährige Personen, die nicht anderweitig verheiratet sowie nicht miteinander verwandt sind (515-2 CC). Der französische Verfassungsrat (Conseil Constitutionel) hat ihn unter der Prämisse für verfassungsmäßig erklärt, dass zwischen den PACS-Schließenden eine Paarbeziehung besteht («vie de couple»).[214] Der PACS wird durch Erklärung gegenüber dem Amtsgericht oder einem Notar begründet. Während seines Bestehens begründet er gegenseitige Beistands- und Unterstützungspflichten der Partner_innen (Art. 515-4 I Code Civil – CC) sowie sozialrechtliche Einstandspflichten bei Krankheit und Arbeitslosigkeit (Art. 161-14 Code de la securité sociale). Er verleiht den Partner_innen Auskunfts- und Besuchsrechte im Krankheitsfall und ein Eintrittsrecht in den Mietvertrag. Nach drei Jahren können die Partner_innen des PACS auf ihren Wunsch wie Eheleute besteuert werden. Aufgelöst wird der PACS durch einver- 208  Cottier (Fn. 103), S. 36; Dethloff (Fn. 155), S. A 151. 209  Vgl. Dethloff (Fn. 155), S. A 151 f. 210  auch Belgien seit 2008: Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 20. Zum PACS Ferrand, in: Kroppenberg et al. (Hrsg.), Rechtsregeln für das nichteheliche Zusammenleben, 2008, S. 135 ff. 211  Vgl. Bericht des Schweizer Bundesrates „Modernisierung des Familienrechts“, März 2015, S. 30. 212  Ebd. 213  Vgl. Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 21. 214  Conseil Constitutionel, 09.11.1999, Nr. 99-415 DC, § 26. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 56 / 79 nehmliche oder einseitige schriftliche Erklärung vor dem Amtsgericht. Er begründet keine nachpartnerschaftlichen Unterhaltsansprüche. Der PACS wird als Modell auch in anderen Ländern diskutiert. Am 22.10.2015 trat in Chile ein neuer Zivilstand für gleich- wie verschiedengeschlechtliche Paare in Kraft (Acuerdo de Union Civil, AUC), der ähnliche Rechtswirkungen wie der PACS entfaltet.[215] Im Unterschied zu diesem sieht der AUC allerdings begrenzte Unterhaltsansprüche für die Zeit nach der Partnerschaft vor, wenn ein_e Partner_in wegen der Betreuung gemeinsamer Kinder auf Erwerbstätigkeit verzichtet hat (Art. 27). In der Schweiz hat der Bundesrat einen Prüfauftrag formuliert, ob ein Ziviler Solidaritätspakt nach dem Modell des PACS die Rechtslage der nicht formalisierten Lebensgemeinschaften („Konkubinate“) verbessern kann.[216] bb. Verfassungsrechtliche Bewertung Hinsichtlich dieser Alternative, ein neues formalisiertes Rechtsinstitut mit anderen Rechtswirkungen als der Ehe zu schaffen, ist die Vereinbarkeit mit dem besonderen Schutz der Ehe gem. Art. 6 Abs. 1 GG fraglich. Allerdings verbietet diese Norm dem Gesetzgeber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerade nicht, andere Formen des Zusammenlebens zu fördern, sofern sie nicht besser gestellt werden als die Ehe.[217] Ein Institut wie der PACS, der die Partner_innen deutlich geringer absichert und insbesondere eine nachpartnerschaftliche Solidarität nicht oder nur in engen Grenzen vorsieht, verletzt demnach nicht den besonderen Schutz der Ehe gem. Art. 6 Abs. 1 GG. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen ein solches neues Rechtsinstitut bestehen insofern nicht. Ansprüche der registrierten Partner_innen auf Gleichstellung mit Ehe und Lebenspartnerschaft könnte man verfassungsrechtlich damit begegnen, dass die Partner_innen sich bewusst für die niedrigschwelligere Einrichtung entschieden haben und jederzeit heiraten oder eine Lebenspartnerschaft eingehen könnten, wenn sie den umfassenden Schutz dieser Rechtsinstitute wünschen. cc. Regelungsmöglichkeiten eines zivilrechtlichen Solidaritätspaktes in Deutschland (1) Voraussetzungen Ein zivilrechtlicher Solidaritätspakt könnte von den Voraussetzungen her in Deutschland ähnlich geregelt werden wie in Frankreich: Sie könnte möglich sein, wenn zwei Personen (nicht notwendig räumlich) zusammenleben und dies rechtlich absichern möchten. Im Einzelnen könnten die Voraussetzungen folgendermaßen ausgestaltet werden: 215  Ley No. 20830 que crea el acuerdo de union civil“ v. 13.04.2015 216  Bericht des Schweizer Bundesrates (Fn. 211), S. 32. 217  BVerfGE 105, 313 (342 f.); skeptisch Kroppenberg, in: dies. et al. (Hrsg.), Rechtsregeln für das nichteheliche Zusammenleben, 2008, S. 43 ff., 47 f. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 57 / 79 (a) Der Solidaritätspakt sollte der besonderen emotionalen Verbundenheit in privaten Nahbeziehungen Rechnung tragen und sich klar von reinen Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaften abgrenzen. Voraussetzung sollte daher eine Paargemeinschaft im Sinne einer engen emotionalen (nicht notwendig sexuellen) Verbundenheit und dem Willen zu gegenseitigem Beistand sein. Die Ausweitung auf Mehrpersonengemeinschaften kann derzeit nicht empfohlen werden. (b) Die Begründung einer registrierten Partnerschaft neben Ehe oder Lebenspartnerschaft sollte ausgeschlossen werden, um komplizierte Mehrpersonengeflechte zu verhindern. (c) Auch in gerader Linie Verwandte und Geschwister sollten keinen Solidaritätspakt begründen können, da deren Verwandtschaftsverhältnisse schon anderweitig gesetzlich geregelt sind. (2) Verfahren Wie der PACS sollte ein zivilrechtlicher Solidaritätspakt formlos registriert und unter einfachen Bedingungen wieder aufgelöst werden können. Gerade die einfache Auflösung wird in Frankreich als erheblicher Vorteil dieses Rechtsinstituts gegenüber der Ehe angesehen. (3) Rechtsfolgen Hinsichtlich der Rechtsfolgen bestehen erhebliche politische Gestaltungsmöglichkeiten. Im Folgenden werden daher drei Modelle vorgeschlagen, in denen die soziale und wirtschaftliche Verflechtung der Partner_innen unterschiedlich eng ausgestaltet wäre. (a) Eine minimale Lösung wäre eine Registrierung nur für den Schutz der intimen Beziehung nach außen. Mit der Registrierung erhielten die Partner_innen wechselseitige Vertretungsrechte im Not- und Krankheitsfall sowie die damit einhergehenden Auskunfts- und Informationsrechte. Die minimale Lösung deckt damit in etwa das ab, was heute schon durch Patientenverfügungen, Betreuungs- und Vorsorgevollmachten verfügt werden kann, böte hierfür aber ein typisiertes Rechtsinstitut, das zentral registriert würde (ähnlich dem bereits bestehenden Vorsorgevollmachtsregister). Gegenseitige finanzielle Verpflichtungen würden nicht begründet, und auch die Annahme einer sozialrechtlichen Einstandsgemeinschaft wäre ohne weitere Indizien für gemeinsames Wirtschaften nicht gerechtfertigt. Wohl aber könnte die Registrierung den Zugang zu den gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrechten schaffen. (b) Eine mittlere Lösung könnte dieselben Rechtsfolgen wie Modell 1 vorsehen. Wie Lebenspartner_innen sollten die Partner_innen eines Solidaritätspakts gesetzlich den Status als Familienangehörige erhalten. (c) Eine große Lösung könnte für den güterrechtlichen Ausgleich die Regelungen für Ehe und Lebenspartnerschaft entsprechend anwenden, da durch die Registrierung wie bei Ehe und Lebenspartnerschaft ein Stichtag für die ursprünglichen Vermögensverhältnisse vorhanden wäre. Auch der Versorgungsausgleich könnte für den Solidaritätspakt geöffnet werden. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 58 / 79 Neben dem Solidaritätspakt wäre eine für alle Paare geöffnete Ehe dann das Modell einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft, die über das Unterhaltsrecht und die Witwenund Witwerrente begrenzte Solidaritätspflichten auch für die Zeit nach der Partnerschaft vorsieht. Alle diese Modelle ließen sich wie bisher vertraglich abändern, soweit der interne Ausgleich zwischen den Partner_innen betroffen ist. Man käme auf diese Weise zu einem Stufenmodell aus mehreren typisierten Vertragsmodellen und hoher Flexibilität für individualisierte Lösungen. (4) Bedenken Gegen die Einführung einer registrierten Lebensgemeinschaft neben der Ehe können einige Bedenken geltend gemacht werden. Der Ausschluss nachehelichen Partnerunterhalts könnte zu Lasten von Personen gehen, die zugunsten von Care-Tätigkeiten (Kinderbetreuung, Pflege, Haushaltsführung) auf Erwerbsarbeit und/oder berufliche (Weiter-)Qualifikation verzichten. Der wirtschaftlich stärkere und damit strukturell mächtigere Teil einer Lebensgemeinschaft könnte darauf dringen, statt einer Ehe einen Solidaritätspakt abzuschließen, um nachpartnerschaftliche Versorgungsansprüche auszuschließen. Allerdings hat er vergleichbare Möglichkeiten auch nach geltendem Recht, indem er entweder keine Ehe/ Lebenspartnerschaft eingeht oder auf einem Ehevertrag besteht, der nachpartnerschaftlichen Unterhalt ausschließt. Im Übrigen sind die Ansprüche auf Ehegattenunterhalt schon mit der Unterhaltsrechtsreform von 2007 stark reduziert worden, so dass auch eine Ehe/ Lebenspartnerschaft heutzutage nicht mehr im Vertrauen auf eine lebenslange Versorgung geschlossen werden kann. Gesellschaftspolitisch führt der Verzicht auf nachpartnerschaftliche Unterhaltsansprüche dazu, dass die Verantwortung für private Abhängigkeits-Arrangements aus dem privaten Raum in das öffentliche Sozialleistungssystem verlagert wird. Diese Tendenz wird unterschiedlich bewertet. Man kann sie begrüßen, weil sie Menschen weniger abhängig von anderen Menschen macht. Jedoch trägt dann am Ende die Folgen einer privaten Entscheidung für das traditionelle Alleinverdienermodell die Gemeinschaft und nicht die Person, die dadurch faktisch entlastet wurde. Das größte praktische Problem einer registrierten Partnerschaft neben der Ehe/Lebenspartnerschaft liegt jedoch darin, dass auch neben einem solchen Modell weiter faktische Lebensgemeinschaften bestehen werden, die sich nicht registrieren lassen. Für diese Gemeinschaften bleibt es bei den Gerechtigkeitsproblemen, die faktische Partnerschaften heute erleben. Eine Reform, mit der ein ziviler Solidaritätspakt geschaffen wird, kann folglich nicht alle tatsächlich gelebten Solidargemeinschaften absichern, während das oben genannte Modell 1 jede Gemeinschaft erfasst, die unter die gesetzlichen Voraussetzungen fällt. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 59 / 79 d. Kombinationsmodell Bedenkenswert ist daher die Kombinationslösung, die im Jahr 1997 von der Bundestagsfraktion der Grünen vorgeschlagen wurde. Darin war wie in Modell 1 eine gesetzliche Definition der faktischen Lebensgemeinschaft vorgesehen, an deren Erfüllung verschiedene Rechtsfolgen geknüpft waren. Zu Beweiszwecken sollte es möglich gemacht werden, sich in einer notariell beurkundeten Erklärung selbst zu einer faktischen Lebensgemeinschaft zu erklären.[218] Diese notarielle Beurkundung könnte durch eine Registrierung beim Standesamt ersetzt werden. Man käme dann zu einem erweiterten Stufenmodell: –– Stufe 1: Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen der faktischen Lebensgemeinschaft. Rechtsfolgen wie in Modell 1 beschrieben. –– Stufe 2: Registrierte Partnerschaft wie in Modell 2 mit einer Variante der dort beschriebenen Rechtsfolgen. –– Stufe 3: Die Ehe mit den heutigen Rechtswirkungen, die für alle Paare geöffnet werden sollte. 218  BT-Drs. 13/7228. III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften 60 / 79 IV. Eltern-Kind-Beziehungen Elternschaft bezeichnet eine Verwandtschafts- und eine Verantwortungsbeziehung. Beides kann, muss aber nicht zusammenfallen. Betrachtet man die Rechtsverhältnisse zwischen Eltern und Kindern, muss man deswegen zwischen abstammungs- und sorgerechtlichen Aspekten differenzieren: Das Abstammungsrecht regelt, welche Person aus welchen Gründen und in welchen Verfahren einem Kind rechtlich als Elternteil zugeordnet wird. Das Sorgerecht umfasst Befugnisse und Pflichten, ein Kind zu pflegen und zu erziehen. Nicht jeder Elternteil, der dem Kind rechtlich als Elternteil zugeordnet ist, hat auch ein Sorgerecht. Und nicht jede Person, die faktisch für ein Kind sorgt, ist rechtlicher Elternteil. Des Weiteren muss zwischen leiblicher, rechtlicher und sozialer Elternschaft unterschieden werden: Leibliche Elternschaft bezeichnet ein biologisches Abstammungsverhältnis. Rechtliche Elternschaft entsteht durch abstammungsrechtliche Zuordnung des Kindes zu einer Person und Eintragung in die Geburtsurkunde. Soziale Elternschaft entsteht dadurch, dass ein Mensch faktisch die Elternverantwortung für ein Kind übernimmt. Leibliche, rechtliche und soziale Elternschaft können zusammenfallen oder auf unterschiedliche Personen verteilt sein. Rechtliche Elternschaft wiederum kann aus der leiblichen Verwandtschaft oder einer sozialen Beziehung entstehen. So ist Mutter eines Kindes die Frau, die das Kind geboren hat, von dem es also leiblich abstammt (§ 1591 BGB). Wird ein Kind in eine bestehende Ehe geboren, wird die Vaterschaft des Ehemannes vermutet (§ 1592 BGB), hier gibt also die soziale Beziehung zunächst den Ausschlag für die rechtliche Zuordnung. Man spricht in solchen Fällen von rechtlich-sozialer Elternschaft. Anders als im Verhältnis erwachsener Partner_innen wird Elternschaft in Ehen, Lebenspartnerschaften, nicht formalisierten Lebensgemeinschaften und Ein-Eltern-Familien im deutschen Recht mittlerweile weitgehend gleich behandelt. Grundsätzliche Probleme sind jedoch auf zwei Gebieten zu beobachten, auf denen das Recht nicht adäquat auf veränderte gesellschaftliche Bedingungen reagiert: der rechtlichen Zuordnung von Elternschaft in Familien, die mit Hilfe medizinischer Reproduktionstechniken entstanden sind (1), und den Lebensverhältnissen in Stieffamilien (2). In beiden Fällen geht es um die Frage, wie mit multipler Elternschaft umgegangen werden soll, also mit dem Umstand, dass nach der Geburt eines Kindes mehr als zwei Personen für die Elternrolle in Betracht kommen. 1. Elternschaft nach künstlicher Befruchtung In Deutschland ist die künstliche Befruchtung nur in vergleichsweise engen Grenzen erlaubt: Methoden wie die Eizellspende und die Leihmutterschaft, die in anderen Staaten legal sind, sind hierzulande nach dem Embryonenschutzgesetz verboten. Zulässig ist die Insemination mit Spendersamen, die entweder homolog (Verwendung des Samens des Wunschvaters) oder heterolog (Verwendung von Fremdsamen, auch «donogene Insemination» genannt) durchgeführt werden kann. IV. Eltern-Kind-Beziehungen 61 / 79 a. Ungleichbehandlungen beim Zugang zu medizinischen Reproduktionstechniken und der Finanzierung künstlicher Befruchtung Die heterologe Samenspende wirft allerhand Rechtsprobleme auf, unter denen der unterschiedliche Zugang für gleich- und verschiedengeschlechtliche, formalisierte und nicht formalisierte Lebensgemeinschaften bereits erwähnt wurde. Hinzu kommt, dass auch Alleinstehende nach den Richtlinien der Bundesärztekammer nicht zum Kreis der Berechtigten für eine heterologe Samenspende gehören sollen. Diese abstrakten Festlegungen auf bestimmte Lebensformen arbeiten mit generalisierenden Normalitätsvorstellungen und diskriminieren alle Menschen mit Kinderwunsch, die nicht verheiratet sind.[219] Hier wäre dringend geboten, die Voraussetzungen für die Insemination in einem Fortpflanzungsgesetz neu und diskriminierungsfrei zu regeln.[220] Gleiches gilt für die Finanzierung von Leistungen der künstlichen Befruchtung: Ehepaaren wird nach § 27a SGB V die Hälfte der Kosten für drei Versuche von ihrer gesetzlichen Krankenkasse erstattet. Zusätzlich werden 25% ihres Eigenanteils nach der Bundesförderrichtlinie vom Staat bezuschusst. Nach dieser Richtlinie erhalten seit dem 07.01.2016 auch nichteheliche Lebensgemeinschaften einen Zuschuss in Höhe von 12,5 % für die ersten drei Behandlungen.[221] Für beide Lebensformen wird überdies ein vierter Versuch mit 25% der Selbstkosten gefördert. Gleichgeschlechtliche Paare und Alleinstehende erhalten keine dieser Vergünstigungen. Aus gleichheitsrechtlicher Sicht ist diese Situation unbefriedigend. Im System der GKV kann noch überzeugen, dass die künstliche Befruchtung nur dann zu finanzieren ist, wenn sie Ausdruck einer krankheitsbedingten Unfruchtbarkeit ist – dieser Nachweis müsste dann aber auch von Menschen geführt werden können, die in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben oder alleinstehend sind. Sobald der Staat die künstliche Befruchtung bezuschusst, ist er an Art. 3 Abs. 1 GG gebunden. Das Ziel des Bundeszuschusses ist nicht die Überwindung gesundheitlicher Probleme bei Wunscheltern, sondern sehr viel weitreichender, die Situation «kinderloser Frauen und Paare» zu verbessern.[222] Um dieses Ziel zu erreichen, muss der Gesetzgeber nach den Vorgaben des Art. 6 Abs. 1 GG alle (hier: angestrebten) Familienformen gleich behandeln. Für den Ausschluss gleichgeschlechtlicher Paare und alleinstehender Frauen gibt es daher keine sachliche Rechtfertigung. 219  Vgl. Helms, „Kinderwunschmedizin“ – Reformvorschläge für das Abstammungsrecht, in: Coester-Waltjen/Lipp/Schumann/Veit (Hrsg.), „Kinderwunschmedizin“ – Reformbedarf im Abstammungsrecht?, 2015, S. 47 ff. (48 f.). 220  Vgl. die Diskussionen und Vorschläge in Rosenau (Hrsg.), Ein zeitgemäßes Fortpflanzungsgesetz für Deutschland, 2012. 221  Richtlinie des BMFSFJ über die Gewährung von Zuwendungen zur Förderung von Maßnahmen der assistierten Reproduktion v. 29.03.2012, zuletzt geändert am 23.12.2015. 222  Vgl. Ziff. 1.2 der Bundesförderrichtlinie. IV. Eltern-Kind-Beziehungen 62 / 79 b. Der rechtliche Status der Wunscheltern und des Samenspenders in der Inseminationsfamilie Die heterologe Samenspende kann in Ehen ebenso stattfinden wie in nichtehelichen oder lesbischen Lebensgemeinschaften oder auch von einer alleinstehenden Frau zur Gründung einer intendierten Ein-Eltern-Familie in Anspruch genommen werden. Der Samenspender wird durch die Insemination zum leiblichen, zunächst aber nicht zum rechtlichen Vater des Kindes. Er kann die Vaterschaft anerkennen (§ 1592 Nr. 1 BGB) oder – nach nicht unumstrittener Rechtsprechung des BGH[223] – die Vaterschaft eines anderen Mannes anfechten (§ 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB). Sofern er die Vaterschaft nicht anerkennt und niemand anders rechtlicher Vater wird, kann die Mutter sie gerichtlich feststellen lassen (§ 1600d Abs. 1 BGB). Ist der Samenspender dem Kind durch Anerkennung, Anfechtung oder gerichtliche Feststellung als rechtlicher Vater zugeordnet, hat das Kind Unterhalts- und Erbansprüche und er selbst kann Sorge- und Umgangsrechte beanspruchen. Je nach Kontext können diese Rechtswirkungen mehr oder weniger dem Willen der Beteiligten entsprechen. Nach geltendem Recht haben jedoch weder der Samenspender noch die Wunscheltern die Möglichkeit, ihre Mehr-Elternschaft nach ihren Vorstellungen auszugestalten. aa. Die Freistellung des Samenspenders von der Vaterschaftsanfechtung Wird ein Kind in eine bestehende Ehe geboren, wird die Vaterschaft des Ehemannes der Mutter gesetzlich vermutet (§ 1592 Nr. 1 BGB). Für den Fall der künstlichen Befruchtung mit Fremdsamen regelt § 1600 Abs. 5 BGB, dass der Wunschvater und die Mutter des Kindes die Vaterschaft des Ehemannes nicht anfechten können. Der Samenspender wird also gesetzlich von den Rechten und Pflichten der Elternschaft freigestellt. Der Gesetzgeber ist, als er diese Vorschrift schuf, davon ausgegangen, dass der Samenspender mit seiner Mitwirkung an der assistierten Reproduktion regelmäßig konkludent auf seine rechtliche Vaterschaft und sein Anfechtungsrecht verzichtet.[224] Diese Regelvermutung ist plausibel, da dem Samenspender in der Regel bekannt sein dürfte, dass seine Spende einem anderen Elternpaar den Kinderwunsch erfüllen soll. Verfassungsrechtlich ist es nicht bedenklich, diesen Verzicht für alle Beteiligten rechtlich abzusichern. Zwar hat das Kind ein Grundrecht auf staatliche Gewährleistung der elterlichen Erziehung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG.[225] Elternschaft muss jedoch nicht notwendig leiblich vermittelt sein. Dem sozialen Kontext der Geburt und den zukünftigen sozialen Beziehungen des Kindes kann unter Umständen Vorrang vor der leiblichen Abstammung gegeben werden, denn das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Kindes (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 223  Vgl. BGH NJW 2013, 2589. 224  BT-Drs. 17/12163, S. 14. 225  BVerfGE 133, 159; Britz, Das Grundrecht des Kindes auf staatliche Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung, JZ 2014, S. 1069 ff.; Wapler, Kindeswohl und Kinderrechte. Eine Untersuchung zum Status des Kindes im Öffentlichen Recht, 2015, S. 173. IV. Eltern-Kind-Beziehungen 63 / 79 GG) verlangt unter anderem auch den Schutz der primären sozialen Bindungen.[226] Die Regelung des § 1600 Abs. 5 BGB wirft jedoch in anderen Hinsichten Probleme auf: (1) Nicht ausgeschlossen ist die Anfechtung der Vaterschaft durch den Samenspender[227] und das Kind. Hinsichtlich des Samenspenders ist dies insofern inkonsequent, als die gesetzliche Regelung gerade damit gerechtfertigt wird, dass der Samenspender selbst auf seine Elternrechte verzichtet.[228] Das verbleibende Anfechtungsrecht des Kindes könnte allenfalls wegen seines Rechts auf Kenntnis der genetischen Abstammung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG) geboten sein. Ein Recht auf Kenntnis bezieht sich jedoch auf Informationen, nicht auf eine Veränderung der Rechtslage. Das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung verpflichtet folglich dazu, dem Kind Auskunfts- und Informationsrechte über seine Erzeugung zur Verfügung zu stellen. Ein weitergehendes Recht darauf, dem leiblichen Vater dann auch rechtlich zugeordnet zu werden, kann daraus nicht abgeleitet werden. Für das Informationsrecht des Kindes kann es sogar hinderlich sein, wenn daraus ein Anfechtungsrecht erwächst. Die Sorge vor der Vaterschaftsanfechtung kann bei den Wunscheltern dazu führen, dass sie dem Kind gar nicht erst erzählen, dass es im Wege der Insemination gezeugt wurde. Rechtspolitisch sinnvoll wäre es daher, den Samenspender – ähnlich wie in Österreich (§ 148 Abs. 4 ABGB) – von allen Anfechtungsmöglichkeiten freizustellen und auch ihm selbst diese Option zu verschließen.[229] Dies gilt jedenfalls dann, wenn alle Beteiligten sich darauf geeinigt haben, dass die Wunscheltern das Kind allein erziehen und der Samenspender daran nicht beteiligt wird. (2) Außerhalb einer bestehenden Ehe gilt der Ausschluss der Anfechtung nach § 1600 Abs. 5 BGB nicht. In Lebenspartnerschaften und faktischen Lebensgemeinschaften gibt es allerdings auch keine Elternschaftsvermutung im Sinne des § 1592 BGB. Hier müsste die Freistellung des Samenspenders daher an die Bedingung geknüpft sein, dass die Wunscheltern und der Samenspender verbindlich erklären, dass die Wunscheltern die Erziehung des Kindes allein übernehmen sollen. Entsprechende Vereinbarungen können schon jetzt getroffen und notariell beglaubigt werden. Ob sie hingegen eine verbindliche Rechtswirkung entfalten, ist in der zivilrechtlichen Literatur äußerst umstritten.[230] Vielfach werden die Regeln des BGB über die Abstammung und die Vaterschaftsanfechtung für nicht abdingbar gehalten. Hier wäre eine gesetzliche Klarstellung hilfreich. Verfassungsrechtliche 226  Vgl. hierzu Wapler (Fn. 225), S. 509 f. 227  Für die Zulässigkeit eines solchen Anfechtungsverfahrens, auch wenn der Spender der Mutter nicht im natürlichen Sinn „beigewohnt“ hat, neuerdings BGH NJW 2013, 2589. 228  BT-Drs. 17/12163, S. 14. 229  Vgl. Helms (Fn. 219), S. 49 f., 53 f. 230  Vgl. Schumann, Familienrechtliche Fragen der Fortpflanzungsmedizin des Grundgesetzes, in: Rosenau (Hrsg.), Ein zeitgemäßes Fortpflanzungsgesetz für Deutschland,2012, S. 155-201 (181) m.w.N. IV. Eltern-Kind-Beziehungen 64 / 79 Bedenken bestehen nicht, sofern sich alle Beteiligten einig sind.[231] Lediglich bei der Ein-Eltern-Familie ließe sich einwenden, dass man auf diese Weise dem Kind einen potentiell Unterhaltsverpflichteten raubt, da neben der leiblichen Mutter kein zweiter Elternteil in die Verantwortung eintritt. Wie weit man dieses Argument akzeptiert, hängt davon ab, ob man die intendierte Ein-Eltern-Familie als grundsätzlich defizitär gegenüber der Zwei-Eltern-Familie ansieht. Angesichts des Umstands, dass ein erheblicher Anteil von Kindern seit jeher in Ein-Eltern-Familien aufwächst, dürfte außer Zweifel stehen, dass diese Lebensform das Kindeswohl jedenfalls nicht gefährdet. In jedem Fall sollte die Gesetzgebung in dieser Frage konsequent sein: Öffnet man, wofür vieles spricht, den Zugang zur Samenspende auch für alleinstehende Frauen, dann sollte die schriftliche und notariell beglaubigte oder behördlich registrierte Erklärung, den Samenspender nicht an der Erziehung beteiligen zu wollen, auch zu einem Ausschluss der Möglichkeit der Vaterschaftsanerkennung oder -feststellung gegen den Willen der anderen Partei führen. bb. Elternschaft in der gleichgeschlechtlichen Familie Abstammungsrechtliche Probleme besonderer Art wirft des Weiteren die gleichgeschlechtliche Familie auf, wenn in ihr ein Kind im Wege der Samenspende erzeugt wird. Beteiligt sind hier die leibliche Mutter des Kindes und die intendierte Co-Mutter sowie der Samenspender, der den Partnerinnen bekannt sein kann oder nicht. Neben der oben erörterten Frage der Freistellung des Samenspenders ist hier weiter problematisch, wie die Co-Mutter zu ihrer Elternstellung kommt. Nach der Geburt des Kindes ist sie mit diesem zunächst nicht rechtlich verbunden. Zum rechtlichen Elternteil kann sie nur durch die Stiefkindadoption werden. Hier kann viel schiefgehen, insbesondere, wenn die Partnerinnen den Samenspender kennen. Dieser kann die Vaterschaft anerkennen und anschließend nicht in die Stiefkindadoption einwilligen, mit der Konsequenz, dass er zum rechtlichen Vater des Kindes wird und Sorge- und Umgangsrechte beanspruchen kann. Umgekehrt hat aber auch der bekannte Samenspender keine Rechtssicherheit: Die leibliche Mutter kann seine Vaterschaft gerichtlich feststellen lassen und Unterhaltsansprüche geltend machen. Diese Rechtsunsicherheit geht im Zweifel zu Lasten des Kindes. Dessen Recht auf staatliche Gewährleistung der elterlichen Erziehung verlangt, dass ihm seine Eltern rechtlich verbindlich zugeordnet werden.[232] Vorbild für eine gesetzliche Regelung könnte Österreich sein: Dort wird die Elternschaft der Lebenspartnerin gesetzlich vermutet, wenn ein Kind in einer eingetragenen Partnerschaft im Wege der Samenspende erzeugt wurde (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 ABGB). Leben die Partnerinnen in einer faktischen Lebensgemeinschaft, so kann die Partnerin der Mutter die Elternschaft anerkennen (§ 144 Abs. 2 Nr. 2 ABGB). Die zweite 231  Wie hier Remus/Liebscher, Wohnst du noch oder sorgst du schon mit? – Das Recht des Samenspenders zur Anfechtung der Vaterschaft, NJW 2013, S. 2558 ff. (2561); Schumann (Fn. 230), S. 197; dies., Elternschaft nach Embryoadoption, MedR 2014, S. 736 ff. In diese Richtung auch BGH NJW 2013, 2589. 232  Vgl. BVerfGE 133, 59; Britz (Fn. 225); Schumann, Familienrechtliche Fragen (Fn. 230), S. 180 f. IV. Eltern-Kind-Beziehungen 65 / 79 Mutterschaft kann auch gerichtlich festgestellt werden (§ 144 Abs. 2 Nr. 3 ABGB). Eine ähnliche Regelung ist auch für Deutschland zu empfehlen. 2. Ein-Eltern-Familien Bei den Ein-Elternfamilien können zwei Formen unterschieden werden: die intendierte Ein-Eltern-Familie einer alleinstehenden Person, die ein Kind von vornherein allein aufziehen möchte, und die im Alltag häufiger zu beobachtende Ein-Eltern-Familie nach Trennung, Scheidung oder Tod des Partners/der Partnerin. Im Jahr 2009 war fast jede fünfte (19%) der in Deutschland lebenden Familien mit minderjährigen Kindern eine Familie einer alleinerziehenden Mutter oder eines alleinerziehenden Vaters.[233] Zukünftig kann mit einer weiteren Zunahme dieser Familienform gerechnet werden.[234] a. Die intendierte Ein-Eltern-Familie Alleinstehende Personen können Kinder adoptieren und auf diese Weise ohne Partner_in Eltern werden (§ 1741 Abs. 2 S. 1 BGB). Im Schrifttum wird diese Möglichkeit allerdings als defizitär gegenüber der Annahme durch zwei Personen angesehen. Der wesentliche Grund dafür ist der Umstand, dass dem Kind nach einer solchen Adoption ein rechtlicher Elternteil fehlt und es dadurch status-, unterhalts- und erbrechtlich weniger gut abgesichert ist als in der Zwei-Eltern-Familie.[235] Da aber jede Adoption eine sorgfältige Einzelfallprüfung voraussetzt (§ 1740 Abs. 1 S. 1 BGB), sind Ausnahmen zu diesem Grundsatz möglich. An dieser Stelle besteht kein Bedarf, das Gesetz zu ändern. Anders ist dies für den Zugang zu der künstlichen Reproduktion zu werten: Während eheliche und nichteheliche verschiedengeschlechtliche Paare Kinder im Wege der ärztlich assistierten Insemination (Samenspende) erzeugen dürfen, bleibt dieser Weg alleinstehenden Personen nach den Richtlinien der Bundesärztekammer ausnahmslos verschlossen. Diese absolute Zugangssperre ist mit ab­strakten Kindeswohlgründen nicht zu rechtfertigen. Im Zuge einer umfassenden gesetzlichen Regelung der Fortpflanzungsmedizin sollte daher ein diskriminierungsfreier Zugang alleinstehender Frauen zur Samenspende geschaffen werden. 233  Die Alleinerziehenden waren weit überwiegend (90%) die Mütter, vgl. Statistisches Bundesamt, Alleinerziehende in Deutschland - Ergebnisse des Mikrozensus 2009, S. 14, https://www.destatis. de/DE/PresseService/Presse/Pressekonferenzen-/2010/Alleinerziehende/pressebroschuere _ Alleinerziehende2009.pdf? 234  Ebd., S. 7. 235  Vgl. Maurer, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 1741 Rn. 46. IV. Eltern-Kind-Beziehungen 66 / 79 b. Die ökonomische Situation von Ein-Eltern-Familien Das beherrschende Problem in Ein-Eltern-Familien ist das erheblich erhöhte Armutsrisiko.[236] Die geltende Rechtslage trägt zu diesem Problem in nicht unerheblicher Weise bei bzw. schafft nicht in hinreichender Weise Abhilfe. (1) Nicht immer bestehen Unterhaltsansprüche gegen einen anderen Elternteil bzw. werden sie bei Bestehen in voller Höhe durchgesetzt. Der staatliche Unterhaltsvorschuss jedoch wird nur sechs Jahre lang innerhalb der ersten zwölf Lebensjahre des Kindes gezahlt. Für diese Beschränkung gibt es allenfalls fiskalische Gründe, die der Lebensrealität in Ein-Eltern-Familien jedoch nicht hinreichend gerecht werden. (2) Im Unterhaltsrecht sind seit der Reform von 2007 erhebliche Verschlechterungen zu beobachten. Nach der sehr restriktiven Rechtsprechung wird bei alleinerziehenden Eltern mit Kindern über drei Jahren regelhaft vermutet, dass sie in Vollzeit erwerbstätig sein können. Mit der Lebenswirklichkeit kinderbetreuender Elternteile ist diese verordnete Doppelbelastung vielfach nicht in Einklang zu bringen.[237] Hier sollten mit Hilfe einer gesetzlichen Klarstellung die Kosten und Lasten der Kinderbetreuung gerechter als bisher zwischen beiden Elternteilen aufgeteilt werden. Dazu müsste die Erwerbsverpflichtung des überwiegenden betreuenden Elternteils reduziert und die Unterhaltspflicht des anderen Elternteils entsprechend erhöht werden.[238] (3) Im Sozialrecht besteht derzeit eine unübersichtliche Gemengelage unterschiedlicher Förder- und Entlastungsinstrumente (Mehrbedarfszuschlag, Kinderzuschlag, Wohngeld, Unterhaltsvorschuss), die teilweise nebeneinander in Anspruch genommen werden können, teilweise gegeneinander aufgerechnet werden. Hier ist dringend zu fordern, ein übersichtliches Leistungssystem zu schaffen, mit dem der Mehraufwand in Ein-Eltern-Familien wirksam kompensiert wird.[239] (4) Eltern, die ihre Kinder allein erziehen, haben zwangsläufig einen höheren Betreuungsaufwand und sind daher in steuerrechtlicher Hinsicht weniger leistungsfähig.[240] Im 236  Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren im Jahr 2008 rund 36% der Personen, die in Haushalten von Alleinerziehenden lebten; die Armutsgefährdung von Personen in Haushalten mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern lag hingegen bei nur 8%, vgl. Statistisches Bundesamt, Alleinerziehende in Deutschland - Ergebnisse des Mikrozensus 2009, https://www.destatis. de/DE/PresseService/Presse/Pressekonferenzen-/2010/Alleinerziehende/pressebroschuere _ Alleinerziehende2009.pdf? 237  Vgl. Wapler, Kinderbetreuung und Erwerbsarbeit – Tendenzen in der neueren Rechtsprechung zum Unterhaltsrecht, RdJB 2014, S. 36-58; Scheiwe/Wersig, Cash und Care – Kindesunterhaltsrecht und Geschlechter(un)gleichheit, 2011. 238  Lenze, Alleinerziehende unter Druck. Rechtliche Rahmenbedingungen, finanzielle Lage und Reformbedarf, 2014, S. 75. 239  Ausf. Lenze (Fn. 238), S. 70 ff. 240  BVerfGE 61, 319 (348). IV. Eltern-Kind-Beziehungen 67 / 79 geltenden Einkommenssteuerrecht wird dem durch einen Entlastungsbetrag für Alleinstehende i.H.v. 1.908 Euro für das erste und 240 Euro für jedes weitere zu ihrem Haushalt gehörenden Kind Rechnung getragen.[241] Dieser Freibetrag kann von der Summe der zu versteuernden Einkünfte abgerechnet werden, sofern dem Elternteil für das die Kinder ein Freibetrag nach § 32 Abs. 6 EStG oder Kindergeld zusteht. Steuerfreibeträge wirken sich in einem progressiven Steuersystem in höheren Einkommensklassen stets stärker aus als in niedrigen: Wird kein steuerpflichtiges Einkommen erzielt, laufen Freibeträge ins Leere. Alleinerziehende Elternteile, die ihre Kinder selbst betreuen und daher nicht oder nur begrenzt einer Erwerbstätigkeit nachgehen können, profitieren daher nicht bzw. nur in geringem Umfang von dem Entlastungsbetrag. Dagegen wirkt sich eine Erhöhung des Kindergeldes in niedrigeren Einkommensgruppen stärker aus als in höheren. Diese sozialen Auswirkungen müssten bei einer Reform der Rechtslage von Ein-Eltern-Familien berücksichtigt werden. Bei erwerbstätigen Alleinerziehenden ist der Entlastungsbetrag in seiner derzeitigen Höhe nicht geeignet, die Kluft zu Haushalten von Ehe- oder Lebenspartner_innen zu überwinden. Das gilt selbst im Vergleich zu Einverdienerhaushalten. Denn im Vergleich zu zusammen veranlagten Ehe- oder Lebens­partner_innen erhalten Alleinerziehende nicht den Vorteil des Splittingtarifs, so dass sich bei ihnen kein Progressionsvorteil einstellt.[242] Außerdem profitieren sie nicht von dem doppelten Grundfreibetrag. Um den besonderen Situationen Alleinerziehender Rechnung zu tragen, sollte der Entlastungsbetrag daher spürbar erhöht werden.[243] c. Reformoptionen Reformvorschläge zur Verbesserung der ökonomischen Situation von Ein-Eltern-Familien sehen Veränderungen insbesondere in den folgenden Bereichen vor:[244] –– Die Regeln des Betreuungsunterhalts (§§ 1570, 1615l BGB) sollten den tatsächlichen Aufwand der Kinderbetreuung in der Familie realitätsgerechter abbilden. 241  Die Zugehörigkeit zum Haushalt ist anzunehmen, wenn das Kind in der Wohnung des alleinstehenden Steuerpflichtigen gemeldet ist. 242  Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts soll es dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers überlassen bleiben, wie genau er der verminderten Leistungsfähigkeit von Alleinerziehenden Rechnung trägt. Ein Zwang, den Splittingvorteil auf Alleinerziehende auszudehnen, besteht nicht, BVerfGE 61, 319 (345); s. auch BFH, Beschl. v. 27.05.2013, Az.: III B 2/13; Beschl. V. 17. 10. 2012 – III B 68/12. 243  So spricht sich Lenze auf eine Erhöhung des Betrags auf die Hälfte des zweiten (bei Alleinerziehenden nicht realisierten) Grundfreibetrags aus, vgl. Lenze (Fn 238), S. 54. 244  Vgl. Lenze (Fn 238), S. 75 ff. IV. Eltern-Kind-Beziehungen 68 / 79 –– Die zeitliche Begrenzung des staatlichen Unterhaltsvorschusses sollte aufgehoben werden. –– Im Recht der Sozialleistungen sollte der besondere Mehrbedarf Alleinerziehender nicht gegen andere Sozialleistungen (Kinderzuschlag, Wohngeld) aufgerechnet werden. –– Der steuerrechtliche Entlastungsbeitrag sollte spürbar erhöht werden. Die Bundestagsfraktion Bündnis90/Die Grünen hat im März 2015 einen Entschließungsantrag zur Stärkung Alleinerziehender eingebracht, der neben diesen noch weitergehende Reformvorschläge zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf (weiterer Ausbau der Kindertagesbetreuung, Verbesserung der Erwerbssituation Alleinerziehender) enthält.[245] 3. Mehr-Eltern-Modelle (intendierte und gewachsene Stieffamilien) Was aber, wenn mehr als zwei Personen übereinkommen, für ein Kind gleichberechtigt sorgen zu wollen? Mehr-Eltern-Modelle können von vornherein angestrebt sein, etwa wenn ein schwules und ein lesbisches Paar gemeinsam ein Kind zeugen und aufziehen möchten. Häufiger ist allerdings der Fall, dass Mehr-Eltern-Modelle nach der Geburt des Kindes entstehen, weil Elternpaare sich trennen und mit neuen Partner_innen verbinden. Solche Stieffamilien gibt es wiederum in vielfältigen Zusammensetzungen und mit ganz unterschiedlichen Verteilungen der tatsächlichen Sorge. Stiefeltern können eine soziale Elternbeziehung zu dem Kind entwickeln oder aber an der Erziehung nicht nennenswert beteiligt sein. a. Die Zwei-Eltern-Theorie des Bundesverfassungsgerichts und ihre Kritik Das Bundesverfassungsgericht steht auf dem klaren Standpunkt, ein Kind könne nur zwei Elternteile im verfassungsrechtlichen Sinne, also als Träger des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, haben.[246] In der familien- und verfassungsrechtlichen Literatur wird diese Zwei-Eltern-Theorie des Bundesverfassungsgerichts gelegentlich angezweifelt.[247] Gegen sie wird angeführt, dass sie längst nicht mehr modernen Familienverhältnissen entspreche. In der Tat ist die Realität vieler Familien von gespaltener Elternschaft geprägt, 245  BT-Drs. 18/4307. 246  BVerfGE 108, 82 (101). 247  Dethloff, Regenbogenfamilien. Der Schutz von Eltern-Kind-Beziehungen in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, in: A. Söllner (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, 2005, S. 133 ff. (142); Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 GG Rn. 150. IV. Eltern-Kind-Beziehungen 69 / 79 nicht zuletzt in den vielfältigen Formen der Stief- oder Patchworkfamilie. Wenn es darum geht, welche Personen Träger des verfassungsrechtlich geschützten Elternrechts sein können, sind daher abgestufte Modelle der Elternverantwortung für mehr als zwei Personen durchaus denkbar. Auf der einfachrechtlichen Ebene sollte hier allerdings zwischen der abstammungs- und sorgerechtlichen Ebene differenziert werden: b. Die abstammungsrechtliche Ebene Die abstammungsrechtliche Ebene betrifft die rechtliche Zuordnung einer Person als Elternteil zu einem Kind. Hier ist Skepsis gegenüber Mehr-Eltern-Modellen angebracht. Elternschaft ist eine Verantwortungsbeziehung, die zeitlich unbegrenzt besteht und grundsätzlich alle Belange des Kindes umfasst. Kinder brauchen Eltern, die sich voll für sie verantwortlich fühlen und denen sie verlässlich zugeordnet sind. Verantwortung aber droht entwertet zu werden, wenn sie auf zu viele Schultern verteilt wird. Könnte ein Kind drei oder gar vier Elternteile haben, die ihm gleichberechtigt rechtlich zugeordnet sind und den verfassungsrechtlichen Schutz des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG genießen, potenzierte sich das schon im klassischen Zwei-Eltern-Modell nicht unerhebliche Konfliktpotenzial. Die einfachrechtliche Möglichkeit, drei oder mehr Elternteile in die Geburtsurkunde einzutragen (z.B. die leibliche Mutter, ihren Ehemann und den Samenspender oder, in einer gleichgeschlechtlichen Konstellation, die leibliche und die annehmende Mutter, den Samenspender und dessen als Mit-Vater vorgesehenen Lebenspartner), begegnet daher verfassungsrechtlichen Bedenken im Hinblick auf die Persönlichkeitsrechte des Kindes.[248] c. Die Ausgestaltung der tatsächlichen Sorge Diese Argumentation bezieht sich aber nur auf die rechtliche Zuordnung der Elternstellung, nicht auf die Ausgestaltung des Sorgerechts und der Umgangsbeziehungen. Auf der einfachrechtlichen Ebene des Sorge- und Umgangsrechts sind Mehr-Ebenen-Modelle mit abgestufter Verantwortlichkeit durchaus möglich. Im geltenden Recht gibt es bereits das Modell des «kleinen Sorgerechts» in Alltagsangelegenheiten (§1687b Abs. 1 BGB, § 9 Abs. 7 LPartG). Dieses ist von zwei Bedingungen abhängig: Der Elternteil, mit dem der Stiefelternteil zusammenlebt, muss das alleinige Sorgerecht haben und er muss mit dem Mitspracherecht des Stiefelternteils einverstanden sein. Diese Beschränkungen werden den gegenwärtigen Lebensverhältnissen in ihrer Vielfalt nicht gerecht. Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers ist hier relativ groß, solange die Rechte des zweiten rechtlichen Elternteils unberührt bleiben, sich die Mitspracherechte des Stiefelternteils also auf Ange- 248  Vgl. Wapler (Fn. 225), S. 186 ff. IV. Eltern-Kind-Beziehungen 70 / 79 legenheiten des täglichen Lebens beschränken: [249] Ein kleines Sorgerecht könnte daher auch dann ermöglicht werden, wenn die beiden rechtlichen Eltern noch das gemeinsame Sorgerecht haben. Zulässig wäre auch eine Regelung, die das kleine Sorgerecht automatisch entstehen lässt, wenn das Kind mit dem Stiefelternteil in einem gemeinsamen Haushalt lebt. Denkbar ist schließlich, hier größeren Spielraum für einvernehmliche Absprachen aller Beteiligten zu lassen, die dann sinnvollerweise schriftlich niedergelegt und notariell beglaubigt werden sollten. Kommt es zu Konflikten, ist an einen gerichtlich gebilligten Vergleich zu denken, wie er hinsichtlich des Umgangs und der Herausgabe des Kindes bereits möglich ist (§ 156 Abs. 2 FamFG). Eine Neuregelung sollte die Beteiligungsmöglichkeiten von Kindern klarer Regeln (Art. 12 I KRK). 4. Der Familienleistungsausgleich Unabhängig von den rechtlichen Beziehungen der Eltern werden kindbezogene Ausgaben durch den Familienleistungsausgleich steuermildernd berücksichtigt. Damit werden Eltern-Kind-Beziehungen gegenüber anderen sozialen Nahbeziehungen privilegiert. Zu den Kindern, die einkommenssteuerrechtlich anerkannt werden (§ 32 Abs. 1 EStG), gehören auch Pflegekinder.[250] Stiefkinder werden steuerrechtlich nur als Kinder berücksichtigt, wenn die Eltern in einer formalisierten Beziehung leben (s.o.). Das Steuersystem muss das Existenzminimum unberührt lassen. Die Steuerfreiheit des Existenzminimums der einzelnen Steuerpflichtigen, ihrer Kinder sowie der Familie als sozialer Gemeinschaft ist verfassungsrechtlich aufgrund von Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG (hinsichtlich des Familienexistenzminimums zusätzlich durch Art. 6 Abs. 1 GG) geboten.[251] Die Freistellung geschieht bei erwachsenen Steuerpflichtigen durch den Grundfreibetrag (§ 32a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG), der dasjenige Einkommen von der Besteuerung ausnehmen soll, das zur Existenzsicherung benötigt wird. Bei Kindern wird das Existenzminimum durch den Familienleistungsausgleich von der Besteuerung ihrer Eltern ausgenommen.[252] 249  Vgl. die Vorschläge bei Dethloff (Fn. 190), S. 142 und dies, Kindschaftsrecht des 21. Jahrhunderts, ZJK 2009, S. 141 ff. (144); Kemper, Rechtsanwendungsprobleme bei der eingetragenen Lebenspartnerschaft, FamFZ 2001, S. 156 ff. (161); Löhnig, Neue Partnerschaften der gemeinsam sorgeberechtigt gebliebenen Eltern – Welche Rechte haben die neuen Partner?, FPR 2008, S. 157 ff. (159); Muscheler, Das Recht der Stieffamilie, FamRZ 2004, S. 915 (920 f.). Siehe auch den Überblick bei Wapler (Fn. 37), S. 150 ff. 250  Kirchhof, in: ders. (Hrsg.), EStG, 2015, § 2 Rn. 29a; Seiler (Fn. 89), § 32 Rn. 1; Vogel, Die Auslegung privatrechtlich geprägter Begriffe des Ertragssteuerrechts, 2015, S. 72 ff. 251  BVerfGE 82, 60 (85); 87, 153 (169); 99, 216 (233); 252  Kirchhof (Fn. 250), § 2 Rn. 13. Vgl. insbesondere auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Existenzminimum des Steuerpflichtigen und seiner Familie, BVerfGE 87, 153 (169). IV. Eltern-Kind-Beziehungen 71 / 79 Das steuerliche Existenzminimum von Kindern beschränkt sich auf die zwingend notwendigen Ausgaben. Sie ergeben sich aus zivilrechtlichen Unterhaltspflichten und den Leistungen für Betreuung und Ausbildung. Die Zwangsläufigkeit existenzsichernder Aufwendungen für die Familie folgt dabei regelmäßig aus der zivilrechtlichen Verpflichtung zur Leistung.[253] Darum ist die steuerliche Entlastung – anders als die sozialrechtliche Belastung (s.o.) – in aller Regel an eine zivilrechtliche Unterhaltsbeziehung gekoppelt. Der so begründete Familienleistungsausgleich hat zwei Bestandteile bzw. wird auf unterschiedliche Weise gewährt: –– Der Kinderfreibetrag in Höhe von derzeit 2.304 Euro pro Kind eines Steuerpflichtigen soll das sächliche Existenzminimum eines Kindes abdecken. Ein weiterer Betrag von 1.320 Euro wird für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarfs eines Kindes berücksichtigt.[254]. –– Alternativ zum kindesbezogenen Freibetrag wird ein monatliches Kindergeld gezahlt § 31 S. 3 EStG). Im Verhältnis der beiden Leistungsarten zueinander gilt die jeweils günstigere: Das Finanzamt überprüft auf Grundlage einer Günstigerprüfung bei der Veranlagung zur Einkommenssteuer automatisch, ob sich der kindesbezogene Freibetrag oder die Kindergeldzahlungen vorteilhafter für den Steuerpflichtigen auswirken.[255] 253  Kirchhof (Fn. 250), § 2 Rn. 29; Vogel (Fn. 250), S. 268 ff. 254  Berücksichtigt werden nach § 32 Abs. 2-5 EStG Kinder, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, sowie abhängig von der Aufnahme eines Beschäftigungs- oder Ausbildungsverhältnisses, der Leistung eines freiwilligen sozialen oder ökologischen Jahres oder von Wehrdienst Kinder bis zur Vollendung des 21. bzw. 25. Lebensjahres. In Fällen, in denen das Kind wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist sich selbst zu unterhalten, wird es zeitlich unbefristet berücksichtigt. 255  Wird durch die Günstigerprüfung festgestellt, dass die Entlastungen durch den Freibetrag höher als die Kindergeldzahlungen sind, sind bei der Veranlagung zur Einkommensteuer die Freibeträge nach § 32 Abs. 5 EStG zu berücksichtigen. Um eine doppelte Berücksichtigung des Kindes zu vermeiden wird bereits bezogenes Kindergeld mit der Steuerzahlung verrechnet. Im umgekehrten Fall, dass die steuerliche Entlastung durch den kindesbezogenen Freibetrag niedriger ausfällt als die Kindergeldzahlungen, ist die steuerliche Berücksichtigung über das Kindergeld abgegolten und der überschießende Anteil des Kindergeldes verbleibt den Familien als sozialpolitischer Förderanteil (siehe § 31 S. 2 EStG). Das Kindergeld weist insofern eine Doppelnatur auf: Zum Teil dient es der Steuervergünstigung in Form einer Vorauszahlung, zum Teil ist es als Sozialleistung zu qualifizieren, vgl. auch Loschelder, in: Weber-Grellet (Hrsg.), Einkommenssteuergesetz, 2015, § 31, Rn. 1; Seiler (Fn. 89), § 31 Rn. 2 IV. Eltern-Kind-Beziehungen 72 / 79 a. Kinderfreibetrag Der einfache und im Gesetz festgelegte Kinderfreibetrag wird jedem Elternteil je berücksichtigungsfähigem Kind gewährt. Materiell deckt dieser Betrag nur das halbe sächliche Existenzminimum des Kindes ab, erst der doppelte Betrag ist materiell als ganzer Betrag anzusehen. Dieser ganze Betrag wird zusammenveranlagten Ehe- und Lebenspartner_innen gewährt, die beide in einem Kindschaftsverhältnis zum Kind stehen.[256] Darüber hinaus wird dieser Betrag einzelnen Steuerpflichtigen gewährt, wenn der andere Elternteil verstorben oder nicht unbeschränkt steuerpflichtig ist sowie in Fällen, in denen nur eine_r das Kind angenommen hat oder zu ihm in einem Pflegekindschaftsverhältnis steht (§ 32 Abs. 6 S. 3 EStG). Zusätzlich steht jedem Elternteil für jedes berücksichtigungsfähige Kind ein Freibetrag für Betreuungs- Erziehungs- und Ausbildungsbedarf i.H.v. derzeit 1.320 Euro zu, der materiell wie der Kinderfreibetrag nur den halben Bedarf abdeckt und unter grundsätzlich gleichen Voraussetzungen verdoppelt wird.[257] Der Betrag wird unabhängig von den tatsächlich entstandenen Aufwendungen abgezogen, auch dann, wenn Dritte die Erziehungsleistung erbringen.[258] Stiefeltern formalisierter Paarbeziehungen und Großeltern erhalten beide Freibeträge, wenn zum Kind ein Pflegekindschaftsverhältnis besteht. Ist dies nicht der Fall, können ihnen auf Antrag die Freibeträge übertragen werden, sofern sie das Kind in ihren Haushalt aufgenommen haben und ihm dort Unterhalt leisten oder falls sie ihm gesetzlich zum Unterhalt verpflichtet sind (§ 32 Abs. 6 S. 10 EStG). Der gesamte Kinderfreibetrag inklusive dem Betrag für Betreuung und Erziehung bzw. Ausbildung beträgt zur Zeit 7.248 Euro pro Kind. Eine regelmäßige Anpassung des Kinderfreibetrags ist verfassungsrechtlich aufgrund von Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 10 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 GG geboten.[259] Die Anpassung erfolgt durch Gesetz auf Grund- 256  Bei Elternpaaren, die dauernd getrennt leben, geschieden sind oder ein nichteheliches Kind haben (also die nicht der Ehe- bzw. Lebenspartnerveranlagung unterliegen) kann auf Antrag eines Elternteils der Kinderfreibetrag des anderen Teils auf ihn übertragen werden (§ 32 Abs. 6 S. 6-11), ohne dass dies der Zustimmung des anderen Teils bedarf. Voraussetzung für die Berücksichtigung des vollen Kinderfreibetrags ist in diesem Fall, dass nur er seiner Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind nachkommt bzw. der andere Teil mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist. 257  Vgl. hierzu Seiler (Fn. 89), § 32 Rn. 26. 258  Leben die Eltern getrennt, wird auf Antrag des Elternteils, in dessen Wohnung das Kind gemeldet ist, der Freibetrag des anderen Teils auf ihn übertragen (§ 32 Abs. 6 S. 8 EStG), sofern der andere Teil nicht widerspricht. Widersprechen kann der andere Teil, wenn er Kinderbetreuungskosten trägt oder das Kind regelmäßig in einem nicht unwesentlichen Umfang betreut. 259  BVerfGE 82, 60 (85); 87, 153 (169); 99, 216 (233); IV. Eltern-Kind-Beziehungen 73 / 79 lage des Existenzminimumberichts der Bundesregierung.[260] In diesem Bericht wird der sozialhilferechtliche Mindestbedarf eines Kindes festgestellt, der die Untergrenze des steuerlich zu berücksichtigenden Betrags markiert. Die Unterhaltsverpflichtungen eines Steuerpflichtigen gehen allerdings oft deutlich über das Minimum hinaus, das als Existenzminimum typisiert wurde und werden daher aus versteuertem Einkommen erbracht. Hingegen wird bei den erwerbssichernden Aufwendungen in der Regel der tatsächliche Aufwand zum Abzug gebracht.[261] Die zweite Komponente, der Freibetrag für Betreuung, Erziehung und Ausbildung, wird nicht regelmäßig angepasst, eine letzte Anpassung erfolgte im Jahre 2010. b. Kindergeld Anders als beim Kinderfreibetrag ist der Gesetzgeber nicht verfassungsrechtlich verpflichtet, das Kindergeld anzupassen, solange er das Existenzminimum von Kindern in irgendeiner Weise sicherstellt. Eine Anpassung erfolgt jedoch gewöhnlich zeitgleich mit den Anpassungen des Kinderfreibetrags. Anspruchsberechtigt sind neben Kindern i.S.v. § 32 Abs. 1 EStG vom Berechtigten in seinen Haushalt aufgenommene Kinder des Ehegatten oder Lebenspartners sowie Enkel (§ 63 Abs. 1 S. 1 EStG). Gibt es mehrere Kindergeldberechtigte, wird das Kindergeld an denjenigen ausgezahlt, in dessen Haushalt das Kind aufgenommen wurde (§ 64 Abs. 1 und 2 EStG). Das Kindergeld beträgt gem. § 66 EStG derzeit monatlich für erste und zweite Kinder jeweils 190 Euro (2280 Euro pro Jahr), für das dritte Kind 196 Euro (2352 Euro pro Jahr) und für das vierte und jedes weitere Kind jeweils 221 Euro (2652 Euro pro Jahr). Während das Kindergeld nur einem Berechtigten ausgezahlt wird, stehen die Freibeträge nach § 36 Abs. 6 EStG grundsätzlich beiden Elternteilen zu. Bei gemeinsam veranlagten Ehe- oder Lebenspartnern bleibt dies folgenlos, ebenso wenn ein Elternteil die gesamte Kinderförderung beanspruchen kann.[262] Im Rahmen der Günstigerprüfung wird aller- 260  Die Bundesregierung legt alle zwei Jahre einen Bericht über die Höhe des von der Einkommensteuer freizustellenden Existenzminimums von Erwachsenen und Kindern vor (vgl. BT-Drs. 13/1558). Der 10. Existenzminimumbericht enthält die der aktuellen Gesetzeslage zugrunde gelegte Berechnung (abrufbar unter www.bundesfinanzministerium.de). Dieser dort ausgewiesene Betrag von insgesamt 4608 Euro für das Jahr 2016 pro Kind bezieht sich nur auf das Existenzminimum, die steuerrechtlich als zwangsläufige Ausgaben berücksichtigten Kosten für Erziehung und Ausbildung sind hier noch nicht berücksichtigt. 261  Kirchhof (Fn. 250), § 2 Rn. 16. 262  Etwa weil der andere Elternteil verstorben oder nicht uneingeschränkt einkommenssteuerpflichtig ist oder nur ein Ehepartner das Kind angenommen hat oder nur zu ihm ein Pflegekindschaftsverhältnis besteht. IV. Eltern-Kind-Beziehungen 74 / 79 dings auch bei einzeln veranlagten Ehe- oder Lebenspartnern jeweils die Hälfte des Kindergelds angesetzt.[263] c. Reformoptionen Aufgrund des progressiven Steuersystems wirkt sich der Kinderfreibetrag nur in höheren Einkommensgruppen positiver aus als das Kindergeld. Bei einer Familie mit einem Kind ist dies ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen von rund 63.500 Euro der Fall. Bei einem niedrigeren Einkommen ist dagegen das Kindergeld höher als eine steuerliche Entlastung durch die Freibeträge.[264] Der Familienlastenausgleich in seiner derzeitigen Form begünstigt daher die höheren Einkommensgruppen und sollte vor diesem Hintergrund überdacht werden. Der Freibetrag für Betreuung und Erziehung wird unabhängig von dem tatsächlichen Betreuungsaufwand gewährt und begünstigt dadurch Familienmodelle, die keine tatsächlichen Betreuungskosten haben. Einverdienerpaare werden hierdurch stärker gefördert als Zweiverdienerpaare. Wären dagegen (nur) tatsächliche Aufwendungen für Kinderbetreuung absetzbar (als Werbungskosten oder Betriebsausgaben), würde dies die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erhöhen, insbesondere auch für Alleinerziehende, die auf die Inanspruchnahme von Betreuungsdienstleistungen angewiesen sind. 263  Vgl. hierzu Seiler (Fn. 89), § 31 Rn. 8 f. 264  Vgl. den Überblick bei Lemmer, Kindergeld und Kinderfreibetrag: Funktionsweise, Entlastungswirkung und aktueller Handlungsbedarf, DSi kompakt, 2015. IV. Eltern-Kind-Beziehungen 75 / 79 V. Zusammenfassung der Ergebnisse und der Handlungsempfehlungen 1. Ehe und Lebenspartnerschaft a. Beseitigung bestehender Ungleichbehandlungen: Die Lebenspartnerschaft wird im geltenden Recht gegenüber der Ehe diskriminiert. Die verbliebenen rechtlichen Ungleichbehandlungen sollten beseitigt werden, indem –– entweder die gesetzlichen Grundlagen der Lebenspartnerschaft vollständig an die der Ehe angeglichen werden oder –– die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet wird. b. Abkehr vom Leitbild der Alleinverdienerehe: Das System der ehebedingten Begünstigungen ist in Teilen nach wie vor von dem traditionellen Leitbild der Alleinverdienerehe geprägt. Die diesem Leitbild dienenden Leistungen, insbesondere das Ehegattensplitting und die beitragsfreie Mitversicherung in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung, sollten abgeschafft und durch lebensformenneutrale Modelle ersetzt werden. 2. Faktische Lebensgemeinschaften Die Rechtslage faktischen Lebensgemeinschaften ist unübersichtlich und folgt keiner klaren Systematik. Diese Situation zu verbessern, wäre grundsätzlich auf zwei Wegen möglich: –– Die Einführung eines formalisierten Solidaritätspakts hätte den Vorteil, den Paaren, die sich dafür entscheiden, Rechtssicherheit zu bieten und auch nach außen klar erkennbar zu sein. Sozialrechtliche Pflichten und gegenseitige Ansprüche auf Beistand im Innenverhältnis könnten aufeinander abgestimmt werden. Für die Paare, die auch auf diese Form der Registrierung verzichten (müssen), bietet ein formalisiertes Rechtsinstitut jedoch keine Lösung.[265] –– Eine gesetzliche Ausgestaltung der faktischen Lebensgemeinschaft ohne Registrierung hat demgegenüber den Vorteil, alle Beziehungen zu erfassen, in denen nachweisbar gegenseitige Verantwortung übernommen wurde. Man könnte den Begriff der faktischen Lebensgemeinschaft gesetzlich definieren und dann die Tatbestände, die schutzwürdig erscheinen, im Einzelnen rechtlich regeln. Hier wäre es dann wich- 265  Cottier (Fn. 103), S. 34; Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 18. V. Zusammenfassung der Ergebnisse und der Handlungsempfehlungen 76 / 79 tig, sozialrechtliche Einstands- und privatrechtliche Unterhaltspflichten übereinstimmend zu regeln. Ergänzend müsste die Möglichkeit eines schriftlichen opt-out vorgesehen werden. Damit stünde den Partner_innen frei, durch eine einvernehmliche Erklärung oder einen Partnerschaftsvertrag festzulegen, dass die Wirkungen der faktischen Lebensgemeinschaft wie der sozialrechtlichen Bedarfsgemeinschaft sie nicht treffen sollen. –– Möglich wäre auch ein Kombinationsmodell mit den folgenden drei Stufen: (1) Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen der faktischen Lebensgemeinschaft mit klar geregelten gesetzlichen Rechtsfolgen (à oben Modell 1); (2) Möglichkeit einer Absicherung dieser (und ggf. weiterer) Rechtsfolgen durch Registrierung (àzivilrechtlicher Solidaritätspakt); (3) Ehe für alle mit den heutigen Rechtswirkungen. –– Neben diesen Regelungen sollte eine typisierte Erklärung und Registrierung der heutigen Vorsorge- und Betreuungsvollmacht geschaffen werden, die auch außerhalb von Paarbeziehungen abgegeben werden kann. 3. Eltern-Kind-Beziehungen a. Die Inseminationsfamilie: Die abstammungsrechtlichen Verhältnisse der Inseminationsfamilie sind derzeit in gleichheitsrechtlicher Hinsicht unbefriedigend geregelt und kollidieren mit dem Recht des Kindes auf staatliche Gewährleistung der elterlichen Erziehung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG. Folgende Gesetzesänderungen sind empfehlenswert: –– Die vollständige Freistellung des Samenspenders von der Anfechtung der Vaterschaft sowie der Ausschluss seines eigenen Anfechtungsrechts in allen Fällen, in denen Samenspender und Wunscheltern sich vor der Zeugung darüber einig sind, dass der Samenspender an der Erziehung des Kindes nicht beteiligt werden soll. –– Die Einführung einer Elternschaftsvermutung und/oder -anerkennung bei der Geburt eines Kindes in eine eingetragene Lebenspartnerschaft, sofern das Kind im Wege der Samenspende erzeugt wurde. –– Die klare gesetzliche Regelung der Dokumentationspflichten bei medizinisch unterstützter Zeugung sowie der Informations-, Auskunfts- und Einsichtsrechte der betroffenen Kinder. –– Die Bezuschussung assistierter Reproduktionsverfahren nach einheitlichen Maßstäben für gleich- und verschiedengeschlechtliche Paare sowie für Alleinstehende. d. Ein-Eltern-Familien: Ein-Eltern-Familien sind keine defizitäre Lebensform. Der Kinderwunsch einer alleinstehenden Person ist rechtlich diskriminierungsfrei zu behandeln. Des Weiteren sollten unterhalts-, steuer- und sozialrechtliche Vorschriften so aufeinander abgestimmt werden, dass der betreuungsbedingte Mehraufwand Alleinerziehender angemessen berücksichtigt wird: V. Zusammenfassung der Ergebnisse und der Handlungsempfehlungen 77 / 79 –– Die Regeln des Betreuungsunterhalts (§§ 1570, 1615l BGB) sollten den tatsächlichen Aufwand der Kinderbetreuung in der Familie realitätsgerechter abbilden. –– Die zeitliche Begrenzung des staatlichen Unterhaltsvorschusses sollte aufgehoben werden. –– Im Recht der Sozialleistungen sollte der besondere Mehrbedarf Alleinerziehender nicht gegen andere Sozialleistungen (Kinderzuschlag, Wohngeld) aufgerechnet werden. –– Der steuerrechtliche Entlastungsbeitrag sollte spürbar erhöht werden. c. Mehr-Eltern-Modelle: Eine schützenswerte Eltern-Kind-Beziehung kann ein Kind zu mehr als zwei Personen haben, etwa wenn es in mit seiner Mutter und einem rechtlich-sozialen Vater aufwächst, der leibliche Vater jedoch bekannt ist. Abstammungsrechtlich sollte es dennoch dabei bleiben, dass einem Kind nicht mehr als zwei Eltern rechtlich zugeordnet werden können. Auf der Ebene des Sorge- und Umgangsrechts sollten hingegen flexiblere Lösungen möglich sein als bisher: –– Das „kleine Sorgerecht“ in Alltagsangelegenheiten sollte Stiefeltern auch dann zustehen (können), wenn es außerhalb der Stieffamilie einen weiteren sorgeberechtigten Elternteil gibt. –– Alternativ könnte ein kleines Sorgerecht per Gesetz immer dann entstehen, wenn ein Kind mit einem Stiefelternteil in einem gemeinsamen Haushalt lebt. Hier sind allerdings Abgrenzungsschwierigkeiten zu Wohn- und Hausgemeinschaften zu befürchten, und die rechtlichen Eltern des Kindes sollten die Möglichkeit haben, sich gegen die Mitsorge auszusprechen. –– Sinnvoll wäre in jedem Fall, im Gesetz mehr Raum für verbindliche einvernehmliche Absprachen der Beteiligten über die Verteilung von Rechten und Pflichten der rechtlichen Eltern und der Stiefeltern vorzusehen. V. Zusammenfassung der Ergebnisse und der Handlungsempfehlungen 78 / 79 Impressum Herausgeberin: Heinrich-Böll-Stiftung, Schumannstraße 8, 10117 Berlin, D Redaktion: Dorothee Schulte-Basta, Referentin für Sozialpolitik der Heinrich-Böll-Stiftung Erscheinungsort: www.boell.de Erscheinungsdatum: November 2016 Die Studie wurde beauftragt von der Familienpolitischen Kommission der Heinrich-Böll-Stiftung. https://www.boell.de/de/2015/05/11/vorstellung-der-familienpolitischen-kommission Die Kommission arbeitet zu den Themen: –– Vielfalt der Sorge- und Solidarbeziehungen anerkennen und absichern –– Alleinerziehende besser absichern –– Echte Teilhabe von Kindern gewährleisten –– Förderung von Geschlechtergerechtigkeit in der Sorge- und Erwerbsarbeit –– Zeitsouveränität ermöglichen Die vorliegende Publikation gibt die Meinung des Verfassers und nicht die der Heinrich-Böll-Stiftung wieder. Weitere E-Books zum Downloaden unter www.boell.de/publikationen Copyright Das gesamte Dossier und die einzelnen Beiträge stehen unter einer Creative Commons Lizenz. (CC BY-NC-ND). Sie dürfen verbreitet, vervielfältigt oder öffentlich zugänglich gemacht werden unter folgenden Bedingungen: •  Namensnennung – Sie müssen den Namen des Autors/ der Autorin und des Rechteinhabers (Heinrich-Böll-Stiftung) sowie die URL des Werks (Direktlink) nennen. •  K  eine kommerzielle Nutzung - Dieses Werk darf nicht für kommerzielle Zwecke verwendet werden. •  K  eine Bearbeitung - Dieses Werk darf nicht bearbeitet, abgewandelt oder in anderer Weise verändert werden. •  Abweichungen von diesen Bedingungen bedürfen der Genehmigung des Rechteinhabers: internetredaktion@boell.de  79 / 79
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