E-PAPER
Wahlverwandtschaften
Plurale
Familienformen
rechtlich ermöglichen
und absichern
Eine Publikation der Heinrich-Böll-Stiftung, November 2016
Wahlverwandtschaften
Plurale Familienformen rechtlich
ermöglichen und absichern
Vorschlag der Familienpolitischen Kommission der Heinrich-Böll-Stiftung
und
Juristisches Gutachten
Wahlverwandtschaften – Die Berücksichtigung pluraler Familienformen im Recht
Verfasst von PD Dr. Friederike Wapler, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
unter Mitarbeit von Ass. iur. Wibke Frey, Universität Hildesheim
Inhaltsverzeichnis
Modell – Wahlverwandtschaften
Plurale Familienformen rechtlich ermöglichen und absichern
5
Juristisches Gutachten –Wahlverwandtschaften –
Die Berücksichtigung pluraler Familienformen im Recht
8
Gegenstand des Gutachtens
8
I.
Begriffliche und empirische Grundlagen
10
1. Ehe, Lebenspartnerschaft, Lebensgemeinschaft(en), Familie
10
a. Formalisierte Paarbeziehungen: Ehe und Lebenspartnerschaft
10
b. Nicht formalisierte (faktische) Paarbeziehungen:
nichteheliche und lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaft
11
c. Lebensgemeinschaften mit Kindern
13
d. Familie
14
II. Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft
1. Ungleichbehandlung von Ehe und Lebenspartnerschaft
18
18
a. Der besondere Schutz der Ehe: Gebot der Schlechterstellung
anderer Lebensformen?
19
b. Verbot der Diskriminierung der Lebenspartnerschaft
gegenüber der Ehe
20
c. Die Möglichkeit der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche
Paare
23
d. Regelungsalternativen zur Gleichstellung aller formalisierten
Paargemeinschaften
26
2. Die öffentliche Förderung der Ehe: Fortbestand traditioneller Leitbilder 28
a. Förderung von Ehe und Familie: gleichheitsrechtliche Aspekte
28
b. Das Neutralitätsgebot
29
c. Regelungsalternativen
32
3. Ausgleichsleistungen nach Auflösung der Ehe/Lebenspartnerschaft
III. Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer»)
Lebensgemeinschaften
32
33
1. Verfassungsrechtliche Grundlagen
34
2. Die rechtliche Situation faktischer Lebensgemeinschaften im V
ergleich zu Ehe und Lebenspartnerschaft
35
a. Steuerrecht
35
b. Sozialrecht
37
c. Erbrecht
42
d. Ausgleichsansprüche nach Auflösung der Partnerschaft
43
e. Reproduktionsmedizin
45
f. Auskunfts-, Informations- und Zeugnisverweigerungsrechte
45
g. Wohnrechte
46
3. Möglichkeit und Grenzen vertraglicher Ausgestaltung sozialer
Nahbeziehungen
47
a. Ausgestaltung der Ehe durch Ehe- oder
Lebenspartnerschaftsvertrag
47
b. Vertragliche Vereinbarungen bei nicht formalisierter
Lebensgemeinschaft
49
4. Alternative Regelungsmodelle
50
a. Grundsätze für ein Recht der faktischen Lebensgemeinschaften
51
b. Modell 1: Erweiterte Rechtswirkungen der nicht formalisierten
Lebensgemeinschaft (Opt Out)
52
c. Modell 2: Das faktische Zusammenleben als (neues) formalisiertes
Rechtsinstitut (Opt-in, Solidaritätspakt)
56
d. Kombinationsmodell
60
IV. Eltern-Kind-Beziehungen
61
1. Elternschaft nach künstlicher Befruchtung
61
a. Ungleichbehandlungen beim Zugang zu medizinischen
Reproduktionstechniken und der Finanzierung künstlicher
Befruchtung
62
b. Der rechtliche Status der Wunscheltern und des
Samenspenders in der Inseminationsfamilie
63
2. Ein-Eltern-Familien
66
a. Die intendierte Ein-Eltern-Familie
66
b. Die ökonomische Situation von Ein-Eltern-Familien
67
c. Reformoptionen
68
3. Mehr-Eltern-Modelle (intendierte und gewachsene Stieffamilien)
69
a. Die Zwei-Eltern-Theorie des Bundesverfassungsgerichts
und ihre Kritik
69
b. Die abstammungsrechtliche Ebene
70
c. Die Ausgestaltung der tatsächlichen Sorge
70
4. Der Familienleistungsausgleich
71
a. Kinderfreibetrag
73
b. Kindergeld
74
c. Reformoptionen
75
V. Zusammenfassung der Ergebnisse und der Handlungsempfehlungen 76
1. Ehe und Lebenspartnerschaft
76
2. Faktische Lebensgemeinschaften
76
3. Eltern-Kind-Beziehungen
77
Impressum 79
Modell – Wahlverwandtschaften
Plurale Familienformen rechtlich
ermöglichen und absichern
Vorschlag der Familienpolitischen Kommission der Heinrich-Böll-Stiftung
In Gemeinschaft in Verantwortung
Familie ist da, wo Menschen kontinuierlich füreinander Verantwortung übernehmen;
sie reicht heute von der klassischen Ehe über nichteheliche Lebensgemeinschaften
mit und ohne Kinder, Ein-Eltern- oder Patchwork-Familien, gleichgeschlechtlichen
Partnerschaften bis hin zu familiären Netzwerken, die über Generationengrenzen
hinweg gelten und auch Menschen ohne verwandtschaftliche Bindung einschließen.
Verantwortung wird nicht mehr ausschließlich innerhalb der Ehe gelebt oder in einer
Liebesbeziehung übernommen: Freundinnen und Freunde etwa, oder Nachbarn und
Nachbarinnen helfen sich gegenseitig und stehen füreinander ein. Auch die sich stetig
entwickelnden neuen Wohnformen, Alten-WGs oder Mehrgenerationenhäuser, beruhen
auf sozialen, nicht auf verwandtschaftlichen Beziehungen der Bewohner/innen. Diese
Vielfalt der pluralen Lebensformen steht einem relativ engen Recht gegenüber, das nicht
auf alle Gemeinschaften anwendbar ist.
Nichteheliche Lebensgemeinschaften werden von der Rechtsordnung fast durchgehend
als Beziehungen zwischen Fremden behandelt, gleichgültig wie lange sie gelebt
werden. Obwohl auch in den neuen intentionalen Verantwortungsgemeinschaften ein
Teil der Betreuungs-, Sorge- und Pflegearbeit für Kinder, kranke und alte Menschen
übernommen wird, werden diese Paare vom Staat sozialrechtlich nur dann zur Kenntnis
genommen, wenn es seinen fiskalischen Interessen dient, wie z. B. bei der Anrechnung
des Einkommens in einer Bedarfsgemeinschaft. Wer aber Pflichten hat, sollte auch
garantierte Rechte haben. Hier müssen deshalb neue Regelungen gefunden werden, um
die vielfältigen Formen der Sorge- und Solidarbeziehungen tatsächlich abzusichern und
soziale Schieflagen zu vermeiden. Derzeit ist die bestehende Rechtslage für diejenigen,
die weder Ehe noch Lebenspartnerschaft eingehen wollen, sehr unübersichtlich und
inkonsistent. Ein vereinfachtes Rechtsinstitut soll hier Abhilfe schaffen.
Die Familienpolitische Kommission der Heinrich-Böll-Stiftung hat vor diesem Hintergrund und auf Grundlage einer juristischen Expertise, die sich mit verschiedenen Modellen
der rechtlichen Anerkennung von Sorge- und Solidarbeziehungen auseinandersetzt, einen
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Vorschlag für die unterschiedlich gewählten Sorge- und Verantwortungsbeziehungen
erarbeitet. Dieser Vorschlag soll Sorgeleistungen anerkennen und die vielfältigen
Formen des Zusammenlebens rechtlich absichern. Uns ist es wichtig, die Freiheit der
Lebensentwürfe und der Verantwortungsübernahme zu ermöglichen, und zwar in allen
sozialen Lagen.
Ehe für alle
Die Ehe muss endlich für alle geöffnet werden. Gleichgeschlechtliche Paare werden
durch das Eheverbot aufgrund ihrer Sexualität konkret und symbolisch diskriminiert;
in einer Reihe von Rechtsbereichen sind sie trotz der Möglichkeit, eine eingetragene
Lebenspartnerschaft einzugehen, noch immer benachteiligt gegenüber der Ehe.
Durch die «Ehe für alle» wird die eingetragene Lebenspartnerschaft als Rechtsinstitut
ersetzt. Damit wird klargestellt, dass zwei Menschen, unabhängig von der Kombination
ihrer Geschlechter, den Schutz des Artikels 6 Absatz 1 genießen. Hierfür müssen sich alle
Paare wie bisher im Standesamt registrieren lassen. Die gesetzlichen Rechtsfolgen nach
der Trennung umfassen – wie bisher – den Zugewinnausgleich, den Versorgungsausgleich
und die Unterhaltspflichten.
Gleichzeitig wollen wir das traditionelle und nicht mehr zeitgemäße Leitbild der
Alleinverdienerehe aufbrechen. Das diesem Leitbild entsprechende Ehegattensplitting soll
abgeschafft und durch lebensformenneutrale Modelle ersetzt werden.
Pakt für das Zusammenleben (PaZ)
Darüber hinaus gilt es, tatsächlich gelebte Verantwortungsübernahme in Partnerschaften mit oder ohne Kindern unabhängig von der Ehe rechtlich zu ermöglichen und
abzusichern. Mit dem Pakt für das Zusammenleben (PaZ) soll ein neues Rechtsinstitut
geschaffen werden, mit dessen Hilfe zwei Menschen ihr Zusammenleben alltagstauglich
rechtlich absichern können. Er greift für Zweiergemeinschaften, die auf dem Willen zur
gegenseitigen Verantwortungsübernahme beruhen. Diese können, müssen aber nicht, auf
einer Liebesbeziehung fußen. Wer sich dafür entscheidet, muss sich formlos registrieren
lassen. Die Rechtsfolgen des Pakts bestehen während seiner Dauer aus gegenseitigen
Auskunfts-, Informations- und Vertretungsrechten. Die heute schon existierende
Möglichkeit, dies in individuellen Verträgen und Vollmachten zu klären, wird hier nun
rechtlich erleichtert.
Den sozialrechtlich schon definierten Beistandspflichten sollen zusätzlich auch die
entsprechenden Unterhaltspflichten gegenüberstehen und damit den hinsichtlich der
sozialen Absicherung schwächeren Teil der Zweiergemeinschaft stärken. Außerdem
sollen erbrachte Unterstützungsleistungen steuerrechtlich absetzbar sein. Ansprüche auf
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Elterngeld oder die Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten gelten identisch zur Ehe.
Ein freiwilliges Splitting der Rentenbeiträge kann vereinbart werden.
Wer heute Sorgetätigkeiten übernimmt, tut dies meistens unentgeltlich und nimmt
zudem, vor allem durch den Verzicht auf (Vollzeit-) Erwerbstätigkeit, eine Reihe von
Nachteilen in Kauf. Da nach wie vor Frauen einen Großteil dieser Arbeit leisten, sind
sie es, die am häufigsten mit den in ihrem Lebenslauf kumulierenden nachteiligen
Konsequenzen konfrontiert werden. Dies gilt insbesondere, wenn die Beziehung
auseinandergeht, innerhalb derer die Sorgetätigkeit praktiziert wurde. Hier plädieren wir
für Rechtssicherheit und eine güterrechtliche Trennung bei Auflösung des Pakts. Sowohl
die Registrierung als auch die Auflösung des Paktes soll einfach möglich sein.
Rechtssicherheit für gelebtes Miteinander
Auch in Paarbeziehungen, in denen beide Teile keine formalisierte Partnerschaft
eingehen möchten, wird oft gemeinsam gewirtschaftet, werden unter Umständen
Kinder gemeinsam großgezogen und Angehörige gepflegt, verzichten Partner/Innen
aufgrund von Sorgetätigkeiten zugunsten des oder der Anderen auf Erwerbstätigkeit und
berufliche Weiterentwicklung. Deswegen wollen wir auch hier das freiwillige Splitting
der Rentenbeiträge ermöglichen. Zudem sollte für den Trennungsfall die rechtliche
Absicherung, insbesondere der wirtschaftlich schlechter gestellten Person, verbessert
werden.
In der Lebenswirklichkeit entwickeln sich Lebensgemeinschaften zumeist schrittweise
hin zu einer immer engeren Verbindung, so dass ein klarer „Startpunkt“ für den
Vermögensausgleich kaum zu ermitteln ist. Bisher ist die Rechtsprechung zum Umgang
mit der güterrechtlichen Trennung nach einer langjährig gelebten Beziehung sehr
unterschiedlich. Für bestimmte Arten von Zuwendungen, die während der Partnerschaft
geleistet wurden, gewährt die Rechtsprechung mittlerweile einen finanziellen Ausgleich.
Über die mögliche Rechtsgrundlage herrscht allerdings Uneinigkeit. Im Einzelnen
ist hier vieles ungeklärt, die Rechtslage für die betroffenen Paare unübersichtlich,
wenig vorhersehbar und den tatsächlichen Lebensverhältnissen nur punktuell
angepasst. Sinnvoller scheint es deswegen, an die bisherige Rechtsprechung zu den
nachpartnerschaftlichen Ausgleichsansprüchen anzuknüpfen und diese gesetzlich klar
zu regeln. Solche Ansprüche müssten für unbezahlte betriebliche Mitarbeit und andere
materielle Leistungen gelten und sollten einmalig ausgeglichen werden.
Wir wollen für Patchworkfamilien das alltägliche Leben vereinfachen. Bestehende
rechtliche Benachteiligungen zum Beispiel beim Empfang von Elterngeld wollen wir
beseitigen. Zudem sollte ein „kleines Sorgerecht“ auch dann ermöglicht werden, wenn die
beiden rechtlichen Eltern das gemeinsame Sorgerecht haben. Ein größerer Spielraum für
einvernehmliche Absprachen aller Beteiligten sollte zugelassen werden können.
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Juristisches Gutachten –
Wahlverwandtschaften –
Die Berücksichtigung pluraler
Familienformen im Recht
Verfasst von PD Dr. Friederike Wapler
Gegenstand des Gutachtens
In einer pluralistischen Gesellschaft leben die Menschen auf ganz unterschiedliche Weise
zusammen: als Singles oder Paare, in gleich- oder verschiedengeschlechtlichen Lebensgemeinschaften, mit oder ohne Kinder. Die einen heiraten oder verpartnern sich, die anderen
nicht. Kinder leben mit ihren leiblichen Eltern, Stief-, Adoptiv- oder Pflegeeltern zusammen; sie werden längst nicht mehr nur auf natürlichem Wege gezeugt. Die familiären Bindungen eines jeden Menschen ändern sich im Laufe des Lebens durch Trennung, Scheidung
oder Tod. Neue Partnerschaften bringen ganze Systeme in Unordnung und zwingen sie, sich
neu zu sortieren. Nicht alle sozialen Gemeinschaften haben eine Verwandtschafts- oder
Paarbeziehung als Kern. Unabhängig von der rechtlichen oder leiblichen Zugehörigkeit
finden sich Menschen zu«Wahlfamilien» zusammen: Gemeinschaften von zwei oder mehr
Personen, die sich dazu entschließen, ihr Leben solidarisch miteinander zu teilen, sei es als
lesbisch-schwule Lebensgemeinschaft mit Kindern, sei es als Senior_innen-Wohngemeinschaft, Landkommune oder Mehr-Generationen-Projekt.
In Familien und anderen privaten sozialen Gemeinschaften wird soziale, finanzielle und
emotionale Solidarität in ganz unterschiedlichen Ausprägungen gelebt. Sie übernehmen
Aufgaben wie die Kindererziehung und die Pflege kranker oder alter Menschen, die der
Staat nicht oder jedenfalls nicht allein erfüllen könnte und in vieler Hinsicht auch gar nicht
an sich ziehen sollte. In privaten sozialen Gemeinschaften wird finanzielle Unterstützung
häufig weit über das Maß hinaus geleistet, das ihre Mitglieder unterhalts- oder sozialrechtlich voneinander verlangen könnten. Es besteht daher Anlass und Notwendigkeit, über die
rechtliche Absicherung und Förderung solidarischer Gemeinschaften neu nachzudenken.
Gegenstand des Gutachtens
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Über lange Zeiten hat es sich das Recht leicht gemacht und allein die in der Ehe gegründete
Familie akzeptiert und ausgestaltet. Andere Lebensweisen hat es entweder mit minderen
Rechten ausgestattet, wie die Lebensverhältnisse nichtehelicher Kinder, oder als sittenwidrig stigmatisiert, wie die nichteheliche und die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft.
Diese Fixierung auf die Ehe ist zwar längst überwunden, doch hat das geltende Recht in
vieler Hinsicht noch keine widerspruchsfreien Formen gefunden, um der Vielfalt der Lebensweisen gerecht zu werden. Ist die Ehe immer noch als vorzugswürdige Familienform
anzusehen oder wird nicht vielmehr in anderen Gemeinschaften in gleicher Weise Solidarität gelebt? Wo finden Kinder günstige Bedingungen für ihr Aufwachsen und wovor muss
man sie unbedingt schützen? Wie weit reicht die Freiheit der Individuen, ihr Leben selbst
zu regeln, und wo bedürfen ihre privaten Entscheidungen der Regulierung und des Schutzes
durch den Staat?
Das vorliegende Gutachten gibt einen Überblick über die gegenwärtige Diskussion, die
offenen Fragen und mögliche Lösungsansätze zur Regulierung pluraler Familienformen.
Im ersten Teil werden die grundlegenden Begriffe erläutert und die rechtstatsächliche
Lage dargestellt (I). Anschließend wird das Verhältnis von Ehe und Lebenspartnerschaft
erörtert (II), bevor auf die Rechtslage nichtehelicher und lebenspartnerschaftsähnlicher
Lebensgemeinschaften eingegangen wird (III). Ein eigener Abschnitt wird zum Schluss
dem Verhältnis von Eltern und Kindern gewidmet, weil deren Rechtslage mittlerweile weitgehend unabhängig von der Lebensform der Eltern ausgestaltet ist (IV). Die wesentlichen
Ergebnisse und Empfehlungen werden im Schlusskapitel (V) zusammengefasst.
Soziale Nahbeziehungen bewegen sich rechtlich in einem komplexen Geflecht aus verfassungs-, familien-, arbeits-, steuer- und sozialrechtlichen Regelungen, deren Zusammenspiel
hier nur in seinen wesentlichen Zügen adäquat dargestellt werden kann. Das Gutachten
bietet eine Grundlage für eine differenzierte politische Diskussion und arbeitet zu diesem
Zweck die Grundgedanken heraus, von denen rechtliche Regelungen pluraler Familienformen getragen sein sollten, und zeigt rechtliche und politische Handlungsalternativen und
Gestaltungsspielräume auf.
Gegenstand des Gutachtens
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I. Begriffliche und empirische Grundlagen
1. Ehe, Lebenspartnerschaft, Lebensgemeinschaft(en),
Familie
a. Formalisierte Paarbeziehungen: Ehe und
Lebenspartnerschaft
Die Ehe ist nach geltender Rechtslage eine rechtlich formalisierte Partnerschaft zweier
verschiedengeschlechtlicher Partner_innen.[1] Sie wird nach den Regeln der §§ 1303 ff.
BGB geschlossen und kann gem. §§ 1313 ff. BGB durch Scheidung wieder aufgelöst werden. Die Zahl der Eheschließungen ist in Deutschland – wie in den meisten europäischen
Staaten[2] – rückläufig: Waren im Jahr 1950 noch 10,8 Eheschließungen je 1.000 Einwohner_innen zu verzeichnen, waren es im Jahr 2014 nur noch 4,8.[3] Etwa 35 % aller in
einem Jahr geschlossenen Ehen werden nach den derzeitigen Lebensverhältnissen im Laufe
der nächsten 25 Jahre geschieden. Die durchschnittliche Dauer der geschiedenen Ehen
betrug im Jahr 2014 vierzehn Jahre und acht Monate.[4]
Das rechtlich formalisierte Institut für gleichgeschlechtliche Paare ist in Deutschland die
eingetragene Lebenspartnerschaft, deren Begründung, Gestaltung und Beendigung seit
2001 im Lebenspartnerschaftsgesetz (LPartG) geregelt ist. Im Jahr 2013 lebten insgesamt etwa 78.000 gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften in Deutschland. 45%
dieser Paare haben sich für die formalisierte Form der eingetragenen Lebenspartnerschaft
entschieden. Dieser Anteil hat sich seit 2006 nahezu verdreifacht. Nach den Erkenntnissen
des Statistischen Bundesamtes gibt es in Deutschland etwa 35.000 (Stand 2013) einge-
1 Vgl. BVerfGE 10, 59 (66): „Ehe ist auch für das Grundgesetz die Vereinigung eines Mannes und
einer Frau zur grundsätzlich unauflöslichen Lebensgemeinschaft, und Familie ist die umfassende
Gemeinschaft von Eltern und Kindern, in der Eltern vor allem Recht und Pflicht zur Pflege und
Erziehung von Kindern erwachsen.“
2 Vgl. European Commission, Demography Report 2010, S. 68 ff.
3 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung, Eheschließungen und durchschnittliches Heiratsalter
Lediger. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/
Eheschliessungen/Tabellen/EheschliessungenHeiratsalter.html, Letzter Zugriff: 08.02.2016.
4 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung, Ehescheidungen, Maßzahlen zu Ehescheidungen
2000 bis 2014. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/
Ehescheidungen/Tabellen/MasszahlenEhescheidungen.html, letzter Zugriff 13.02.2016
I.
Begriffliche und empirische Grundlagen
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tragene Lebenspartnerschaften.[5] 57% der eingetragenen Lebenspartnerschaften werden
von Männern geschlossen.[6]
b. Nicht formalisierte (faktische) Paarbeziehungen:
nichteheliche und lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaft
Neben diesen beiden Formen der rechtlich abgesicherten Zweierbeziehung gibt es unterschiedliche Varianten nicht formalisierter Lebensgemeinschaften. Die nichteheliche oder
eheähnliche Lebensgemeinschaft meint eine nicht rechtlich verfasste Paarbeziehung zweier
verschiedengeschlechtlicher Menschen. Dementsprechend kann eine gleichgeschlechtliche
Beziehung, die nicht in einer Lebenspartnerschaft formalisiert ist, als lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaft bezeichnet werden.[7] Die Zahl der nichtehelichen und lebenspartnerschaftsähnlichen Lebensgemeinschaften ist in den vergangenen Jahrzehnten stark
angestiegen. Im Jahr 2011 umfasste sie etwa 2,8 Mio. Paare, was gegenüber 1996 einen
Anstieg von 52 % bedeutet. 98% dieser faktischen Lebensgemeinschaften sind verschiedengeschlechtliche Paare.[8]
Im geltenden Recht finden sich wenige Hinweise auf faktische Lebensgemeinschaften. Im
Familienrecht des BGB werden sie nicht ausdrücklich erwähnt. Dagegen ist im Recht der
Sozialhilfe geregelt, dass die «eheähnliche oder lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaft» nicht besser gestellt werden darf als die Ehe (§ 20 SGB XII). Im Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende fallen faktische Lebensgemeinschaften unter den Begriff der
Bedarfsgemeinschaft in § 7 Abs. 3, 3a SGB II. Die Landesverfassungen von Berlin und
Brandenburg erwähnen «auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften»: Art. 12 Abs. 2 der
Verfassung von Berlin verbietet ihre Diskriminierung, Art. 26 Abs. 2 der Verfassung des
Landes Brandenburg anerkennt ihre Schutzbedürftigkeit.
Eine einheitliche rechtliche Definition der faktischen Lebensgemeinschaft sucht man im
Gesetz jedoch vergebens. In Rechtsprechung und Schrifttum versteht man unter ihr bei unterschiedlicher Formulierung im Kern eine auf Dauer angelegte Beziehung zwischen zwei
Personen, deren innere Beziehung über eine bloße Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft
5 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung, Im FOKUS vom 27.05.2015. https://www.destatis.de/DE/
ZahlenFakten/ImFokus/Bevoelkerung/GleichgeschlechtlicheLebensgemeinschaften.html, letzter
Zugriff: 08.02.2016.
6 Statistisches Bundesamt, Zahl der Woche v. 17.03.2015. https://www.destatis.de/DE/
PresseService/Presse/Pressemitteilungen/zdw/2015/PD15 _ 012 _ p002.html, letzter Zugriff:
08.02.2015.
7 Vgl. BVerfG NJW 2006, 895.
8 Hammes, Haushalte und Lebensformen der Bevölkerung. Ergebnisse des Mikrozensus 2011, in:
Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Wirtschaft und Statistik 2012, S. 977, 989 (983 ff.).
I.
Begriffliche und empirische Grundlagen
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hinausgeht.[9] Zentral ist das letztgenannte Merkmal: Wie Ehe und Lebenspartnerschaft
wird auch die faktische Lebensgemeinschaft als umfassende Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft verstanden. Es wird also vorausgesetzt, dass die Partner_innen sich im
Alltag gegenseitig unterstützen und einander in Notfällen beistehen.[10] In dieser Hinsicht
besteht zwischen nichtehelicher und lebenspartnerschaftsähnlicher Lebensgemeinschaft
kein Unterschied, so dass ihre rechtliche Definition im Ergebnis, mit Ausnahme der Kombination der Geschlechter, dieselbe ist.[11] Als gemeinsame Oberbegriffe bieten sich „nicht
formalisierte Lebensgemeinschaft“ oder auch „faktische Lebensgemeinschaft“ an. Beide
Ausdrücke werden im Folgenden synonym verwendet.[12]
Woran man allerdings konkret erkennen kann, dass zwei Menschen eine Verantwortungsgemeinschaft bilden, wenn sie dies nicht selbst zum Ausdruck bringen, wird im Familienund Sozialrecht nicht einheitlich beantwortet. Nach § 7 Abs. 3a Nr. 1 SGB II wird eine
Verantwortungsbeziehung unter anderem vermutet, wenn zwei Personen seit einem Jahr
zusammenleben. Dagegen wird im Recht der Sozialhilfe (§ 20 SGB XII) und im Familienrecht auf das Gesamtbild der Beziehung abgestellt, in dem die Dauer des Zusammenlebens
ein Indiz sein kann, aber allein nicht hinreicht. Stattdessen wird eine in wesentlichen Lebensbereichen gemeinsame Lebensgestaltung verlangt, z.B. die gemeinsame Erziehung von
Kindern, gemeinsame Haushaltsführung, gemeinsamer Urlaub oder allgemein eine dauerhafte und die gesamte Lebensführung betreffende Bindung.[13] Eine sexuelle Beziehung
kann ein Hinweis auf eine faktische Lebensgemeinschaft sein, gehört aber nicht zu ihren
notwendigen Merkmalen.[14]
9 BVerfGE 87, 234 (264); BGHZ 121, 116 (124); BGHZ 191, 116 (124); BGH NJW 1993, 999;
BVerwGE 52, 11; BVerwGE 85, 195; BSGE 63, 120 (123); BSGE 72, 125. Aus der Literatur vgl.
Schumann, Die nichteheliche Lebensgemeinschaft, in: Soergel/Wellenhofer, BGB, Bd. 17/2, 13.
Aufl. 2013, Rn. 1; Wellenhofer, Zivilrechtsprobleme der nichtehelichen Lebensgemeinschaft, in:
Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2013, Anhang zu § 1302 BGB, Rn. 3.
10 Vgl. BVerfGE 87, 234 (264); BVerfG FamRZ 1993, 164 (169); vgl. Grube, in: Grube/Wahrendorf,
SGB XII, 5. Aufl. 2014, § 20 Rn. 12 ff.; Schumann (Fn. 9), Rn. 1.
11 Schumann (Fn. 9), Rn. 2; Wellenhofer, (Fn. 9), Rn. 4.
12 Der Sprachgebrauch ist uneinheitlich. Teilweise wird der Ausdruck „nichteheliche
Lebensgemeinschaft“ auch als Oberbegriff für die eheähnliche und lebenspartnerschaftsähnliche
Lebensgemeinschaft verwendet, vgl. Schumann (Fn. 9), Rn. 2 f. Der Begriff der faktischen
Lebensgemeinschaft wird in der Rechtsprechung teilweise verwendet, um auch das Zusammenleben
mehrerer Personen außerhalb von Paarbeziehungen zu benennen, vgl. BGHZ 177, 193 (206).
13 Für das Familienrecht vgl. Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 3; Muscheler, Familienrecht, 3. Aufl. 2013, Rn.
49; für das Sozialhilferecht Grube (Fn. 10), § 20 Rn. 14.
14 Vgl. BVerwGE 98, 195 (201); Grube (Fn. 10), § 20 Rn. 14; Schumann (Fn. 9), Rn. 1; Wellenhofer
(Fn. 9), Rn. 2; a.A. für die nichteheliche, nicht aber die lebenspartnerschaftliche Gemeinschaft
Muscheler (Fn. 13), Rn. 49.
I.
Begriffliche und empirische Grundlagen
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c. Lebensgemeinschaften mit Kindern
Formalisierte wie nicht formalisierte Lebensgemeinschaften können, müssen aber nicht
Kinder einschließen. Mit Kindern leben können zudem auch andere Personen, etwa Alleinstehende (Ein-Eltern-Familie) oder zwei Erwachsene als Pflegeeltern (Pflegefamilie).
Des Weiteren kommt es beim Zusammenleben mit Kindern häufig zu komplexen Mehrpersonenstrukturen, etwa wenn die leiblichen Eltern sich getrennt haben, jeweils mit neuen
Partner_innen zusammenleben, mit diesen möglicherweise gemeinsame Kinder bekommen
haben und sich ihre Kinder aus der früheren Beziehung regelmäßig bei ihnen aufhalten.
Von diesen Stief- und Patchworkfamilien zu unterscheiden ist die Mehrehe, die in einigen
islamisch geprägten Rechtsordnungen und in manchen Regionen Afrikas insbesondere als
Polygamie (ein Mann mit mehreren Ehefrauen) legal ist. Aufgrund der komplexen Regelungen des internationalen Familienrechts kann sich vor deutschen Gerichten die Frage stellen, ob und ggf. in welcher Hinsicht polygame Verbindungen hier anzuerkennen sind.[15]
Eine Legalisierung der Mehrehe steht hingegen nicht zur Diskussion und wird im Folgenden
auch nicht weiter thematisiert.[16]
Betrachtet man die tatsächliche Situation von Lebensgemeinschaften mit Kindern, so ist
die Ehe nach wie vor die vorherrschende Familienform, wenngleich auch hier deutliche
Pluralisierungstendenzen erkennbar werden: Während 1996 noch 81,4% aller Kinder in
einer Ehe aufwuchsen, waren es im Jahr 2012 nur noch 70,7%. Angestiegen ist in dieser
Zeit der Anteil nichtehelicher Lebensgemeinschaften mit Kindern (von 4,8% auf 9,9%)
sowie der Ein-Eltern-Familien (von 13,8% auf 19,9%). Unter den nichtehelichen Lebens-
15 Vgl. OVG Rh-Pf, 12.03.2004, Az. 10 A 11717/03.
16 Das Bundesverfassungsgericht definiert die Ehe als monogame Lebensgemeinschaft, vgl.
BVerfGE 29, 166 (176); BVerfGE 31, 58 (67); BVerfGE 62, 323 (330); BVerfGE 76, 1 (41 f.);
zustimmend u.a. Hwang, Besonderer Schutz der Ehe im Umbruch? Zugleich Anmerkung zu neueren
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, KritV 97 (2014), S. 133-150 (149); Benedict, Die
Ehe unter dem besonderen Schutz der Verfassung – Ein vorläufiges Fazit, JZ 68 (2013), S. 477-487
(479 f.); Germann, Dynamische Grundrechtsdogmatik von Ehe und Familie? In: Zukunftsgestaltung
durch Öffentliches Recht. Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
(VVDStRL) 73 (2014), S. 257-295 (267) m.w.N. Im verfassungsrechtlichen Schrifttum finden
sich jedoch auch Stimmen, die davon ausgehen, dass die Ehe im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG nicht
notwendig die Einehe sein muss, sofern und soweit die primäre Funktion der Ehe als Einstands- und
Verantwortungsgemeinschaft auch in einer Mehrpersonenkonstellation denkbar sei. Nach dieser
Ansicht könnte die Mehrehe verfassungsrechtlich allerdings nur dann legitimiert sein, wenn sie mit
dem Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter vereinbar ist, was in den bestehenden
polygamen Strukturen, die einem Mann mehrere Frauen, nicht aber einer Frau mehrere Männer
erlauben, zu verneinen ist, vgl. Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn.
79; siehe zu möglichen Verstößen der Polygamie gegen völkerrechtliche Diskriminierungsverbote
Joint general recommendation/general comment No. 31 of the Committee on the Elimination of
Discrimination against Women and No. 18 of the Committee on the Rights of the Child on harmful
practices v. 04.11.2014, CEDAW/C/GC/31-CRC/C/GC/18, §§ 24 ff.
I.
Begriffliche und empirische Grundlagen
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gemeinschaften mit Kindern überwiegen die verschiedengeschlechtlichen Partnerschaften.
Der Anteil der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften mit Kindern betrug im Jahr
2012 nur 0,06%.[17] In etwa einer von zehn gleichgeschlechtlichen Partnerschaften
wachsen Kinder auf, in absoluten Zahlen leben demnach etwa 7.000 Kinder in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften.[18] Unter diesen wachsen 5.700 in eingetragenen
Lebenspartnerschaften auf, davon wiederum 86% mit zwei Frauen.[19]
d. Familie
Die Pluralisierung der Lebensformen führt zu einer Vervielfältigung der Zwecke, zu denen
Menschen zusammenleben. Die traditionelle Ehe war der Kern einer größeren Hausgemeinschaft, in der auch die Mitglieder der erweiterten Verwandtschaft – Geschwister,
Onkel und Tanten, Großeltern – Platz finden konnten, etwa wenn sie pflegebedürftig wurden oder unverheiratet blieben. Die eheliche Familie war eine Wirtschaftsgemeinschaft und
der wesentliche und sozial anerkannte Sozialisationsort für Kinder; sie übernahm wesentliche Aufgaben der Gesellschaft und hatte insofern auch eine sozialpolitische Funktion und
konnte ihren Mitgliedern im besten Falle auch emotionale und soziale Stabilität bieten.
Heute übernimmt nicht mehr jede Lebensgemeinschaft all diese Funktionen. Insbesondere
der Zusammenhalt als Wirtschaftsgemeinschaft ist unwichtiger geworden, seit Risikovorsorge, Alterssicherung und Existenzminimum in erheblichem Umfang vom Staat und den
sozialen Sicherungssystemen getragen werden. Der Begriff der Familie kann sich daher auf
eine enorme Vielfalt an Lebensgestaltungen beziehen.
aa. Soziologische Begriffsbildungen
In der Familiensoziologie wird der Begriff der Familie vor allem durch verwandtschaftliche
Beziehungen sowie durch das Zusammenleben im Mehrgenerationenverhältnis charakterisiert.[20] Familiäre Beziehungen zeichnen sich des Weiteren durch ein besonderes Näheoder Kooperationsverhältnis aus, das sich aus klar festgelegten Rollen (Mutter, Vater,
Kind) oder aus faktischen Nähebeziehungen ergeben kann.[21] Ähnlich wie im Alltags-
17 Zahlen nach Jurczyk/Klinkhardt, Vater, Mutter, Kind? Acht Trends in Familien, die Politik heute
kennen sollte, 2014, S. 7.
18 Statistisches Bundesamt, IM FOKUS vom 20.02.2013, https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/
ImFokus/Bevoelkerung/Lebenspartnerschaft.html (letzter Zugriff: 13.02.2016). Die Zahl bezieht
sich auf minderjährige Kinder. Bezieht man volljährige ledige Kinder in die Betrachtung ein, beläuft
sich die Zahl auf etwa 9.000, vgl. Gründler/Schiefer, Familienleitbilder unter dem Regenbogen –
Akzeptanz von Regenbogenfamilien in Deutschland. Bevölkerungsforschung aktuell 4/2013, S. 18
ff. (19).
19 Statistisches Bundesamt (Fn. 18).
20 Vgl. Langmeyer, Sorgerecht, Coparenting und Kindeswohl. Elternsein in nichtehelichen
Lebensgemeinschaften, 2015, S. 5.
21 Ebd., S. 5 f.
I.
Begriffliche und empirische Grundlagen
14 / 79
sprachgebrauch gelten also neben der Kleinfamilie aus Eltern und Kindern auch Geschwisterverhältnisse sowie die Beziehungen zu Großeltern, Tanten, Cousinen, Schwägern etc. als
Familie.
bb. Der rechtliche Sprachgebrauch
Im Recht wird der Begriff unterschiedlich verwendet je nachdem, in welchem Kontext er
gebraucht wird. Im Grundgesetz (GG) wird der Begriff der Familie in Art. 6 Abs. 1 erwähnt.[22] Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) bezeichnet
er die «umfassende Gemeinschaft von Eltern und Kindern».[23] Daran ist für die weiteren
Überlegungen zweierlei wichtig festzuhalten: Der verfassungsrechtliche Begriff der Familie
steht in keinem notwendigen Zusammenhang zu dem der Ehe, d.h. der Schutz der Familie
bezieht sich auf eheliche und nichteheliche Verhältnisse in gleicher Weise.[24] Des Weiteren wird im Eltern-Kind-Verhältnis nicht danach differenziert, ob die Kinder leiblich mit
den Eltern verwandt sind oder nicht. Auch Adoptiv-, Stief- und Pflegekinderverhältnisse
sind daher als Familien im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich geschützt.[25]
In zwei anderen Hinsichten ist der verfassungsrechtliche Familienbegriff begrenzt: Zum
einen erfasst er keine kinderlosen Paarbeziehungen. Während die kinderlose Ehe nach Art.
6 Abs. 1 GG neben der Familie den besonderen Schutz des Staates genießt, werden die
eingetragene Lebenspartnerschaft sowie nicht formalisierte Paarbeziehungen ohne Kinder weder als Ehe noch als Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG angesehen.[26] Versteht man unter einer Familie, ähnlich wie in der Soziologie, gerade das Zusammenleben
in einem Mehrgenerationenverhältnis, dann ist dieses Verständnis konsequent.[27] Das
Zusammenleben zweier Erwachsener bleibt verfassungsrechtlich jedoch nicht ohne Schutz,
sondern ist als Ausprägung ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) vom
Staat zu respektieren.[28]
22 Art. 6 Abs. 1 GG: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz des Staates.“
23 BVerfGE 10, 59 (66).
24 BVerfGE 8, 210 (215); 24, 119 (135); 25, 167 (196); 79, 256 (267); 106, 166 (176); vgl. auch
Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 44; dies., Die Ehe für alle durch Änderung des BGB, NJW
2015, S. 3557 ff. (3558).
25 BVerfGE 18, 97 (105 f.); 24, 119 (144); 79, 256 (267). Zur umstrittenen Einordnung der
nichtehelichen Stieffamilie als Familie i.S.d. Art. 6 Abs. 1 GG siehe Schumann (Fn. 9), Rn. 29 f.
26 BVerfGE 87, 234 (264); Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 GG Rn. 57, 110; Schumann (Fn. 9), Rn.
23; dies., Die nichteheliche Familie, 1998, S. 186 f.
27 Allerdings ist die Ungleichbehandlung von Ehe und Lebenspartnerschaft in Bezug auf den
besonderen verfassungsrechtlichen Schutz nicht unproblematisch, da beide in gleicher Weise
rechtliche Verwandtschaftsverhältnisse begründen, vgl. § 11 Abs. 1 LPartG: „Ein Lebenspartner
gilt als Familienangehöriger des anderen Lebenspartners, soweit nicht etwas anderes bestimmt ist.“
Zur Kritik an dieser Formulierung Schumann (Fn. 9), Rn. 11.
28 Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 57; Robbers, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 6.
Aufl. 2010, Art. 6 Rn. 43.
I.
Begriffliche und empirische Grundlagen
15 / 79
Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) enthält ein Recht auf Achtung des
Privat- und Familienlebens (Art. 8 Abs. 1).[29] Wie das BVerfG sieht auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der über die Einhaltung der EMRK wacht,
Beziehungen zwischen Erwachsenen grundsätzlich nicht als Familienleben im Sinne dieses
Artikels an. Ausnahmen akzeptiert er allenfalls im Verhältnis von Eltern und ihren volljährigen Kindern, sofern zwischen ihnen ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis besteht.[30]
Auch nach der EMRK wird der Begriff der Familie demnach durch die Beziehung im Mehrgenerationenverhältnis geprägt.
Nicht übereinstimmend sind hingegen die Auffassungen des BVerfG und des EGMR, soweit
Verwandtschaftsverhältnisse außerhalb der Kernfamilie aus Eltern und Kindern betroffen
sind. Nach der Definition des BVerfG umfasst der Familienbegriff des Art. 6 Abs. 1 GG
zwar jede Beziehung zwischen Eltern und Kindern, jedoch nicht die Groß- und Mehrgenerationenfamilie.[31] Der EGMR hingegen bezieht in den Begriff des Familienlebens aus
Art. 8 Abs. 1 EMRK schon seit den 1970er Jahren jedenfalls das Großeltern-Enkel-Verhältnis ein. Für ihn umfasst der Schutz des Familienlebens jedenfalls alle nahen Verwandtschaftsverhältnisse.[32] Auch im deutschen verfassungsrechtlichen Schrifttum wird die
Definition des BVerfG als zu eng kritisiert, weil sie wichtige Nähe- und Fürsorgebeziehungen im Mehrgenerationenverhältnis vernachlässige.[33]
Im einfachen Recht wird der Begriff der Familie denn auch weiter interpretiert. Geht es im
BGB darum, der «Familie» oder den «Familienangehörigen» bestimmte Rechte einzuräumen, so werden auch Verwandtschaftsverhältnisse außerhalb der Kernfamilie und zunehmend die Partner_innen faktischer Lebensgemeinschaften einbezogen.[34]
29 Art. 8 Abs. 1 EMRK: „Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens,
ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.“
30 EGMR, 29.01.1997, Az. 23078/93 – Bouchelkia/France, § 41; EGMR, 23.06.2006, Az. 1638/03
– Maslow/Österreich, § 62; vgl. Meyer-Ladewig, in: ders. (Hrsg.), EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 8 Rn.
52.
31 BVerfGE 48, 327 (339); ihm folgend Kirchhof, Der besondere Schutz der Familie in Art. 6 Abs. 1
des Grundgesetzes, AöR 2004, S. 542 ff. (550 f.).
32 EGMR NJW 1979, 2449, Ziff. 45.
33 Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 111 f.; Coester-Waltjen, in: von Münch/Kunig (Hrsg.),
GG, 6. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 11, 35; Robbers (Fn. 28), Art. 6 GG Rn. 86, 88. Siehe auch Sachs,
Geschwister im Familienrecht, 2007, S. 35 ff.
34 Vgl. für § 1969 BGB („Dreißigster“) OLG Düsseldorf NJW 1983, 1566; für § 1093 Abs. 2 BGB
(Wohnungsrecht) Joost, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2013, § 1093 Rn. 12;
Berger, in: Jauernig (Hrsg.), BGB, § 1093 Rn. 7; siehe auch den Überblick bei Schumann (Fn. 9), Rn.
10 f.
I.
Begriffliche und empirische Grundlagen
16 / 79
cc. Ergebnis
Zusammengefasst kann man drei Begriffsverständnisse von «Familie» unterscheiden:
(1) In einem engeren Sinne ist Familie die Verbindung von Eltern und Kindern, unabhängig
davon, ob sie leiblich oder rechtlich verwandt sind oder zusammenleben.
(2) In einem weiteren Sinne umfasst Familie alle leiblichen und rechtlichen Verwandtschaftsverhältnisse, also neben Eltern-Kind-Beziehungen auch die zwischen Geschwistern, Tanten/Onkeln und Nichten/Neffen, Großeltern und Enkel_innen, Schwäger_innen,
Schwiegereltern, Cousins/Cousinen etc.
(3) Im weitesten Sinne meint Familie alle Beziehungen, die von auf Dauer angelegter und
umfassender gegenseitiger Solidarität geprägt sind. In diesen weiten Familienbegriff fallen
auch Paarbeziehungen zwischen Erwachsenen unabhängig von ihrem rechtlichen Status.
Die Formulierung in § 11 Abs. 1 LPartG, wonach Lebenspartner_innen «Familienangehörige» sind, deutet auf ein solches Verständnis hin. Schwierig wird es dann allerdings, Familien von anderen Formen des Zusammenlebens abzugrenzen, die im Recht beispielsweise als
«Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft» oder «häusliche Gemeinschaft» bezeichnet werden.
Ob es sinnvoll ist, im Recht einen einheitlichen Familienbegriff zu fordern, scheint zweifelhaft. Familiäre Beziehungen sind historisch und kulturell von außerordentlicher Vielfalt geprägt und bedürfen in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlicher rechtlicher
Berücksichtigung – oder unter Umständen gerade auch einer Enthaltung von rechtlicher
Regulierung. Im Gegenteil scheint daher jeder Versuch, „die Familie“ rechtlich einheitlich
zu regeln, unter den gegenwärtigen Bedingungen ein vollkommen aussichtsloses Unterfangen. Stattdessen ist im jeweiligen sozialen und rechtlichen Kontext zu untersuchen, welche
Lebenssachverhalte konkret vorliegen und ob bzw. welcher Art der rechtlichen Regelung sie
bedürfen.
I.
Begriffliche und empirische Grundlagen
17 / 79
II. Formalisierte Lebensgemeinschaften:
Ehe und Lebenspartnerschaft
Wenn auch Paarbeziehung und Familie häufig als quasi-natürliche Vergemeinschaftungsformen der Menschen angesehen werden, lässt sich kaum leugnen, dass beide Lebensformen historisch äußerst wandelbar sind und in nicht unwesentlicher Weise durch das Recht
mit konstruiert werden. Das Recht kann bestimmte Lebensweisen anerkennen, indem es
rechtliche Institute wie die Ehe zur Verfügung stellt, in denen typische Konflikte um gegenseitige Rechte und Pflichten (z.B. Eigentum, Erziehungsrechte, Unterhaltspflichten,
Erbansprüche) verbindlich geregelt sind. Andere Lebensweisen kann das Recht marginalisieren oder diskriminieren, indem es ihnen diese Anerkennung und Absicherung verwehrt.
Recht kann aber auch paternalistisch in die Freiheit der Individuen eingreifen, indem es
ihnen eine Rechtsform für ihr Zusammenleben vorgibt, die diese gar nicht anstreben.
Im Mittelpunkt des Familienrechts steht bis heute die Ehe als die traditionelle Form, legitimerweise in einer Partnerschaft zu leben und eine Familie zu gründen. Auch im Verfassungsrecht wird die Ehe hervorgehoben, indem ihr neben der Familie der «besondere
Schutz des Staates» zuerkannt wird (Art. 6 Abs. 1 GG). Die Ehe ist ein mit staatlicher
Mitwirkung geschlossener Vertrag zwischen zwei verschiedengeschlechtlichen Personen.
Gleichgeschlechtlichen Paaren wurde die rechtliche Absicherung ihrer Beziehung im Jahr
2001 durch die eingetragene Lebenspartnerschaft ermöglicht. In welchem Verhältnis Ehe
und Lebenspartnerschaft rechtlich zueinander stehen, ist seither Gegenstand der rechtswissenschaftlichen und rechtspolitischen Diskussion.
1. Ungleichbehandlung von Ehe und
Lebenspartnerschaft
War die Lebenspartnerschaft ursprünglich noch mit gegenüber der Ehe deutlich reduzierten Rechten ausgestattet, sind die beiden Institute mittlerweile weitgehend gleichgestellt.[35] Insbesondere im Hinblick auf ein Leben mit Kindern verbleiben jedoch relevante
Unterschiede:[36]
35 Zur Geschichte des Lebenspartnerschaftsrechts siehe Wapler, Die Frage der Verfassungsmäßigkeit
der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Gutachten für die Friedrich-Ebert-Stiftung,
2015, S. 8 ff.
36 Vgl. zur weiteren Ungleichbehandlungen den Überblick in BT-Drs. 18/3031 v. 04.11.2014; BR-Drs.
259/15.
II.
Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft
18 / 79
(1) Anders als Eheleute können Lebenspartner_innen Kinder nicht gemeinschaftlich adoptieren. Ein_e Lebenspartner_in kann lediglich das leibliche oder adoptierte Kind der/des
anderen Partner_in annehmen (Stiefkind- und Sukzessivadoption, § 9 Abs. 7 LPartG).
(2) Ehepartner_innen können von den erlaubten Möglichkeiten einer künstlichen Befruchtung Gebrauch machen und sich Teile der entstehenden Kosten von der Krankenkasse
erstatten lassen (§ 27a SGB V). Gleichgeschlechtliche (in diesem Fall: lesbische) Paare haben hingegen keinen rechtlich gesicherten Zugang zu medizinischen Reproduktionstechniken wie der Insemination mit Spendersamen. Zwar verbietet das ärztliche Berufsrecht die
Insemination bei lesbischen Paaren in keinem Bundesland ausdrücklich; die entsprechende
Musterrichtlinie der Bundesärztekammer spricht sich jedoch gegen diese Praxis aus.[37]
Auch die Möglichkeit der Kostenerstattung besteht für Lebenspartner_innen nicht.[38]
(3) Gleichwohl im Wege der Samenspende gezeugte Kinder befinden sich abstammungsrechtlich in einer Lebenspartnerschaft in einer deutlich unsichereren Situation als im Rahmen einer Ehe, weil der Status des Samenspenders für sie rechtlich nicht eindeutig geregelt
ist (vgl. den nur für die Ehe geltenden § 1600 Abs. 5 BGB).[39]
(4) Die eingetragene Lebenspartnerschaft könnte durch einfaches Gesetz wieder abgeschafft werden, nicht aber die in Art. 6 Abs. 1 GG als Institut verfassungsrechtlich garantierte Ehe.
Die verbleibenden Ungleichbehandlungen werfen erhebliche gleichheitsrechtliche Fragen
auf. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob eine Öffnung der Ehe für
gleichgeschlechtliche Beziehungen verfassungsrechtlich möglich und rechtspolitisch sinnvoll wäre.
a. Der besondere Schutz der Ehe: Gebot der
Schlechterstellung anderer Lebensformen?
Die Formulierung in Art. 6 Abs. 1 GG, nach der die Ehe «besonderen» Schutz des Staates
genießt, weist darauf hin, dass der Ehe gegenüber anderen Lebensformen ein herausgehobener Status zukommt. Einige Verfassungsrechtler_innen vertraten daher während der
37 Vgl. Bundesärztekammer, (Muster-)Richtlinie zur Durchführung der assistierten Reproduktion.
Deutsches Ärzteblatt 103 (2006), A 1392-1403, (A 1395) und die Erkenntnisse zur Praxis
der Landesärztekammern in LSVD, Regenbogenfamilien – alltäglich und doch anders, 2.
Aufl. 2014, S. 39 ff. Zu gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften mit Kindern siehe auch
Wapler, Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften mit Kindern: Verfassungsrechtliche
Rahmenbedingungen, in: Dorett Funck/Petra Thorn (Hrsg.), Die gleichgeschlechtliche Familie mit
Kindern. Interdisziplinäre Beiträge zu einer neuen Lebensform, 2010, S. 115 ff.
38 Vgl. BVerfGE 177, 316.
39 Siehe auch die Entscheidung BGH FamRZ 2013, 1209 zum Recht des Samenspenders, die
Vaterschaft des Kindes anzufechten.
II.
Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft
19 / 79
Diskussion um das Lebenspartnerschaftsgesetz die Ansicht, alle anderen sozialen Gemeinschaften müssten gegenüber der Ehe schlechter gestellt werden. Der Eheschutz aus
Art. 6 Abs. 1 GG verbiete es demnach, Lebenspartnerschaft und Ehe rechtlich gleich zu
behandeln.[40] Dieser Vorstellung eines «Abstandsgebots» der Ehe zu anderen Lebensweisen hat das BVerfG in seiner Rechtsprechung zur Lebenspartnerschaft eine klare Absage
erteilt.[41] Der besondere Schutz der Ehe ist vielmehr als Verbot der Schlechterstellung
gegenüber nichtehelichen Lebensformen zu verstehen.[42] Demnach darf die Lebenspartnerschaft der Ehe rechtlich gleichgestellt werden, dürfte in ihrem Schutzniveau jedoch
nicht über sie hinausgehen.
b. Verbot der Diskriminierung der Lebenspartnerschaft
gegenüber der Ehe
Möglicherweise hat der Gesetzgeber jedoch nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar die
Pflicht, Ehe und Lebenspartnerschaft rechtlich gleichzustellen, nämlich dann, wenn sich
die Ungleichbehandlung der Lebenspartnerschaft als verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigte Diskriminierung erweist.
aa. Anwendbarkeit der Diskriminierungsverbote des Art. 3 GG
Dass die rechtliche Regelung der Ehe überhaupt andere Lebensformen diskriminieren
könnte, hatte das BVerfG im Jahr 1993 noch verneint: Der besondere Schutz der Ehe
aus Art. 6 Abs. 1 GG rechtfertige ohne Weiteres jede Privilegierung dieser Lebensform,
weil jede andere Art des Zusammenlebens mit der Ehe gar nicht vergleichbar sei bzw. aus
40 Vgl. Pauly, Sperrwirkungen des verfassungsrechtlichen Ehebegriffs, NJW 1997, S. 1055 ff.;
Scholz/Uhle, „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ und Grundgesetz, NJW 2001, S. 393 ff.; Krings,
Die „eingetragene Lebenspartnerschaft“ für gleichgeschlechtliche Paare, ZRP 2000, S. 409 ff.;
Burgi, Schützt das Grundgesetz die Ehe vor der Konkurrenz anderer Lebensgemeinschaften?, Der
Staat 2000, S. 487 ff.; Pfizenmayer, Die Rechtsstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartner in der
deutschen Rechtsordnung, Hamburg 2007, S. 86 ff.
41 Vgl. BVerfG DVBl. 2009, 1513: „[...] aus der Befugnis, in Erfüllung und Ausgestaltung des
verfassungsrechtlichen Förderauftrags die Ehe gegenüber anderen Lebensformen zu privilegieren,
lässt sich kein in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenes Gebot herleiten, andere Lebensformen gegenüber der
Ehe zu benachteiligen.“ Bestätigt durch BVerfG NJW 2013, 847; BVerfG DStR 2013, 1228. Im
Ergebnis ebenso Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 GG Rn. 82.
42 Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 GG Rn. 91.
II.
Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft
20 / 79
verfassungsrechtlicher Entscheidung heraus nicht verglichen werden dürfe.[43] In seiner
Rechtsprechung zur Lebenspartnerschaft ist das Gericht von dieser Auffassung jedoch abgerückt. Es misst die rechtlichen Differenzierungen zwischen Ehe und Lebenspartnerschaft
mittlerweile am Maßstab des allgemeinen Gleichheitssatzes, insbesondere im Hinblick auf
eine mögliche Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung.[44] Für diese Auffassung sprechen gute Gründe: Der allgemeine Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG enthält
den grundlegenden Gedanken, nach dem in einer freiheitlichen Gesellschaft rechtliche
Ungleichbehandlungen nur dann zulässig sind, wenn sie durch sachliche Gründe (nicht
aber beispielsweise durch Tradition, wirtschaftliche Macht oder politische Einflussnahme)
gerechtfertigt sind. Der Eheschutz des Art. 6 Abs. 1 GG kann nicht so verstanden werden,
dass er ein traditionelles Rechtsinstitut sakrosankt stellt. Vielmehr muss auch die nach
Art. 6 Abs. 1 GG grundsätzlich zulässige Privilegierung rationaler Begründung zugänglich
sein. Ungleichbehandlungen der Ehe gegenüber der eingetragenen Lebenspartnerschaft
bedürfen daher eines sachlichen Grundes.
bb. Diskriminierungsverbote im europäischen Recht
Die Linie des BVerfG, nach der die Lebenspartnerschaft gegenüber der Ehe nicht diskriminiert werden darf, wird durch die Rechtsentwicklung im europäischen Recht unterstützt.
Die Grundrechtecharta der Europäischen Union (GrCh) enthält ein allgemeines Diskriminierungsverbot, das auch Schlechterstellungen aufgrund der sexuellen Orientierung verbietet (Art. 21 GrCh).[45] Auf dieser Grundlage hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) im
Jahr 2008 eine Diskriminierung eingetragener Lebenspartner_innen gegenüber Eheleuten
wegen ihrer sexuellen Orientierung darin gesehen, dass sie nicht an den Regelungen der
43 BVerfG NJW 1993, 3058 (3058 f.): „Beschränkt die speziellere Norm des Art. 6 I GG die
verfassungsrechtlich gewährleistete Eheschließungsfreiheit auf Lebensgemeinschaften von Mann
und Frau, so kann es nicht zweifelhaft sein, daß eine verfassungsrechtliche Verbürgung desselben
Inhalts, aber ohne die Beschränkung auf verschiedengeschlechtliche Partner, nicht aus den
generelleren Normen des Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I oder aus Art. 3 I hergeleitet werden kann.“ Als
nicht hinterfragbare Entscheidung für das Leitbild der verschiedengeschlechtlichen Ehe verstehen
Art. 6 Abs. 1 GG bis heute Germann (Fn. 16), S. 271 f.; Badura, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, 71.
EL, 2014, Art. 6 Rn. 32a; Hillgruber, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 7.7.2009 – 1 BvR
1164/07, JZ 2010, 41-44 (42).
44 Vgl. nur die beiden jüngsten Entscheidungen des BVerfG zur Sukzessivadoption (BVerfGE 133, 59)
und zum Ehegattensplitting (BVerfGE 133, 377); ähnlich Stüber, Vom Gebot, die Ehe zu fördern,
FPR 2006, S. 117ff. (119); für das Familiengrundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG als Maßstab für
Ungleichbehandlungen Brosius-Gersdorf, Gleichstellung von Ehe und Lebenspartnerschaft, FamFR
2013, 169 ff. (170).
45 Art. 21 Abs. 1 GrCh: „Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der
Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der
Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit
zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der
sexuellen Ausrichtung sind verboten.“
II.
Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft
21 / 79
Hinterbliebenenversorgung für Eheleute teilhaben konnten.[46] Diese Entscheidung hatte
erheblichen Einfluss auf die Rechtsprechung des BVerfG, die letztlich zu der heutigen weitreichenden Gleichstellung von Ehe und Lebenspartnerschaft geführt hat.
Auch die EMRK hält nach der Rechtsprechung des EGMR Normen für den Schutz gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften bereit. Ein Ansatzpunkt ist Art. 8 EMRK, der ein
allgemeines Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gewährt.[47] Das Zusammenleben gleichgeschlechtlicher Paare fällt nach der Rechtsprechung des EGMR unter den
Schutz dieser Norm.[48] Daneben erkennt auch der EGMR die Möglichkeit an, dass eine
gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft gegenüber der Ehe wegen der sexuellen Orientierung der Partner_innen diskriminiert werden kann. Das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK enthält dieses Diskriminierungsmerkmal zwar nicht ausdrücklich;
jedoch fasst der EGMR die sexuelle Ausrichtung unter den Begriff des sonstigen Status
i.S.d. Art. 14 EMRK.[49] Maßstab für eine Ungleichbehandlung ist für den Gerichtshof
eine funktionale Betrachtungsweise: Unabhängig davon, wie die Vertragsstaaten Ehe und
gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft regeln, ist zu prüfen, ob verschieden- und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft im konkreten Fall dieselbe Funktion erfüllen, etwa
wechselseitige Verantwortungsübernahme und Solidarität.[50]
cc. Verfassungsrechtliche Bewertung der verbleibenden
Ungleichbehandlungen
Nicht nur nach Auffassung des EGMR (s.o.), sondern auch nach der Rechtsprechung des
BVerfG gleichen sich Ehe und Lebenspartnerschaft darin, dass sie rechtliche Regeln für
eine auf Dauer angelegte Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft zweier Menschen
schaffen. Ihrem Zweck nach sind Ehe und Lebenspartnerschaft folglich gleich.[51] Wo
rechtliche Regeln sich darauf beziehen, die gegenseitige Verantwortungsbeziehung auszugestalten, müssen Ehe und Lebenspartnerschaft gleich behandelt werden. Mit dieser
46 EuGH, 01.04.2008, C 267/06 – Maruko; siehe zu vergleichbaren Entscheidungen EuGH,
10.05.2011, C 147/08 – Römer/Hamburg; EuGH, 06.12.2012, C 124, 125, 143/11 – Dittrich,
Klinke und Müller. Ausführlich zu dieser Rechtsprechung Richter, Ehe und Partnerschaft im Recht
der Europäischen Union – Wie weit reicht die Bestimmungsmacht der Mitgliedstaaten? ZeuS
17 (2014), S. 301 ff. (318 ff.).; speziell zu Maruko auch Grünberger, Die Gleichbehandlung von
Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Zusammenspiel von Unionsrecht und nationalem
Verfassungsrecht. Das Urteil des BVerfG zur VBL-Hinterbliebenenrente, FPR 2010, 203 ff.
(203 ff.).
47 Zum Wortlaut s. Fn. 29.
48 EGMR, 24.07.2003, Az. 40016/98 Karner/Österreich.
49 EGMR, 26.02.2002, Az. 36515/97 – Fretté/France; EGMR, 22.01.2008, Az. 43546/02 – E.B./
France.
50 Vgl. dazu Richter (Fn. 46), S. 320.
51 Vgl. BVerfGE 131, 239 (261); BVerfG, JZ 2013, 833 (835): „[…] eine im Wesentlichen
gleichartige institutionell stabilisierte Verantwortungsbeziehung […]“. Ähnlich EuGH, 01.04.2008,
C 267/06 – Maruko.
II.
Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft
22 / 79
Begründung hat das BVerfG die arbeits-, beamten- und steuerrechtlichen Vorteile der Ehe
nach und nach für die Lebenspartnerschaft geöffnet.[52] Der Gesetzgeber hat diese Rechtsprechung mittlerweile durch Gesetzesänderungen nachvollzogen.[53]
Doch auch für Regelungen des Eltern-Kind-Verhältnisses sind sachliche Gründe für eine
Ungleichbehandlung nicht zu finden. Einer mittlerweile reichhaltigen Forschungsliteratur
lässt sich entnehmen, dass das Aufwachsen in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften für Kinder im Großen und Ganzen weder besser noch schlechter ist als bei verschiedengeschlechtlichen Eltern.[54] Ein rechtlicher „Generalverdacht“[55] gegen die Elternkompetenz gleichgeschlechtlicher Paare ist daher nicht angebracht.
Die verbliebenen Ungleichbehandlungen von Ehe und Lebenspartnerschaft sind folglich
verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen, sondern stellen einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG dar.
c. Die Möglichkeit der Öffnung der Ehe für
gleichgeschlechtliche Paare
Verfassungswidrige Ungleichbehandlungen sind vom Gesetzgeber zu beseitigen. Er kann
dies im Fall der Lebenspartnerschaft tun, indem er Ehe und Lebenspartnerschaft rechtlich
vollständig gleichstellt. Im Ergebnis wären Ehe und Lebenspartnerschaft dann zwei Rechtsinstitute unterschiedlichen Namens, aber gleichen Inhalts. Weitergehend lässt sich fragen,
ob Ehe und Lebenspartnerschaft in einem einzigen Rechtsinstitut zusammengeführt werden
können, ob die Ehe also für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet werden kann.
aa. Die verfassungsrechtliche Diskussion
Der besondere Schutz der Ehe aus Art. 6 Abs. 1 GG enthält nach allgemeiner Meinung
in Rechtsprechung und verfassungsrechtlicher Literatur eine Institutsgarantie: Die Ehe
genießt als Rechtsinstitut in ihren wesentlichen Strukturelementen verfassungsrechtlichen
52 Vgl. BVerfGE 131, 239 (Familienzuschlag, siehe aber die vorangegangenen ablehnenden
Kammerentscheidungen BVerfG, NJW 2008, 209 und 2325); BVerfGE 124, 199 (betriebliche
Hinterbliebenenversorgung); BVerfGE 126, 400 (Erbschafts- und Schenkungssteuer); BVerfG,
FamRZ 2012, 1477 (Grunderwerbssteuer); BVerfGE 133, 377 (Ehegattensplitting).
53 Im Steuerrecht durch das Gesetz zur Anpassung steuerrechtlicher Regelungen an die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts v. 18.07.2014, in Kraft seit dem 24.07.2014, BGBl.
2014 I, 1042.
54 Rupp (Hrsg.), Die Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften,
2009; weitere Nachweise bei Brosius-Gersdorf (Fn. 44), S. 170; Wapler (Fn. 37), S. 138 ff. Zum
Problem stereotyper Vorstellungen von Elternschaft siehe Mangold, Nicht nur „kompetente Eltern“.
Zur Überwindung von Stereotypen der Elternschaft und Ehe im Urteil des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 19.02.2013, 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09, Streit 2013, 107 ff.
(111 ff.)
55 Mangold (Fn. 54), S. 113.
II.
Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft
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Schutz. Zu diesen Strukturelementen gehört, dass die Ehe eine auf Dauer angelegte[56]
vertragliche Beziehung zwischen zwei Personen[57] ist, die unter Mitwirkung des Staates
geschlossen wird.[58] Weitere weitgehend unstreitige Merkmale der Ehe sind die Freiwilligkeit des Eheschlusses,[59] die Gleichberechtigung der Eheleute[60] und ihr Charakter
als wechselseitige und umfassende Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft[61]. Ob
die Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner_innen zu den unveränderlichen Strukturmerkmalen gehört, wird hingegen seit einiger Zeit kontrovers diskutiert.
Als wesentliches Argument für die notwendige Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehe wird
hauptsächlich die verfassungsrechtliche Tradition angeführt: Die Autor_innen des Grundgesetzes hätten bei der Formulierung des Art. 6 Abs. 1 GG ausschließlich eine verschiedengeschlechtliche Verbindung vor Augen gehabt.[62] Die Vorstellung des historischen
Verfassungsgebers ist allerdings für die Auslegung der Verfassung nicht notwendigerweise
maßgeblich. Gesellschaftlicher Wandel hat in vieler Hinsicht die Verfassungsinterpretation
verändert.[63] Das betrifft auch und gerade Entwicklungen, die zur Zeit der Entstehung
des Grundgesetzes in den Jahren 1948 und 1949 weder absehbar noch überhaupt vorstellbar waren. Hierzu gehört die Legalisierung und weitreichende gesellschaftliche Akzeptanz
56 BVerfGE 121, 175 (198).
57 Zur Mehrehe siehe oben Fn. 19.
58 BVerfGE 29, 166. Zweifel an der Notwendigkeit der staatlichen Mitwirkung bei Brosius-Gersdorf
(Fn. 16), Art. 6 Rn. 50.
59 Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 49.
60 Zur Abschaffung des Entscheidungsvorrangs des Ehemannes siehe das Gleichberechtigungsgesetz
vom 18.06.1957, BGBl. 1957 I, 609; BVerfGE 10, 59. Siehe auch die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts zur Unzulässigkeit eklatant unausgewogener Eheverträge: BVerfGE
103, 89; BVerfG, NJW 2001, 2248. Allgemein zur Gleichberechtigung der Eheleute Robbers (Fn.
28), Art. 6 GG Rn. 76; Steiner, Schutz von Ehe und Familie, in: Merten/ Papier (Hrsg.), Handbuch
der Grundrechte in Deutschland und Europa, 2011, § 108 Rn. 11.
61 BVerfGE 29, 166 (176); 31, 58 (67); 62, 323 (330); 76, 1 (41 f.); Benedict (Fn. 16), S. 479 f.;
Hwang (Fn. 16), S. 147; Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 43.
62 Vgl. Tettinger, Kein Ruhmesblatt für die „Hüter der Verfassung“?, JZ 2002, S. 1146 ff. (1146 ff.);
Uhle, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 23. Ed. 2014, Art. 6 Rn. 4.
63 Siehe hierzu ausführlich und mit Nachweisen Wapler (Fn. 35), S. 15 ff.
II.
Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft
24 / 79
homosexueller Lebensweisen in Gemeinschaften mit und ohne Kinder, [64] darüber hinaus
aber auch ein anderer Erkenntnisstand über Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen. Die Zweigleisigkeit von Ehe und Lebenspartnerschaft wird durch die Existenz von
Inter*-und Trans*Personen in Frage gestellt. Der Erkenntnis, dass biologisches Geschlecht
und Geschlechtsidentität auseinanderfallen können und sich bei manchen Menschen im
Laufe des Lebens verändern, hat sich das BVerfG in seinen sogenannten Transsexuellenentscheidungen nach und nach geöffnet.[65] Das vermeintlich klare Kriterium „Geschlecht“,
nach dem Ehe und Lebenspartnerschaft unterschieden werden, erweist sich in seinen Grenzen als unscharf und stellt die Legitimität einer Differenzierung generell in Frage.[66] Aus
einer geschlechtertheoretischen Perspektive erweist sich die Unterteilung von Paarbeziehungen in Ehe und Lebenspartnerschaft daher als Versuch, traditionelle normative Leitbilder fortzuschreiben, indem die verschiedengeschlechtliche Ehe als verfassungsrechtlicher
Normalfall und die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft als das Andere konstruiert
und mit minderem Wert belegt wird.[67]
bb. Internationales Recht und Rechtsvergleich
Innerhalb der Europäischen Union haben mittlerweile etliche Staaten die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet. Zuerst wurde die gleichgeschlechtliche Ehe in den Nieder-
64 Vgl. die Argumentation des BVerfG zur Sukzessivadoption durch Lebenspartner _ innen,
BVerfGE 133, 59 (79): „Zwar ist angesichts der damaligen Strafbarkeit und der gesellschaftlichen
Verpöntheit von Homosexualität im Zeitpunkt der Entstehung des Grundgesetzes davon
auszugehen, dass bei Abfassung von Art. 6 Abs. 2 GG ausschließlich an verschiedengeschlechtliche
Eltern gedacht war. In der Norm liegt deshalb aber nicht eine bewusste Entgegensetzung zur
Anerkennung gleichgeschlechtlicher Eltern; vielmehr lag diese schlicht außerhalb des damaligen
Vorstellungshorizonts. Entsprechend konnte es damals anders als heute zur Elternschaft zweier
gleichgeschlechtlicher Personen einfachrechtlich in keiner Konstellation kommen. Die Grenzen
der damaligen Vorstellungswelt und des dabei unterlegten historischen Begriffsverständnisses
sind indessen mit der Veränderung der rechtlichen Einordnung von Homosexualität nach und
nach entfallen. Gegenüber der Situation bei Inkrafttreten des Grundgesetzes hat sich nicht nur
das Gesetzesrecht, sondern auch die Einstellung der Gesellschaft zur Gleichgeschlechtlichkeit und
der Lebenssituation gleichgeschlechtlicher Paare erheblich gewandelt. Zwei Personen gleichen
Geschlechts als Elternpaar anzusehen, scheitert heute nicht mehr daran, dass homosexuellen Paaren
rechtliche Berechtigung und Anerkennung ihrer dauerhaften Partnerschaft schlechthin verweigert
würden.“ Zu einem derartigen dynamischen Verständnis der Verfassungsinterpretation siehe auch
Rixen, Das Ende der Ehe? Neukonturierung der Bereichsdogmatik von Art. 6 Abs. 1 GG: ein Signal
des spanischen Verfassungsgerichts, JZ 2013, 864-873 (868).
65 BVerfGE 121, 175 (190): „Das Geschlecht eines Menschen kann sich ändern. Die Zugehörigkeit zu
einem Geschlecht richtet sich zwar rechtlich zunächst nach den äußeren Geschlechtsmerkmalen im
Zeitpunkt der Geburt. Allein danach kann sie jedoch nicht bestimmt werden. Sie hängt wesentlich
auch von der psychischen Konstitution eines Menschen und seiner nachhaltig selbst empfundenen
Geschlechtlichkeit ab.“
66 Vgl. Richter (Fn. 46), S. 323 f.; ähnlich Rixen (Fn. 64).
67 Siehe die anschauliche Formulierung bei Robbers (Fn. 28), Art. 6 Rn. 17: „Das Grundgesetz schützt
und fördert mit Ehe und Familie das Leben positiv empfundener Normalität.“
II.
Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft
25 / 79
landen eingeführt (2001), es folgten Belgien (2003), Spanien (2005), Norwegen (2009),
Schweden (2009), Portugal (2010), Island (2010), Dänemark (2012), Frankreich (2013),
England und Wales (2014) sowie zuletzt nach einer Volksabstimmung Irland (2015).[68]
Diese Regelungen sind mit europäischem Recht vereinbar:
Im Recht der Europäischen Union gewährleistet Art. Art. 9 GrCh die Eheschließungsfreiheit. Wer eine Ehe schließen darf, richtet sich nach dem Recht der Mitgliedstaaten.[69]
Art. 9 GrCh ist demnach offen für Rechtsordnungen, in denen die Ehe gleich- wie verschiedengeschlechtlichen Partner_innen zur Verfügung steht, verpflichtet die Mitgliedstaaten
jedoch nicht zu einem solchen Modell.[70]
Auslegungsbedürftiger ist der Begriff der Ehe in Art. 12 EMRK, in dem von «Männern
und Frauen» die Rede ist.[71] Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat seine Rechtsprechung zum Ehebegriff in den vergangenen Jahren geändert: Während er die
Verschiedengeschlechtlichkeit der Eheleute 1986 noch für ein zwingendes Merkmal der
Ehe hielt,[72] hält er die einfachrechtliche Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare inzwischen für konventionskonform.[73] Auch nach Art. 12 EMRK haben die Staaten
demnach einen entsprechenden Gestaltungsspielraum. Internationales Recht steht einer
Öffnung der Ehe für alle Paare folglich nicht im Wege.
d. Regelungsalternativen zur Gleichstellung aller
formalisierten Paargemeinschaften
aa. Gleichbehandlung gleich- und verschiedengeschlechtlicher
Paarbeziehungen
Die Lebenspartnerschaft wird gegenüber der Ehe in verfassungswidriger Weise ungleich
behandelt. Die bestehenden Ungleichbehandlungen von Ehe und Lebenspartnerschaft sollten durch gesetzliche Gleichstellung beseitigt werden. Hierfür sind mehrere Wege denkbar:
68 Vgl. die Übersichten bei Benedict (Fn. 16), S. 484; Richter (Fn. 46) S. 304 f.
69 Art. 9 GrCh: „Das Recht, eine Ehe einzugehen, und das Recht, eine Familie zu gründen, werden
nach den einzelstaatlichen Gesetzen gewährleistet, welche die Ausübung dieser Rechte regeln.“
70 Vgl. Richter (Fn. 46), S. 311.
71 Art. 12 EMRK: „Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter haben das Recht, nach den
innerstaatlichen Gesetzen, welche die Ausübung dieses Rechts regeln, eine Ehe einzugehen und eine
Familie zu gründen.“
72 EGMR, 17.10.1986, Az. 9532/81 – Rees/UK; EGMR, 27.09.1990, Az. 10843/84 – Cossey/UK.
73 EGMR, 24.06.2010, Az. 30141/04 – Schalk & Kopf/Österreich, NJW 2011, 1421; EGMR,
16.07.2014, Az. 37359/09 – Hämäläinen/Finnland. Kritisch zu dieser Rechtsprechung:
Wiemann, Die Rechtsprechung des EGMR zu sexueller Orientierung. Von der (Un-)Geeignetheit
des Beurteilungsspielraums der Mitgliedstaaten, ein Spannungsverhältnis zwischen zwei
Konventionsrechten zu lösen – Das Urteil Schalk und Kopf gegen Österreich, EuGRZ 2010, S. 408
ff.
II.
Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft
26 / 79
(1) Modell 1: Angleichung von Ehe und Lebenspartnerschaft
Man kann Ehe und Lebenspartnerschaft als zwei unterschiedliche Rechtsinstitute identischen Inhalts ausgestalten. Neben den in aktuellen Gesetzentwürfen bereits vorgeschlagenen Angleichungen wären dann jedenfalls die folgenden weiteren Änderungen notwendig:
(a) Eingetragene Lebenspartnerschaften sollten das volle Adoptionsrecht erhalten, also ein
Kind auch gemeinschaftlich adoptieren können.[74]
(b) Ehen und Lebenspartnerschaften sollten beim Zugang zur assistierten Reproduktion
gleichgestellt werden. Die Regelung der erlaubten Methoden der Fortpflanzungsmedizin ist
bislang den Landesärztekammern vorbehalten. Hinsichtlich des gleichheitsrechtlich relevanten Zugangs zu diesen Methoden verstößt diese Verlagerung ins Satzungsrecht gegen
den Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes.[75] Der Gesetzgeber sollte für den Zugang zu
medizinischen Reproduktionstechniken eine gesetzliche Grundlage schaffen, wie es etwa in
der Schweiz und in Österreich der Fall ist;
(c) Die Krankenkassenfinanzierung der künstlichen Befruchtung (§ 27a SGB V) sollte auf
eingetragene Lebenspartner_innen ausgeweitet werden.
Einen Vorschlag für die vollständige Angleichung der beiden Rechtsinstitute hat im Jahr
2015 die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgelegt.[76]
(2) Modell 2: Öffnung der Ehe für alle Paare
Rechtspolitisch sinnvoller erscheint die Alternative, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen.[77] Man erspart sich damit eine unnötige Doppelstruktur, die zwei identische
Rechtsinstitute unterschiedlichen Namens mit sich bringen und löst zugleich das Problem
der Zuordnung von Inter*- und Trans*-Personen. Zudem wäre klargestellt, dass die rechtlich verfasste Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft zweier Menschen unabhängig
von der Kombination der Geschlechter den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG genießt. Die Öff-
74 Vgl. Mangold (Fn. 54) S. 113 f.; Wapler (Fn. 37), S. 134 ff.; siehe auch Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer Gesetze
im Bereich des Adoptionsrechts v. 19.02.2014, BT-Drs. 18/577; ein Normenkontrollantrag des
AG Schöneberg, mit dem der gegenwärtige Ausschluss des Adoptionsrechts für Lebenspartner _
innen vor dem Bundesverfassungsgericht überprüft werden sollte, wurde im Januar 2014 wegen
mangelnder Begründung als unzulässig zurückgewiesen, vgl. BVerfG, Beschluss v. 23.01.2014, Az.
1 BvL 2/13 und 3/13.
75 Wapler (Fn. 37), S. 139 f.
76 BT-Drs. 18/3031.
77 Vgl. schon Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen v. 30.06.2009, BT-Drs. 16/13596;
BR-Drs. 196/13; Antrag der SPD-Fraktion „Recht auf Eheschließung auch gleichgeschlechtlichen
Paaren ermöglichen“ v. 14.12.2011, BT-Drs. 17/8155; aus der rechtswissenschaftlichen Literatur
siehe Grünberger (Fn. 46), S. 208;; Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 81, 83; dies. (Fn. 44), S.
171 f.; Mangold (Fn. 54), S. 116; Rixen (Fn. 64), S. 873.
II.
Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft
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nung der Ehe wäre zudem rechtlich einfacher umzusetzen.[78] Auch für dieses Regelungsmodell liegt ein Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen aus dem
Jahr 2015 vor.[79]
2. Die öffentliche Förderung der Ehe: Fortbestand
traditioneller Leitbilder
Aus dem besonderen Schutz von Ehe und Familie gem. Art. 6 Abs. 1 GG wird in der Zusammenschau mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) eine Pflicht des Staates
abgeleitet, Ehe und Familie nicht nur gegen Beeinträchtigungen zu schützen, sondern als
Institutionen positiv zu fördern.[80] Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden,
dass Ehe und Familie den Staat durch private Solidaritätsleistungen und – im Fall der
Familie – die Pflege und Erziehung von Kindern entlasten.[81] Wie der Staat diese Förderung organisiert, unterliegt weitgehend seinem politischen Gestaltungsspielraum.
a. Förderung von Ehe und Familie: gleichheitsrechtliche
Aspekte
Bei der öffentlichen Förderung privater Lebensgemeinschaften muss zwischen der Förderung der Ehe als einer Paargemeinschaft und der Familie im engeren Sinne als einem Eltern-Kind-Verhältnis differenziert werden. Denn wo es nur um die Ehe geht, darf der Staat
nichteheliche und lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaften schlechter behandeln als
die formal geschlossene Ehe.[82] Geht es hingegen um die Förderung von Eltern-Kind-Beziehungen, besteht ein Gleichbehandlungsanspruch aller Familienformen, der teilweise aus
dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, teilweise unmittelbar aus Art. 6
Abs. 1 begründet wird.[83]
78 Vgl. Gesetzentwürfe BT-Drs. 18/5098, BT-Drs. 18/8. Siehe auch den Vorschlag bei Wapler (Fn.
35), S. 34 ff.
79 BT-Drs. 18/5098.
80 Vgl. BVerfGE 82, 60 (85 ff.); 99, 216 (233); 107, 205 (213); für Ableitung allein aus Art. 6 Abs.
1 ohne die Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 85 (Ehe),
129 (Familie).
81 Vgl. Brosius-Gersdorf, Demographischer Wandel und Familienförderung, 2011, S. 243 ff.
82 Coester-Waltjen (Fn. 33), Art. 6 Rn. 43; ausf. Brosius-Gersdorf (Fn. 81), S. 254 ff.
83 Vgl. für die Herleitung aus Art. 3 Abs. 1 GG BVerfGE 43, 108 (124 ff.); 47, 1 (22 ff., 29 ff.); Seiler,
Grundzüge eines öffentlichen Familienrechts, 2008, S. 47; aus Art. 6 Abs. 1 Brosius-Gersdorf (Fn.
81), S. 220 ff.; und dies., in: Dreier (Fn. 16), Art. 6 Rn. 134; Pechstein, Familiengerechtigkeit als
Gestaltungsgebot für die staatliche Ordnung, 1994, S. 129 ff. In seiner neueren Rechtsprechung
sieht das BVerfG eine Verbindung von Art. 3 Abs. 1 und 6 Abs. 1 GG, vgl. BVerfGE 61, 319 (342
ff.); BVerfGE 82, 60 (86 ff.); BVerfGE 87, 1 (36); BVerfGE 106, 166 (175); BVerfGE 107, 205
(212).
II.
Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft
28 / 79
b. Das Neutralitätsgebot
Bei der staatlichen Eheförderung ist zu berücksichtigen, dass nicht nur die Begründung
einer Ehe, sondern auch ihre innere Ausgestaltung frei ist (Art. 6 Abs. 1 GG). Anders als
in früheren Fassungen des BGB darf der Gesetzgeber keine verbindlichen Geschlechterrollen in der Ehe vorsehen oder andere Vorgaben zur Aufgabenverteilung machen. Darüber
hinaus darf er keine finanziellen Anreize für eine bestimmte Rollenverteilung in der Ehe
setzen und damit strukturelle Zwänge schaffen.[84] Des Weiteren ist die Pflicht des Staates aus Art. 3 Abs. 2 GG, auf die tatsächliche Gleichstellung von Männern und Frauen
hinzuwirken, zu beachten.
Auch die unterschiedlichen Familienformen sind grundsätzlich als gleichwertige Wege der
Lebensgestaltung zu bewerten und vom Recht entsprechend zu behandeln. Diese verfassungsrechtlich gebotene Neutralität gegenüber unterschiedlichen familiären Lebensweisen
macht die öffentliche Familienförderung zunehmend schwierig. Sind die Individuen in der
Ausgestaltung ihres Familienlebens grundsätzlich frei, so muss auch die öffentliche Familienförderung die gewählten Lebensentwürfe grundsätzlich gleich behandeln. Ungleichbehandlungen unterschiedlicher Familienformen bedürfen einer sachlichen Rechtfertigung.[85]
Das System der ehe- und familienbezogenen staatlichen Leistungen wurde im Jahr 2014 in
einer umfangreichen Studie evaluiert.[86] Dabei hat sich gezeigt, dass gerade diejenigen
Leistungsarten, die derzeit noch der Ehe und Lebenspartnerschaft vorbehalten sind, dem
traditionellen Leitbild des Ernährer-/Hausfrauenmodells dienen und insofern im Hinblick
auf das Neutralitätsgebot und die Pflicht des Staates, auf die tatsächliche Gleichberechtigung hinzuwirken, fragwürdig sind.
aa. Ehegattensplitting
Im Einkommenssteuerrecht haben Ehe- und seit 2013 auch Lebenspartner_innen (vgl. § 2
Abs. 8 EStG)[87] ein Wahlrecht zwischen Einzelveranlagung (§§ 26, 26a EStG) und Zusammenveranlagung (§§ 26, 26b, 32a Abs. 5 EStG). Im Verfahren der Einzelveranlagung
werden die Partner_innen als je individuell Steuerpflichtige behandelt.
84 BVerfGE 6, 55 (81); BVerfG NJW 1993, 643; vgl. Brosius-Gersdorf (Fn. 81), S. 491 ff.
85 Vgl. Brosius-Gersdorf (Fn. 81), S. 292 ff.; Seiler (Fn. 83), S. 44 ff.; Huster, Die ethische Neutralität
des Staates. Eine liberale Interpretation der Verfassung, 2002, S. 533.
86 Vgl. Prognos, Gesamtevaluation der ehe- und familienbezogenen Maßnahmen und Leistungen in
Deutschland. Studie im Auftrag des BMF und des BMFSFJ, 2014.
87 Diese Norm geht auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 07.05.2013 zurück,
vgl. BVerfGE 133, 377. Das Wahlrecht gilt in Lebenspartnerschaften rückwirkend bis 2001 (dem
Jahr der Einführung des LPartG) für alle Lebenspartner _ innen, deren Veranlagung noch nicht
bestandskräftig durchgeführt ist.
II.
Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft
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Bei der Zusammenveranlagung gem. §§ 26, 26b EStG werden die Ehe- oder Lebenspartner_innen im Ergebnis wie ein einziger Steuerpflichtiger behandelt.[88] Dazu werden die
Einkommen der Ehepartner zusammengerechnet und das Gesamteinkommen je zur Hälfte
auf beidePartner_innen aufgeteilt. Beide Einkommenshälften werden nach dem Grundtarif
besteuert und die sich daraus ergebenden Steuerbeträge zur Gesamtsteuerschuld addiert.
Mit dem Ehegattensplitting einher geht die Doppelung des Grundfreibetrags, der auch
Anwendung findet, wenn einer der Partner_innen nicht berufstätig ist. Zudem werden bei
einzelnen Einkunftsarten spezielle Frei- und Pauschbeträge gewährt, die sich im Falle der
Zusammenveranlagung verdoppeln und beiden Partner_innen gemeinsam gewährt werden.
Damit kann ein_e Partner_in, wenn die eigenen Aufwendungen den Pauschbetrag übersteigen, auf den Pauschbetrag des/der anderen zugreifen bzw. diesen sogar allein ausnutzen.
Auch beim Verlustabzug kann es durch die Zusammenrechnung der Einkünfte zu einem
Ausgleich kommen, wenn die Einkünfte des einen Partners durch die Verluste des anderen
ausgeglichen werden.
Aufgrund der genannten Vorteile ist die Zusammenveranlagung in der Regel günstiger als
die Einzelveranlagung.[89] Wird in einer Ehe- oder Lebenspartnerschaft nur ein Einkommen erzielt, wirkt sich das Ehegattensplitting in zweifacher Weise senkend auf die Steuerlast aus: Infolge des doppelten Freibetrags wird nur ein geringerer Teil des Einkommens
besteuert, als dies bei einer alleinstehenden Person mit gleichem Einkommen der Fall
wäre. Zudem profitieren die Partner vom angepassten Splittingtarif. Gleiches gilt, in abgeschwächter Form, bei einem hohen und einem vergleichsweise niedrigen Einkommen.[90]
Aufgrund der abflachenden Progression ist die Steuerentlastung umso höher, je größer die
Einkommensdifferenz zwischen den Ehegatten ausfällt.
Faktische Lebensgemeinschaften können diese Begünstigung nicht in Anspruch nehmen.
Diese Ungleichbehandlung wird grundsätzlich als verfassungsgemäß bewertet, da der
Gesetzgeber nach Art. 6 Abs. 1 nur der Ehe zu besonderem Schutz verpflichtet ist und
andere Lebensgemeinschaften deswegen schlechter behandeln darf. Das Ehegattensplitting
wird aber aus zwei anderen Gründen seit vielen Jahren kritisiert:
(1) Der Splittingvorteil begünstigt Alleinverdienerpaare und Doppelverdienerpaare mit
hohen Einkommensunterschieden gegenüber Paaren, die annähernd gleich viel verdie-
88 Vorangegangen war dem heutigen System die Haushaltsbesteuerung, wonach sich die
Zusammenveranlagung von Ehepaaren steuerlich belastend auswirkte. Es wurde vom
Bundesverfassungsgericht verworfen, das einen Verstoß gegen das aus Art. 6 Abs. 1 GG
resultierenden Verbots der Schlechterstellung verheirateter Paare sah (BVerfGE 6, 55 [77]).
89 Vgl. Seeger, in: Weber-Grellet (Hrsg.), Einkommenssteuergesetz, 2015, § 26, Rn. 2, und die
Beispiele bei Seiler, in: Kirchhof (Hrsg.), EStG, 2015, § 26a, Rn. 9 ff.
90 Haverkamp, Familienbesteuerung aus verfassungsrechtlicher und rechtsvergleichender Sicht, 2010,
S. 31, siehe aber dessen Kapitel 4; Maurer, Verfassungsrechtliche Anforderungen, 2004, S. 21;
Seiler (Fn. 89), § 26a, Rn. 16.
II.
Formalisierte Lebensgemeinschaften: Ehe und Lebenspartnerschaft
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nen.[91] Es setzt damit Anreize für die traditionelle Rollenverteilung in der Ehe[92] und
macht es faktisch insbesondere für viele Frauen wirtschaftlich unsinnig, sich um eine eigene Existenzsicherung zu bemühen.[93] Damit verstößt das Ehegattensplitting gegen das
Gebot der Neutralität staatlicher Förderung gegenüber unterschiedlichen Ausgestaltungsformen der Ehe, das sich aus Art. 6 Abs. 1 GG (Freiheit der Ausgestaltung des Ehelebens)
ergibt.[94]
(2) Das Ehegattensplitting führt zu einer Ungleichbehandlung formalisierter und nicht formalisierter Lebensgemeinschaften mit Kindern: Ehepaare und Lebenspartnerschaften, in
denen ein_e Partner_in ganz oder teilweise auf Erwerbstätigkeit verzichtet, um Kinder zu
betreuen, werden entlastet, ehe- und lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaften, die ein
solches Betreuungsmodell wählen, jedoch nicht. Soweit das Ehegattensplitting als Instrument der Familienförderung gedacht ist – und dies war nach dem Willen des Gesetzgebers
sein primärer Zweck[95] –, verstößt es daher gegen den Grundsatz der Gleichheit aller
Familienmodelle, der sich aus Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG ableiten lässt, sowie
gegen das Gebot der Gleichbehandlung nichtehelicher Kinder aus Art. 6 Abs. 5 GG.[96]
Rechtspolitisch wird aus diesen Gründen seit Jahrzehnten gefordert, das Ehegattensplitting abzuschaffen und durch ein Modell zu ersetzen, bei dem Eheleute und Lebenspartner_innen grundsätzlich individuell besteuert werden. In einem solchen Modell könnte die
Gleichbehandlung ehelicher und nichtehelicher Familien erreicht werden, indem man die
91 Lambrecht, in: Kirchhof (Hrsg.), EStG, 2015, § 32a, Rn. 12; Wersig, Der unsichtbare
Mehrwert: Unbezahlte Arbeit und ihr Lohn, in: Foljanty, L./ Lembke, U. (Hrsg.), Feministische
Rechtswissenschaft. Ein Studienbuch, 2. Aufl. 2011, § 8 Rn. 26; Sacksofsky, Steuerung der Familie
durch Steuern, NJW 2000, S. 1896 ff. (1898); Vollmer, Das Ehegattensplitting, 1998, S. 127,
220; Spangenberg, Reform der Besteuerung von Ehe und Lebenspartnerschaft. Gutachten für die
Friedrich-Ebert-Stiftung, 2013; Brosius-Gersdorf (Fn. 81), S. 500 ff.; dies (Fn. 16), Art. 6 Rn. 95;
Huster (Fn. 85), S. 591.
92 Vgl. hierzu bereits den gesetzgeberischen Willen, nachdem durch das Splitting u.a. die „besondere
Anerkennung der Aufgabe der Ehefrau als Hausfrau und Mutter“ zum Ausdruck kommen sollte (BTDrs. III/260 S. 34).
93 Prognos (Fn. 86), S. 376 f., 380; Wersig (Fn. 91), § 8 Rn. 26; Vollmer (Fn. 91), S. 220.
94 Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 95; für einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG Vollmer (Fn.
91), S. 219 ff.; für Unvereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 Sacksofsky, Reformbedarf
bei der Familienbesteuerung, FPR 2003, S. 395 ff. Für verfassungsrechtlich geboten halten das
Ehegattensplitting P. Kirchhof, Ehe- und familiengerechte Gestaltung der Einkommensteuer, NJW
2000, S. 2792 ff. (2793 f.); Steiner (Fn. 60), § 108 Rn. 52. Keine Anreiz- und Steuerungswirkung
zugunsten der Hausfrauenehe erkennt G. Kirchhof, Förderpflicht und Staatsferne. Die aktuellen
Reformvorschläge zum Ehegattensplitting, Unterhaltsrecht und Scheidungsverfahren und der
grundrechtliche Schutz von Ehe und Familie, FamRZ 2007, S. 2441 ff. (2443).
95 BT-Drs. 3/260, 34; BT-Drs. 7/1470, 222.
96 Vgl. Schumann (Fn. 9), Rn. 283 m.w.N. Der Bundesfinanzhof sieht allerdings keine
gleichheitswidrige Rechtslage, vgl. BFH NJW 1990, 734; BFH BeckRS 2009, 25015573.
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wechselseitigen Aufwendungen für den Unterhalt von Angehörigen (insb. Kindern) unabhängig von der Lebensform steuermindernd berücksichtigt.[97]
bb. Beitragsfreie Mitversicherung
Auch die beitragsfreie Mitversicherung von Ehe- und Lebenspartner_innen in der Kranken- und Pflegeversicherung (§ 10 Abs. 1, § 3 S. 3 SGB V, § 25 Abs. 1, § 1 Abs. 6 S. 3,
56 Abs. 1 SGB XI) setzt Anreize insbesondere für Frauen, nicht zu arbeiten, und bevorteilt
die Alleinverdienerehe gegenüber Doppelverdienerehe.[98] Seine Vereinbarkeit mit dem
Grundsatz der Neutralität in der Ehe- und Familienförderung kann daher ebenfalls bezweifelt werden.[99]
c. Regelungsalternativen
Ehegattensplitting und beitragsfreie Ehegattenmitversicherung sind ehebezogene Leistungen, die Wahlfreiheit nicht fördern, sondern einschränken und Paare in eine traditionelle
Rollenverteilung drängen. Sie sind im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Neutralitätsgebot und die Pflicht des Staates, auf die tatsächliche Gleichberechtigung hinzuwirken, fragwürdig. Es empfiehlt sich, sie abzuschaffen und durch lebensformenunabhängige
Förderleistungen zu ersetzen.
3. Ausgleichsleistungen nach Auflösung der Ehe/
Lebenspartnerschaft
Die wechselseitigen Ansprüche getrennter Partner_innen lassen sich in drei Kategorien
einteilen: (1) güterrechtliche Ansprüche auf Vermögensausgleich, (2) Unterhaltsansprüche zur Deckung des täglichen Lebensbedarfs sowie (3) versorgungsrechtliche Ansprüche
auf Teilhabe an der Altersvorsorge. Im Hinblick auf diese Ansprüche sind Eheleute und
Lebenspartner_innen mittlerweile gleichgestellt, nicht aber die Partner_innen faktischer
Lebensgemeinschaften. Die Frage, ob es auch nach der Auflösung nicht formalisierter Partnerschaften Ausgleichsansprüche gibt oder geben sollte, wird kontrovers diskutiert. Diesen
und anderen Problemlagen der faktischen Lebensgemeinschaft widmen sich die folgenden
Abschnitte.
97 Zu einem solchen Modell vgl. ausf. Spangenberg (Fn. 91), S. 56 ff.; Vollmer (Fn. 91), S. 230 ff.
98 Prognos (Fn. 86), S. 377, 380 f.
99 Brosius-Gersdorf (Fn. 81), S. 505 ff.
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III. Die Rechtslage nicht formalisierter
(«faktischer») Lebensgemeinschaften
Ehe und Lebenspartnerschaft sind u.a. deswegen im Wesentlichen gleich zu behandeln,
weil sie rechtlich formalisiert sind. Die Partner_innen haben sich bewusst und gemeinsam
rechtlichen Regelungen unterworfen, mit denen wechselseitige Rechte und Pflichten begründet werden. Die Situation in nicht formalisierten Lebensgemeinschaften ist grundlegend anders, weil die Partner_innen sich gerade nicht dafür entschieden haben, ihre Partnerschaft rechtlich verbindlich auszugestalten.
Die deutsche Rechtsordnung hat sich für ein Modell entschieden, nach dem nicht formalisierte Partnerschaften grundsätzlich außerrechtlichen Charakter haben.[100] Es gibt also
kein Rechtsinstitut «nichteheliche Lebensgemeinschaft» bzw. «lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaft», dem feste rechtliche Konturen eigen wären. Nicht zuletzt aus diesem
Grund erweist sich die Rechtslage faktischer Lebensgemeinschaften derzeit in Deutschland
als außerordentlich unklar, unübersichtlich und in sich widersprüchlich. Für Menschen, die
in nicht formalisierten Partnerschaften leben, ist kaum erkennbar, welche gegenseitigen
Rechte und Pflichten ihr Zusammenleben herbeiführt und welche vertraglichen Ausgestaltungsmöglichkeiten ihnen zur Verfügung stehen. In den zentralen Fragen gegenseitiger
Beistandspflichten, Auskunftsrechte und nachpartnerschaftlicher Ausgleichsansprüche haben sowohl die wenigen gesetzlichen Regelungen als auch die Rechtsprechung überwiegend
kasuistischen Charakter und legen keine erkennbare Systematik zugrunde.[101] Rechtspolitisch kann daher kaum ein Zweifel daran bestehen, dass die Rechtsverhältnisse der nicht
formalisierten Partnerschaften überdacht und überarbeitet werden sollten. In welcher Weise dies geschehen kann, wird jedoch nicht einheitlich beantwortet.
Die besondere Schwierigkeit des Rechts der nicht formalisierten Lebensgemeinschaft liegt
in der gelebten Vielfalt der Lebensverhältnisse. Sie verbietet es einerseits, die Regeln über
die Ehe oder Lebenspartnerschaft schlicht analog anzuwenden, weil dies von den Partner_
innen möglicherweise bewusst nicht gewollt wird. Andererseits kann man aber auch nicht
jeder faktischen Lebensgemeinschaft unterstellen, dass beide Partner_innen sich bewusst
gegen jede rechtliche Bindung ausgesprochen haben oder die Regeln der Ehe oder Lebenspartnerschaft für sich ablehnen.[102] Dass die Partnerschaft nicht formalisiert wird,
kann auch daran liegen, dass es rechtlich nicht möglich ist (weil eine_r der Partner_innen
anderweitig verheiratet ist), dass die Heirat oder Verpartnerung erst für später angestrebt
100 Muscheler (Fn. 13), Rn. 490.
101 Vgl. die Kritik bei Schumann (Fn. 9), Rn. 4 f.
102 Coester, Zum Ausgleichsanspruch des Erben gegen den nichtehelichen Partner des Erblassers, JZ
2008, S. 315 f.; Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 22. Dagegen wohl Muscheler (Fn. 13), Rn. 501, nach dem
ein „Rechtsbindungswille“ nicht unterstellt werden könne.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
33 / 79
wird oder die Partner_innen darauf bauen, dass der/die andere sich im Konfliktfall fair
und solidarisch verhalten wird. Eine rechtstatsächliche Untersuchung in der Schweiz hat
zudem ergeben, dass viele Menschen das faktische Zusammenleben für verbindlicher halten
als es realiter ist, und beispielsweise davon ausgehen, auch außerhalb der Ehe oder Lebenspartnerschaft erbberechtigt zu sein.[103]
Die Konsequenz sollte sein, die faktische Lebensgemeinschaft weder als einheitlichen
Lebenssachverhalt zu behandeln noch als rechtsfreien Raum.[104] Ihr zentrales Merkmal
ist wie bei der Ehe und Lebenspartnerschaft ihre Ausgestaltung als Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft. Diese wechselseitige Solidarität kann rechtliche Regelungen in
zweierlei Hinsicht notwendig machen: Im Verhältnis der Partner_innen können wie in Ehe
und Lebensgemeinschaft gegenseitige Abhängigkeiten und erhebliche wirtschaftliche Ungleichgewichte entstehen, die Regelungen zum Schutz der schwächeren Partei erforderlich
machen. Im Verhältnis zum Staat geht es darum, die nichteheliche Lebensgemeinschaft
konsequenter als bisher als Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft ernst zu nehmen
und einen fairen Ausgleich zwischen gegenseitigen Beistandspflichten und staatlicher Anerkennung sowie staatlichem Schutz zu erreichen.[105]
1. Verfassungsrechtliche Grundlagen
Dass Menschen nicht heiraten müssen, auch wenn sie wie Eheleute zusammenleben, ist Teil
ihrer negativen Eheschließungsfreiheit aus Art. 6 Abs. 1 GG.[106] Miteinander zu leben,
ohne die rechtlich verbindliche Form der Ehe oder Lebenspartnerschaft zu wählen, ist zudem Bestandteil der Privatautonomie, die verfassungsrechtlich durch das Grundrecht der
allgemeinen Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG geschützt wird.[107] Wie Partner_innen ihre Bindung ausgestalten, ist grundsätzlich ebenfalls Sache ihrer freien Entscheidung.
Die Privatautonomie ist daher auch dann verletzt, wenn man ihnen eine rechtliche Vergemeinschaftung gegen ihren Willen aufdrängt.[108]
Zwar genießen nichteheliche und lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaften nicht den
besonderen Schutz der Ehe gem. Art. 6 Abs. 1 GG und haben insofern keinen Anspruch
auf Gleichbehandlung. Der Gesetzgeber darf sie jedoch gleich behandeln, wenn und soweit
103 Vgl. Cottier, Ein zeitgemäßes Erbrecht für die Schweiz, Not@Lex Sonderheft, 2014, S. 29 ff. (32).
Zu einer Typisierung der Motive für das faktische Zusammenleben Schumann (Fn. 9), Rn. 20.
104 Vgl. Schwenzer, Gesetzliche Regelung der Rechtsprobleme nichtehelicher Lebensgemeinschaften?,
JZ 1988, S. 781 ff. (782); Dethloff, Aufgabe des Grundsatzes des Nichtausgleichs in der
nichtehelichen Lebensgemeinschaft, JZ 2009, S. 418 ff. (418).
105 Vgl. Schwab, Familienrecht, 22. Aufl. 2014, Rn. 964; Schumann (Fn. 9), Rn. 5; Wellenhofer (Fn. 9),
Rn. 2.
106 Vgl. Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 8.
107 Vgl. Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 7.
108 Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 2.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
34 / 79
die in ihnen geleistete wechselseitige Solidarität mit Ehen und Lebenspartnerschaften
vergleichbar ist. Wo der Gesetzgeber faktischen Lebensgemeinschaften gleiche Lasten wie
Ehen und Lebenspartnerschaften auferlegt, kann zudem das Diskriminierungsverbot des
Art. 3 Abs. 1 GG verletzt sein, wenn dem nicht auch gleiche Begünstigungen gegenüberstehen.[109] In Bezug auf Kinder sind formalisierte und nicht formalisierte Lebensgemeinschaften gleich zu behandeln, da alle Familienformen unter den Schutz der Familie
des Art. 6 Abs. 1 GG fallen.[110] Nichteheliche Kinder haben zudem einen Anspruch auf
Gleichbehandlung mit ehelichen Kindern aus Art. 6 Abs. 5 GG.[111]
2. Die rechtliche Situation faktischer
Lebensgemeinschaften im Vergleich zu Ehe und
Lebenspartnerschaft
Die rechtliche Behandlung nicht formalisierter Lebensgemeinschaften ist lückenhaft,
unübersichtlich und uneinheitlich. Eine Systematik lässt sich weder im Gesetz noch in
der Rechtsprechung ausmachen. Die folgenden Abschnitte geben einen Überblick über die
wesentlichen Aspekte der geltenden Rechtslage im Vergleich zur Rechtslage formalisierter
Lebensgemeinschaften.[112]
a. Steuerrecht
Das Steuerrecht enthält zahlreiche Begünstigungen für Ehen, Lebenspartnerschaften und
Familien. Die faktische Lebensgemeinschaft kann von diesen Entlastungen nur teilweise
profitieren.
aa. Ehegattensplitting
Die Kritik am Ehegattensplitting wurde oben bereits dargestellt (II 2 b aa). Diese Form der
steuerlichen Entlastung ist nicht nur im Hinblick auf die Ungleichbehandlung formalisierter und faktischer Lebensgemeinschaften fragwürdig. Das Ehegattensplitting unterstützt
überkommene Rollenvorstellungen und setzt Anreize insbesondere für Frauen, sich in ökonomische Abhängigkeit zu begeben. Aus diesen Gründen kann nicht empfohlen werden, das
Ehegattensplitting in seiner bisherigen Form auf alle Lebensgemeinschaften oder Familien
109 Vgl. Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 57.
110 BVerfGK 106, 166 (176); BVerfG NJW 2003, 3691; BVerfGE 112, 50 (65); vgl. dazu schon
Schumann (Fn. 9), S. 169 ff.
111 Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 57.
112 Eine noch ausführlichere Darstellung findet sich bei Schumann (Fn. 9), Rn. 32 ff., deren Arbeiten
für die Erstellung dieses Gutachtens eine außerordentlich wertvolle Hilfe waren.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
35 / 79
auszuweiten. Stattdessen sollte es abgeschafft und durch eine lebensformenunabhängige
Form der Familienbesteuerung ersetzt werden.
bb. Erbschafts- und Schenkungssteuer
Ehegatten und Lebenspartner_innen können im Erbfall und für Schenkungen erhöhte Freibeträge in Anspruch nehmen (§§ 15 ff. ErbStG), die den Partner_innen nicht formalisierter
Beziehungen nicht zur Verfügung stehen.[113] Auch diese Ungleichbehandlung wird als
gleichheitswidrig kritisiert. Denn der Zweck der erhöhten Freibeträge besteht darin, das
gemeinsam erwirtschaftete Vermögen der Ehe/Lebenspartnerschaft den nächsten Angehörigen auch über den Tod hinaus zu erhalten.[114] Diese Interessenlage besteht in formalisierten wie nicht formalisierten Paargemeinschaften, und dies umso mehr, wenn in ihnen
Kinder aufwachsen.[115] Auch die Privilegien bei der Erbschafts- und Schenkungssteuer
verstoßen daher gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung aller Familienformen aus Art.
6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG sowie das Gebot der Gleichbehandlung nichtehelicher Kinder aus Art. 6 Abs. 5 GG.[116] Rechtspolitisch wird daher gefordert, die Eheprivilegien
bei beiden Steuerarten auf nicht formalisierte Lebensgemeinschaften auszuweiten.[117]
cc. Kosten der Erziehung von Kindern
Steuerliche Entlastungen zugunsten von Kindern wie Kindergeld (§ 64 EStG) und Kinderfreibetrag (§ 32 Abs. 6 S. 1 EStG), Kinderausbildungsfreibetrag (§ 33a Abs. 2 EStG)
und die Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten (§ 10 Abs. 1 Nr. 5 EStG) bestehen
unabhängig von der Verbindung der Eltern. Formalisierte und nicht formalisierte Lebensgemeinschaften werden hier also gleich behandelt. Gleiches gilt für die Berücksichtigung
gesetzlicher und freiwilliger Unterhaltsleistungen als außergewöhnliche Belastungen (§
33a Abs. 1 S. 1 EStG).
Allerdings gelten diese Begünstigungen nicht für die faktische Stieffamilie: Stiefkinder
werden einkommenssteuerrechtlich grundsätzlich nicht als Kinder berücksichtigt (§ 32
Abs. 1 EStG). Sonderregeln, die Stiefkinder einbeziehen, gelten nach der Rechtsprechung
des Bundesfinanzhofs wiederum nur für verheiratete/verpartnerte Stiefeltern.[118] Nicht
verheiratete/verpartnerte Stiefelternteile haben somit keinen Anspruch auf Kindergeld
(§ 63 Abs. 1 EStG) bzw. den Kinderfreibetrag (§ 32 Abs. 6 EStG) oder den Kinderzuschlag nach § 6a BKGG, selbst wenn die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind. Freiwillige
Unterhaltsleistungen an Stiefkinder werden nur dann als außergewöhnliche Belastungen
113 Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 15; zur Nichtberücksichtigung bei der Grunderwerbssteuer vgl. BFH NJW
2001, 2655. Zu weiteren punktuellen Ungleichbehandlungen im Recht siehe Schumann (Rn. 9), Rn.
4.
114 BVerfGE 126, 400 (421 ff.).
115 Zu diesem Aspekt Schumann (Fn. 9), Rn. 285.
116 Schumann (Fn. 9), Rn. 283.
117 Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 6. Aufl. 2010, S. 496.
118 BFH BeckRS 2004, 25003261.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
36 / 79
berücksichtigt, wenn das Stiefkind das Kind des Ehegatten/Lebenspartners ist. Auch diese
Ungleichbehandlungen sind im Hinblick auf den Grundsatz der Gleichbehandlung aller
Familienformen fragwürdig.[119]
b. Sozialrecht
Im Sozialrecht sind insbesondere zwei Bereiche im Hinblick auf Diskriminierungsverbote
problematisch: die Ungleichbehandlung im Bereich der Sozialversicherung (aa) sowie die
Anrechnung des Partnereinkommens im Rahmen von sozialen Leistungsansprüchen (bb).
Ungleichbehandlungen finden sich darüber hinaus punktuell auch bei Leistungen, die sich
auf die Betreuung von Kindern und die Pflege von Angehörigen beziehen (cc).
aa. Sozialversicherung
(1) Kranken- und Pflegeversicherung: Nicht erwerbstätige/geringverdienende Partner_innen einer nicht formalisierten Partnerschaft können nicht wie Eheleute/Lebenspartner_innen beitragsfrei in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung mitversichert werden
(§ 10 Abs. 1, 2 SGB V, § 25 Abs. 1 SGB XI).[120] Eine Ausweitung dieser Begünstigung
wird rechtspolitisch selten gefordert, weil sie zu erheblichen Beitragssteigerungen führen
würde. Kritisiert wird vielmehr die beitragsfreie Mitversicherung als solche, weil sie wie
das Ehegattensplitting Anreize insbesondere für Frauen setzt, nicht oder nicht existenzsichernd zu arbeiten. Des Weiteren bevorteilt sie die Alleinverdiener- gegenüber der Doppelverdienerehe.[121] Die Vereinbarkeit der beitragsfreien Mitversicherung mit dem Grundsatz der Neutralität in der Ehe- und Familienförderung (Art. 6 Abs. 1 GG) kann daher
bezweifelt werden.[122]
Die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern in der gesetzlichen Krankenkasse wird
hingegen nicht in Frage gestellt. Sie gilt für nahezu alle Kinder unabhängig von der Familienform (§ 10 Abs. 2 SGB V). Lediglich nichteheliche Stiefkinder können nicht über den
Stiefelternteil mitversichert werden (vgl. die Beschränkung auf Stiefkinder des Ehegatten/
Lebenspartners in § 10 Abs. 4 S. 1, 3 SGB V).
(2) Rente: In der gesetzlichen Rentenversicherung werden Kindererziehungszeiten für die
ersten drei Lebensjahre des Kindes unabhängig von der Familienform angerechnet (§ 3
Nr. 1 i.V.m. § 56 Abs. 1, 57 SGB VII). Hier werden formalisierte und nicht formalisierte
Lebensgemeinschaften also gleich behandelt. Das Sozialgericht Kassel hat im Jahr 2008
119 Zur Kritik vgl. Schumann (Fn. 9), Rn. 289 f.
120 BVerfG FamRZ 2003, 356.
121 Prognos (Fn. 86), S. 377, 380 f. Siehe dazu schon oben II 2b, Abschnitt bb.
122 Brosius-Gersdorf (Fn. 81), S. 505 ff.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
37 / 79
auch die Betreuung eines nichtehelichen Stiefkindes als rentenrechtlich relevant anerkannt.[123]
Ansprüche auf Witwenrente (§ 46 SGB VI) bestehen in nicht formalisierten Lebensgemeinschaften nach dem Tod eines/einer Partner_in nicht.[124] Hingegen bezieht das sogenannte «Familienprivileg», nach dem Versicherungsansprüche gegen Familienangehörige nicht
auf den Versicherer übergehen (§ 86 III VVG, 116 VI SGB X), auch Partner_innen nicht
formalisierter Lebensgemeinschaften ein.[125]
bb. Die sozialrechtliche Bedarfsgemeinschaft (SGB II)
Bei den staatlichen Sozialleistungen ist die Art und Weise des Zusammenlebens vor allem
bei der sozialrechtlichen Bedürftigkeitsprüfung relevant, also für die Frage, ob das Einkommen der Partner_innen leistungsmindernd zu berücksichtigen ist. Bei dieser Prüfung
geht es aus der Sicht des Staates darum, den Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe
auch in Fällen durchzusetzen, in denen eine Person von einer anderen finanziell versorgt
wird, ohne dass diese gesetzlich dazu verpflichtet ist.
(1) Verfassungsrechtlich problematisch ist in diesem Zusammenhang vor allem die Konstruktion der sozialrechtlichen Bedarfsgemeinschaft im Recht der Grundsicherung für
Arbeitsuchende (SGB II), weil sie mit gesetzlichen Vermutungen arbeitet: Eine Person
muss sich das Einkommen einer anderen anrechnen lassen, wenn sie mit dieser in einer
Bedarfsgemeinschaft lebt. Eine Bedarfsgemeinschaft liegt unter anderem dann vor, wenn
nach verständiger Würdigung davon ausgegangen werden kann, dass zusammenlebende
Partner_innen bereit sind, füreinander Verantwortung zu übernehmen (§ 7 Abs. 3 Nr. 3c
SGB II). Diese Bereitschaft wiederum wird unter anderem dann vermutet, wenn die Partner_innen seit mehr als einem Jahr zusammenleben (§ 7 Abs. 3a Nr. 1 SGB II).
Verfassungsrechtlich berührt die gesetzliche Vermutung, eine Einstandsgemeinschaft zu
sein, das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG und kann
im Verhältnis zu Alleinstehenden bzw. Alleinlebenden diskriminierende Wirkung entfalten
(Art. 3 Abs. 1 GG). Sofern die Partner_innen sich tatsächlich gegenseitig finanziell unterstützen, ist die wechselseitige Anrechnung des Einkommens dadurch zu rechtfertigen,
dass ansonsten Eheleute und Lebenspartner_innen, die einander zum Unterhalt verpflichtet sind, benachteiligt würden (Art. 6 Abs. 1 GG).[126] Äußern sich die Partner_innen zu
123 SG Kassel, 26.03.2008, Az. S 7 R 58/05; zustimmend Schumann (Fn. 9), Rn. 60.
124 BSG NJW 1995, 3270. Eine Verfassungsbeschwerde gegen diese Regelungen hat das
Bundesverfassungsgericht im Jahr 2012 als unzulässig zurückgewiesen, in der Sache also nicht
entschieden (BVerfG NJW 2012, 2176).
125 Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 13.
126 Vgl. zur früheren Rechtsprechung zur eheähnlichen Gemeinschaft BVerfGE 87, 234 (263
ff.); zur jetzigen Rechtslage Brosius-Gersdorf, Bedarfsgemeinschaften im Sozialrecht.
Nichteheliche und nichtlebenspartnerschaftliche Lebensgemeinschaften als Verantwortungs- und
Einstandsgemeinschaft in den Not- und Wechselfällen des Lebens, NZS 2007, S. 410 ff. (412 f.).
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
38 / 79
dieser Frage nicht, so ist es ebenfalls verfassungsrechtlich zu rechtfertigen, anhand von
Indizien eine derartige Verantwortungsgemeinschaft zu vermuten. Allerdings müssen die
Kriterien so gewählt sein, dass sie zuverlässig auf gegenseitigen Beistand hindeuten. Allein
die mit einem Jahr relativ kurze Dauer des Zusammenlebens dürfte dafür nicht hinreichen,
weil sie keine überzeugende Abgrenzung zu einer Wohngemeinschaft oder einer unverbindlichen Beziehung möglich macht.[127] Vielmehr muss nachgewiesen sein, dass die
Partner_innen jeweils so zum gemeinsamen Haushalt beitragen, dass ihr Verhalten dem
von rechtlich einander Unterhaltspflichtigen nach § 1360 BGB bzw. § 5 LPartG gleichkommt.[128]
Die Problematik verschärft sich dadurch, dass es kaum realistische Möglichkeiten gibt, die
gesetzliche Vermutung zu widerlegen: Es ist nicht einfach zu beweisen, dass etwas nicht
ist. Während beispielsweise die Existenz eines Doppelbettes, die gemeinschaftliche Nutzung von Küche und Bad, die gemeinsame Einnahme von Mahlzeiten[129] oder gar die
gemeinsame Erwähnung in einer Traueranzeige[130] als überzeugende Indizien für eine
Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft gewertet werden, reichen weder getrennte
Konten[131] noch ein schriftlicher Partnerschaftsvertrag,[132] um gegenseitige finanzielle Unabhängigkeit zu belegen. Jedenfalls § 7 Abs. 3a Nr. 1, Abs. 3 Nr. 4 und § 9 Abs. 2 S.
2 SGB II sind daher im Hinblick auf den sozialstaatlichen Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum problematisch.[133]
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Anrechnungsregelungen sich insgesamt deutlich stärker auf den Leistungsbezug von Frauen auswirken als auf den von Männern, Frauen
also häufiger wegen der Anrechnung von Partnereinkommen geringere oder keine Leistungen erhalten.[134] Darin kann eine mittelbare Diskriminierung von Frauen und mithin ein
Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 GG gesehen werden. Die einzige realistische Möglichkeit, um
der «Zwangsvergemeinschaftung» und der erzwungenen Abhängigkeit von dem/der Partner_in zu entkommen, besteht darin, den gemeinsamen Haushalt zu verlassen. Die Freiheit
127 Siehe zu verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 7 Abs. 3a Nr. 1 SGB II LSG Celle, 24.04.2014,
Az. L 15 AS 358/12 ZVW; Brosius-Gersdorf (Fn. 126), S. 414.
128 Hänlein, in: Gagel, SGB II/SGB II, 58. EL Juni 2015, § 7 SGB II, Rn. 49.
129 LSG Schleswig, 22.01.2015, Az. L 6 AS 214/14 B ER.
130 LSG Celle, 05.03.2014, Az. 13 AS 206/13.
131 LSG Schleswig, 22.01.2015, Az. L 6 AS 214/14 B ER; siehe aber die differenzierteren
Betrachtungen in BSGE 112, (215), wonach getrennte Haushaltskassen unter Umständen gegen die
Vermutung einer Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft sprechen können (Ziff. 24).
132 LSG Celle, 05.03.2014, Az. 13 AS 206/13.
133 Vgl. SG Berlin, 20.12.2006, Az. S 37 AS 11401/06 ER.
134 Betzelt, Hartz IV aus Gender-Sicht. Einige Befunde und viele offene Fragen. WSI-Mitteilungen
6/2007, S. 298 ff. (299); ausf. Betzelt/Rust (Hrsg.), Individualisierung von Leistungen des SGB II
unter Berücksichtigung der familialen Unterhaltsverpflichtungen, 2010.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
39 / 79
Alleinstehender und Alleinerziehender, neue Partnerschaften einzugehen und nach freiem
Willen auszugestalten, wird hierdurch empfindlich beeinträchtigt.[135]
(2) Die gesetzliche Vermutung einer Verantwortungsgemeinschaft erstreckt sich auch auf
die im Haushalt lebenden Kinder (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II). Problematisch ist an der Formulierung «im Haushalt lebend», dass sie auch Stiefkinder erfasst (vgl. §§ 7 Abs. 3 Nr. 4,
9 Abs. 2 S. 2 SGB II). Der Gesetzgeber unterstellt mithin regelhaft, dass eine Person, die
mit Kindern ihres Partners/ihrer Partnerin in einem Haushalt lebt, diese Kinder aus ihren
eigenen Einkünften (mit) versorgt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist
diese typisierende Annahme zulässig.[136] Empirische Erkenntnisse, mit denen man eine
solche Vermutung untermauern könnte, liegen bislang nicht vor. Damit steigt die Gefahr,
dass hinter der Vorstellung «typischer» Lebensverhältnisse starke Normalitätsvorstellungen wirksam werden, die mit der Wirklichkeit in Stieffamilien nicht notwendig übereinstimmen müssen.[137] Unabhängig davon bestehen erhebliche Widersprüche zu anderen
Rechtsbereichen:
(a) Stiefkinder haben gegen den Stiefelternteil keinen gesetzlichen Unterhaltsanspruch.
Damit konstruiert das Recht eine Solidarpflicht, die im Innenverhältnis nicht durchgesetzt
werden kann: Ob die Einkünfte in der vermuteten Bedarfsgemeinschaft also tatsächlich
angemessen aufgeteilt werden, lässt sich staatlicherseits nicht kontrollieren. Im Gegenteil
können die Beteiligten die gesetzliche Vermutung nicht widerlegen – anders als im Verhältnis der Erwachsenen, die dies zumindest versuchen können (s.o.). Mit dieser unwiderlegbaren gesetzlichen Vermutung einer Verantwortungsbeziehung im Stiefkindverhältnis wird
lediglich die Fiktion geschaffen, das Stiefkind sei nicht hilfebedürftig.[138]
(b) Sind die Stiefeltern nicht verheiratet oder verpartnert, werden die Stiefkinder steuerrechtlich gerade nicht als Kinder des Stiefelternteils berücksichtigt (s.o. III 2 a). Faktisch
geleistete Unterhaltszahlungen können in dieser Konstellation nicht steuerlich abgesetzt
werden, und auch Ansprüche auf Kindergeld, Kinderfreibetrag oder Kinderzuschlag bestehen nicht.
(c) Erschwerend kommt hinzu, dass alle Kinder einschließlich der Stiefkinder nach dem
SGB II bis zum Alter von 25 Jahren verpflichtet sind, im Haushalt ihrer Eltern zu leben,
um Hilfebedürftigkeit zu vermeiden (§ 22 Abs. 5 SGB II). Diese Differenzierung zwischen
135 Vgl. Rust, Entlastung des Staates oder Entlastung der Familie?, in: Knickrehm/Rust (Hrsg.),
Arbeitsmarktpolitik in der Krise, Festgabe für Prof. Dr. Karl-Jürgen Bieback, 2010, S. 148 ff, 156.
136 BSG NZS 2009, 634; BSG, 23.05.2013, Az. B 4 AS 67/11; krit. Wersig (Fn. 91), § 8 Rn. 46
(„Zwangsvergemeinschaftung von Menschen“).
137 Vgl. Wenner, Einstandspflicht des Partners für die Kinder des anderen?, Soziale Sicherheit 2013, S.
356 f.; ders., Verfassungsrechtlich problematische Regelungen für eheähnliche Gemeinschaften und
Stiefeltern, Soziale Sicherheit 2006, 146 ff.
138 Für die Verfassungswidrigkeit der Anrechnungsregel daher SG Berlin, 20.12.2006, Az. S 37 AS
11401/06 ER; siehe auch Rust (Fn. 135), S. 148; Schumann (Fn. 9), Rn. 43 f.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
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volljährigen Personen unter und über 25 Jahren ist schon für sich genommen im Hinblick
auf Art. 3 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich bedenklich. Für Stiefkinder verlängert sie die
Abhängigkeit von dem Stiefelternteil, die durch keinen gesetzlichen Unterhaltsanspruch
abgemildert wird, noch weit über die Volljährigkeitsgrenze hinaus.
(3) Alle im Rahmen einer Bedarfsgemeinschaft faktisch erbrachten Unterhaltsleistungen
können als außergewöhnliche Belastungen nach § 33a Abs. 1 S. 3 EStG steuerlich geltend
gemacht werden. Hier werden formalisierte und nicht formalisierte Lebensgemeinschaften
einschließlich der nichtehelichen Stieffamilie rechtlich gleich behandelt.[139]
cc. Die sozialrechtliche Einsatzgemeinschaft (SGB XII)
Nach etwas anderen Regeln werden die Einkünfte von Partner_innen im Recht der Sozialhilfe (SGB XII) angerechnet. Hier gilt schon seit Langem der Grundsatz, dass eheähnliche
Lebensgemeinschaften bei der Gewährung von Sozialhilfe nicht besser gestellt werden
dürfen als Ehepaare (§ 20 SGB XII). Die gesetzliche Formulierung wurde im Jahr 2006
auf lebenspartnerschaftliche Gemeinschaften erstreckt, gilt nunmehr also für alle nicht
faktischen Paarbeziehungen. § 20 SGB XII enthält keine gesetzliche Vermutung wie § 7
SGB II, die ehe- oder lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaft wird aber anhand vergleichbarer Kriterien als Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft definiert.[140]
Anders als im SGB II erstreckt sich die Einstandspflicht im Recht der Sozialhilfe aber nur
auf minderjährige Kinder, die mit ihrem leiblichen Elternteil in einem Haushalt leben (§ 27
Abs. 2 S. 3 SGB XII). Die im SGB II verfassungsrechtlich problematische Ausweitung auf
volljährige Kinder bis 25 Jahre und auf Stiefkinder findet sich hier folglich nicht.
dd. Die Haushaltsgemeinschaft
Können Menschen, die in einem Haushalt zusammenleben, nicht als Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft im oben beschriebenen Sinne identifiziert werden, besteht immer
noch die Möglichkeit, die gegenseitige Unterstützung im Rahmen einer Haushaltsgemeinschaft zu vermuten. Auch hier bestehen im SGB II (Grundsicherung) und SGB XII (Sozialhilfe) unterschiedliche Voraussetzungen:
(1) Nach § 9 Abs. 5 SGB II gehören zur Haushaltsgemeinschaft alle Verwandten und Verschwägerten, die unter einem Dach leben. Bei ihnen wird die gegenseitige Unterstützung
vermutet, «soweit dies nach deren Einkommen und Vermögen erwartet werden kann». Da
die Partner_innen einer faktischen Lebensgemeinschaft weder verwandt noch verschwägert
sind, fallen sie nicht unter den Begriff der Haushaltsgemeinschaft.[141] Ihre Einkünfte
können folglich nicht nach dieser Vorschrift einander angerechnet werden.
139 BFH NJW 2009, 622.
140 Grube (Fn. 10), § 20 SGB XII, Rn. 9 ff.
141 Siehe die Gesetzesbegründung BT-Drs. 15/1516, 53.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
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(2) Anders nach § 39 SGB XII: Zur Haushaltsgemeinschaft gehören nach dieser Bestimmung alle Personen, die in einer Wohnung zusammenleben. Für diese Gemeinschaft wird
zum einen vermutet, dass sie gemeinsam wirtschaften, und zum anderen, dass sie sich
gegenseitig finanziell unterstützen.[142] Faktische Lebensgemeinschaften, die sich noch
nicht zu einer Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft im Sinne des § 20 SGB XII
verfestigt haben, können als Haushaltsgemeinschaft zu gegenseitigem Beistand verpflichtet werden, sofern es ihnen nicht gelingt, die gesetzliche Vermutung zu widerlegen (§ 39
Abs. 1 S. 2 SGB XII).[143]
ee. Leistungen der sozialen Förderung
Während sich das faktische Zusammenleben bei den existenzsichernden Leistungen über
die Konstrukte der Bedarfs-, Einsatz- und Haushaltsgemeinschaft regelmäßig leistungsmindernd auswirkt, ist die Rechtslage im Bereich der sozialen Förderung uneinheitlicher:
(1) Elternzeit und Elterngeld stehen verheirateten, verpartnerten sowie faktisch zusammenlebenden Eltern ebenso zu wie Alleinerziehenden. Eine Ausnahme gilt lediglich für
die nichteheliche Stieffamilie: Der Stiefelternteil hat weder Anspruch auf die steuerlichen
Entlastungen (s.o.) noch auf Elternzeit oder Elterngeld. Rechtspolitisch wird gefordert,
diese Ungleichbehandlung abzuschaffen und die Betreuungsleistungen von Stiefeltern nicht
anders zu behandeln als die leiblicher Mütter und Väter.[144]
(2) Den Anspruch auf Betreuung in der Tagespflege hat das Kind selbst; er besteht unabhängig von den Lebensverhältnissen seiner Eltern (§ 24 Abs. 2 und 3 SGB VIII).
c. Erbrecht
Anders als Ehe- und Lebenspartner_innen haben die Beteiligten einer nicht formalisierten
Lebensgemeinschaft kein gesetzliches Erbrecht, und sie können kein gemeinschaftliches
Testament aufsetzen (§§ 2265 ff. BGB, zur Erbschaftssteuer siehe bereits oben).
Demgegenüber erstreckt sich die Pflicht des Erben, den «Familienangehörigen» des Erblassers, die mit ihm zusammenlebten und Unterhalt von ihm bekamen, dreißig Tage nach
142 § 39 Abs. 1 S. 1 SGB XII: „Lebt eine nachfragende Person gemeinsam mit anderen Personen
in einer Wohnung oder in einer entsprechenden anderen Unterkunft, so wird vermutet, dass sie
gemeinsam wirtschaften (Haushaltsgemeinschaft) und dass die nachfragende Person von den
anderen Personen Leistungen zum Lebensunterhalt erhält, soweit dies nach Einkommen und
Vermögen erwartet werden kann.“
143 Schumann (Fn. 9), Rn. 48.
144 Vgl. Schumann (Fn. 9), Rn. 50.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
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Eintritt des Erbfalls ihren Unterhalt weiter auszuzahlen («Dreißigster»), auch auf Partner_innen aus nicht formalisierten Beziehungen.[145]
d. Ausgleichsansprüche nach Auflösung der Partnerschaft
Nach der Auflösung der nicht formalisierten Partnerschaft bestehen grundsätzlich keine
wechselseitigen finanziellen Ansprüche.[146] Dieser Grundsatz erfährt einige Durchbrechungen, die teilweise gesetzlich geregelt sind und teilweise in der Rechtsprechung entwickelt wurden.
aa. Unterhaltsrecht
Während des Bestehens einer Ehe oder Lebenspartnerschaft sind die Eheleute/Lebenspartner_innen einander unterhaltspflichtig (§§ 1360 ff. BGB). Eine vergleichbare Unterhaltspflicht besteht in faktischen Lebensgemeinschaften nicht.
Für die Zeit nach Trennung oder Scheidung müssen zwei Arten nachpartnerschaftlichen
Unterhalts differenziert werden: Eheleute und Lebenspartner_innen können Ehegattenunterhalt beanspruchen, wenn sie aus bestimmten Gründen (z.B. Alter, Krankheit, Erwerbslosigkeit) bedürftig sind (§§ 1571 ff. BGB). Dieser Ausgleich zwischen den erwachsenen
Partner_innen ist nicht auf die faktische Lebensgemeinschaft übertragbar.
Anders ist die Rechtslage beim Unterhalt wegen der Betreuung eines gemeinsamen Kindes. Hier greift nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Gebot der
Gleichbehandlung ehelicher und nichtehelicher Kinder. Die Unterhaltsansprüche wegen der
Betreuung eines gemeinsamen Kindes werden daher seit der Unterhaltsrechtsreform aus
dem Jahr 2007 für getrennte Eheleute/Lebenspartner_innen (§ 1570 BGB) und nichteheliche Partner_innen (§ 1615l BGB) unter nahezu gleichlautenden Voraussetzungen gewährt.[147]
145 OLG Düss FamRZ 1983, 274.
146 St. Rspr. d. BGH, vgl. nur BGH NJW 2008, 443, Ziff. 16 und die weiteren Nachweise bei
Gernhuber/Coester-Waltjen (Fn. 117), § 40 Rn. 20; Dethloff, Familienrecht, 2012, § 8 Rn. 18;
Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 57.
147 Zur Kritik an der Ausgestaltung dieser Unterhaltsrechtsregeln im Hinblick auf die rechtliche
Anerkennung von Care siehe Wapler, Kinderbetreuung und Erwerbsobliegenheit: Tendenzen in der
neueren Rechtsprechung zum nachehelichen Unterhalt, RdJB 2014, S. 36 ff.; dies., Was kommt
nach dem Altersphasenmodell? Die Erwerbsverpflichtung des alleinerziehenden Elternteils im
Unterhaltsrecht und im Recht der Grundsicherung, in: Scheiwe/Wersig (Hrsg.), Einer zahlt und eine
betreut? Kindesunterhaltsrecht im Wandel, 2009, S. 251 ff.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
43 / 79
bb. Versorgungsausgleich
Die Regelungen des Versorgungsausgleichs, mit dem die während der gemeinsamen Zeit
erworbenen Altersvorsorgeansprüche aufgeteilt werden, sind auf faktische Lebenspartner_
innen nicht anwendbar.[148]
cc. Vermögensrechtlicher Ausgleich
Auch die Bestimmungen des ehelichen Güterrechts gelten nicht für faktische Lebensgemeinschaften; insbesondere findet kein Zugewinnausgleich statt.[149] Für bestimmte
Arten von Zuwendungen, die während der Partnerschaft geleistet wurden, gewährt die
Rechtsprechung mittlerweile einen finanziellen Ausgleich. Über die mögliche Rechtsgrundlage herrscht allerdings Uneinigkeit:
(1) In eng begrenzten Fällen werden hierfür die Regelungen über die BGB-Gesellschaft
analog angewendet. Allerdings wird nicht schon die faktische Lebensgemeinschaft als
solche als Gesellschaft angesehen. Voraussetzung ist vielmehr, dass die Partner_innen über
ihre bloße Lebensgemeinschaft hinaus wertschöpfend tätig sein wollten, etwa indem sie ein
Unternehmen gründeten.[150]
(2) Überwiegend werden Leistungen, die im Vertrauen auf die Dauerhaftigkeit der Beziehung aufgewendet wurden, nach den Regeln der unbenannten Zuwendungen im Eherecht
behandelt. Als Rechtsgrundlage wird entweder der Anspruch bei Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) oder aber der Herausgabeanspruch bei ungerechtfertigter Bereicherung (Zweckverfehlungskondiktion, § 812 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 BGB) herangezogen.[151]
Der Gedanke ist in beiden Fällen folgender: Leistet eine Person im Vertrauen auf die
Dauerhaftigkeit der Beziehung, so liegt dieser Leistung ein stillschweigender «familienrechtlicher Kooperationsvertrag» zugrunde. Geht die Beziehung in die Brüche, fällt diese
Geschäftsgrundlage (§ 313) bzw. dieser Rechtsgrund (§ 812) weg, und es entsteht ein
entsprechender Ausgleichanspruch.[152] Dieser Gedanke wird auf Vermögensübertragungen (insb. Schenkungen) wie auf Arbeitsleistungen (etwa Bau eines gemeinsamen Hauses)[153] angewendet. Im Einzelnen ist hier jedoch vieles ungeklärt. Insbesondere gibt es
keine Einigkeit über die Voraussetzungen, unter denen man von einem stillschweigenden
Kooperationsvertrag ausgehen kann.[154] Für die Betreuung eines gemeinsamen Kindes
148 Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 54.
149 LG Aachen NJW-RR 1988, 450 (451), Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 54.
150 BGH FamRZ 2003, 1542; BGH FamRZ 2005, 1151; bejahend Dethloff (Fn. 104), S. 418; kritisch
zur Unklarheit dieses Kriteriums Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 64.
151 Ausführlich Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 67 ff.; 72 f.
152 BGHZ 165, 1 (10); BGHZ 177, 193 (199); BGH NJW 2011, 2880 (2881); BGH NJW 2012, 1789;
grundsätzlich bejahend bei Kritik im Detail Dethloff (Fn. 104), S. 420; Schwab (Fn. 105), Rn. 975;
Gernhuber/Coester-Waltjen (Fn. 117), S. 508
153 BGHZ 177, 193 (209); Muscheler (Fn. 13), Rn. 502b.
154 So die Kritik bei Gernhuber/Coester-Waltjen (Fn. 117), S. 507.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
44 / 79
oder auch die Pflege des Partners wird der Gedanke der unbenannten Zuwendung zudem
bislang nicht angewandt. Eine zentrale Ursache für wirtschaftliche Ungleichheit nach
der Trennung, die überwiegend Frauen betrifft, wird damit nicht erfasst.[155] Insgesamt
ist die Rechtslage für die betroffenen Paare unübersichtlich, wenig vorhersehbar und den
tatsächlichen Lebensverhältnissen nur punktuell angepasst. Für eine Reform des Rechts
der faktischen Lebensgemeinschaft bestehen hier die größten rechtspolitischen Schwierigkeiten.
e. Reproduktionsmedizin
Nach den Richtlinien der Bundesärztekammer, die in den meisten Bundesländern Teil des
ärztlichen Berufsrechts sind, sollen grundsätzlich nur Eheleute Leistungen der medizinischen Reproduktion erhalten. Nichteheliche Lebensgemeinschaften verschiedengeschlechtlicher Partner_innen müssen danach den behandelnden Ärzt_innen nachweisen, dass sie in
einer stabilen Partnerschaft leben.[156] Nach § 27a SGB V werden Leistungen der künstlichen Befruchtung zudem nur bei Ehepaaren von den Krankenkassen finanziert.[157] Seit
dem 07. Januar 2016 können nichteheliche (verschiedengeschlechtliche) Paare jedoch
einen staatlichen Zuschuss beantragen (siehe dazu noch unten IV 1 a).
f. Auskunfts-, Informations- und
Zeugnisverweigerungsrechte
Unterschiedliche Behandlung erleben nicht formalisierte Lebensgemeinschaften auch im
Hinblick auf den Schutz ihrer engen persönlichen Bindung: Vor Gericht haben sie keine
gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrechte (vgl. § 52 StPO).[158] Im Falle der Tötung
der Partner_in besteht im Strafprozess kein Recht zur Nebenklage (§ 395 Abs. 2 Nr. 1
155 Vgl. die Kritik bei Dethloff, Gutachten zum 67. Deutschen Juristentag, Band 1, S. A 140.
156 Siehe hierzu die Nachweise in Fn. 37
157 BVerfGE 177, 316.
158 BVerfG NJW 1999, 1622. Dagegen genügt bereits das Versprechen, eine formalisierte
Paarbeziehung eingehen zu wollen, eine zwischenzeitlich aufgelöste formalisierte Paarbeziehung
oder eine Verschwägerung. Ehe und Lebenspartnerschaft entfalten hier sowohl Vor- als auch
Nachwirkung, sie erstrecken das Zeugnisverweigerungsrecht sogar auf Personen außerhalb von
Paarbeziehung und Verwandtschaft. Für verfassungsrechtlich geboten hält die Erweiterung des
Zeugnisverweigerungsrechts auf nicht formalisierte Paare Schumann, (Fn. 9), Rn. 10.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
45 / 79
StPO)[159] und zivilrechtlich kein Schadensersatzanspruch (§§ 844, 845 BGB).[160]
Sitzt ein_e Partner_in in Haft, so besteht kein Besuchsrecht.[161] Liegt ein_e Partner_in
im Krankenhaus oder ist anderweitig nicht in der Lage, seine Angelegenheiten selbst zu
regeln, so hat der/die andere keine Auskunfts-, Informations- und Vertretungsrechte. Diese
Ausschlüsse sind verfassungsrechtlich kaum zu rechtfertigen, da die enge persönliche
Beziehung zwar nicht nach Art. 6 Abs. 1 GG, aber in jedem Fall als Teil der Privat- und
Intimsphäre gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützt ist. Eine wie auch immer geartete Reform des Rechts der nicht formalisierten Beziehungen sollte die genannten
Rechte daher ohne Abstriche auf diese Lebensgemeinschaften erstrecken.[162]
g. Wohnrechte
Weitgehend gleichgestellt sind Lebensgemeinschaften im Hinblick auf die Nutzung von
Wohnungen: (1) Der/die Partner_in einer nicht formalisierten Partnerschaft darf den/
die andere Partner_in seiner Mietwohnung wohnen lassen (§ 535 Abs. 1 S. 1 BGB).[163]
Stirbt die Mieter_in, kann die Partner_in in den Mietvertrag eintreten (§ 563 Abs. 2 S.
4 BGB – «Familienangehörige, die mit dem Mieter einen gemeinsamen Haushalt führen»).[164] Auch Berechtigte eines dinglichen Wohnrechts können ihre faktischen Partner_innen in die Wohnung aufnehmen (§ 1093 Abs. 2 BGB: «Familie»).[165]
Des Weiteren bestehen Ansprüche auf Zuweisung der gemeinsamen Wohnung zur Alleinnutzung nach dem Gewaltschutzgesetz unabhängig von der Formalisierung der Partnerschaft (§ 2 GewSchG). Gleiches gilt für Ansprüche auf Entschädigung nach dem Opferschutzgesetz.[166]
159 BVerfG FamRZ 1993, 781.
160 Vgl. EGMR, 23.02.2010, Az. 1289/09.
161 OLG Koblenz NStZ 2002, 529.
162 Gernhuber/Coester-Waltjen (Fn. 117), S. 496.
163 BGHZ 157, 1.
164 BGHZ 180, 272. Dieser Begriff der Haushaltsgemeinschaft erfasst auch Menschen, die nicht in
einer Paarbeziehung zusammenleben, vgl. Schumann (Fn. 9), Rn. 4, und die Legaldefinition in § 39
Abs. 1 S. 1 SGB XII.
165 BGHZ 84, 36; Joost (Fn. 34), § 1093 Rn. 12; Berger (Fn. 34), § 1093 Rn. 7; für die analoge
Anwendung Muscheler (Fn. 13), Rn. 494.
166 BVerfGE 112, 50.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
46 / 79
3. Möglichkeit und Grenzen vertraglicher Ausgestaltung
sozialer Nahbeziehungen
Da es im deutschen Recht kein rechtlich gefestigtes und ausgestaltetes Institut der „faktischen Lebensgemeinschaft“ gibt, ist zu fragen, ob und wie weit private Lebensbeziehungen
vertraglich ausgehandelt werden können. Dabei bestehen grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Die Partner_innen können heiraten/sich verpartnern und die gesetzlichen Folgen dieses
Aktes durch einen Ehe- bzw. Lebenspartnerschaftsvertrag modifizieren. Die Alternative ist,
auf eine Heirat zu verzichten und die Partnerschaft individuell vertraglich auszugestalten.
Beide Optionen sind im deutschen Recht aufgrund der allgemeinen Vertragsfreiheit (Privatautonomie, Art. 2 Abs. 1 GG, im Falle der Ehe auch der Ausgestaltungsfreiheit aus Art. 6
Abs. 1 GG[167]) grundsätzlich möglich, unterliegen jedoch rechtlichen Grenzen.
a. Ausgestaltung der Ehe durch Ehe- oder
Lebenspartnerschaftsvertrag
Dass Eheverträge grundsätzlich zulässig sind, ergibt sich aus Art. 6 Abs. 1 GG. Über
die bereits erwähnte Institutsgarantie hinaus enthält diese Norm ein Freiheitsrecht der
Eheleute, ihr Zusammenleben ohne staatliche Einmischung nach ihren Vorstellungen zu
gestalten (Ausgestaltungsfreiheit).[168] Dem Grundsatz nach herrscht auch in der Ehe
daher Vertragsfreiheit, und die gesetzlichen Vorschriften sind frei ausgestalt- und abdingbar. Begrenzt wird diese Freiheit durch die Pflicht des Staates, die Ehe zu schützen,
die sich ebenfalls aus Art. 6 Abs. 1 GG ergibt («[
] steht unter dem besonderen Schutz
des Staates.»). Die staatliche Schutzpflicht bezieht sich nicht nur auf Bedrohungen durch
den Staat selbst, sondern auch auf solche, die sich im Innenverhältnis der Eheleute ergeben, sofern sie eine gewisse Schwelle der Zumutbarkeit überschreiten.[169] Mit dieser
staatlichen Schutzpflicht wird die staatliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen begründet
und gleichzeitig auf Fälle eklatant gestörter Vertragsparität begrenzt.[170] Maßstab ist
dabei der Schutzzweck der gesetzlichen Regelungen zum Ehegüterrecht und nachehelichen
Unterhalt. Nach der Rechtsprechung des BGH wird dieser Schutzzweck dann unterlaufen,
wenn durch die vertragliche Vereinbarung eine evident einseitige und durch die individu-
167 BVerfG FamRZ 2001, 343 (346).
168 Zu diesem vgl. ausf. Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 115 ff.
169 Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn. 48.
170 BVerfGE 103, 89, Ziff. 30 ff.; BVerfG NJW 2005, 2384; vgl. Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 Rn.
90.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
47 / 79
elle Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse nicht gerechtfertigte Lastenverteilung
entstünde.[171] Eine solche Situation wird vor allem dann angenommen, wenn eine Partei strukturell unterlegen ist, etwa weil sie wirtschaftlich schwächer dasteht oder wegen
der Betreuung kleiner Kinder oder gesundheitlicher Probleme nicht erwerbstätig sein
kann.[172]
Eheleute und Lebenspartner_innen (§§ 7, 16 S. 2 LPartG) können ihre güterrechtlichen
Verhältnisse (§ 1408 BGB) einschließlich des Versorgungsausgleichs (§ 1408 Abs. 2 BGB
i.V.m. §§ 6 ff. VersAusglG sowie den nachehelichen Unterhalt (1585c BGB) vertraglich
regeln und dabei die gesetzlichen Vorschriften ganz oder teilweise abbedingen. Ehe- und
Lebenspartnerschaftsverträge bedürfen im Regelfall der notariellen Beurkundung (§§
1410, 1585c S. 2 BGB, § 7 VersAusglG). Im Einzelnen sind im Rahmen der oben genannten Grenzen der Fairness insbesondere folgende Vereinbarungen zulässig:
(1) Der gesetzliche Güterstand der Zugewinngemeinschaft kann vertraglich durch die Gütertrennung (§ 1414 BGB) oder die Gütergemeinschaft (§§ 1415 ff. BGB) ersetzt werden.
(2) Bleibt es bei dem gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft, so kann dieser
frei abgeändert werden,[173] etwa indem man einzelne Vermögensgegenstände (z.B.
eine Immobilie oder ein Unternehmen) von ihm ausnimmt.[174] Die Zugewinngemeinschaft kann aber auch ohne Vereinbarung eines anderen Güterstandes ganz ausgeschlossen werden.[175] Streitig ist, ob auf den Zugewinnausgleich einseitig verzichtet werden
kann.[176]
(3) Auch der gesetzliche Güterstand der Gütergemeinschaft kann an die individuellen Bedürfnisse angepasst werden.[177]
(4) Der Versorgungsausgleich kann modifiziert oder ganz ausgeschlossen werden (§ 6 Abs.
1 VersAusglG).
(5) Die gesetzlichen Vorschriften über nacheheliche Unterhaltsansprüche der Partner_innen[178] können im Verhältnis zwischen den Eheleuten abgeändert (modifizierende
171 BGH FamRZ 2004, 930; FamRZ 2005, 1444; 2006, 1359; 2009, 1041.
172 BVerfG NJW 2001, 957, 2248; siehe aber die Kritik bei Muscheler (FN. 13), Rn. 447.
173 BGH 86, 143 (151).
174 BGH FamRZ 1997, 800; OLG Stuttgart DNotZ 1983, 693; OLG Karlsruhe DNotZ 2010, 140.
175 Kanzleiter, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2013, § 1408 Rn. 14 m.w.N.
176 Dafür: OLG Stuttgart DNotZ 1983, 693; Kanzleiter (Fn. 175), § 1408 Rn. 14; dagegen Gernhuber/
Coester-Waltjen (Fn. 117), § 32 Abs. 3 S. 5.
177 Einzelheiten bei Kanzleiter (Fn. 175), § 1408 Rn. 14 m.w.N.
178 Ein Verzicht auf den Kindesunterhalt ist nicht möglich, vgl. § 1614 Abs. 1 BGB und BGH FamRZ
1986, 444; auch ein Teilverzicht ist unzulässig, vgl. OLG Hamm FamRZ 2010, 2000. Ein Elternteil
kann den anderen zwar im Innenverhältnis von der Unterhaltspflicht freistellen, der gesetzliche
Anspruch des Kindes bleibt von einer solchen Vereinbarung jedoch unberührt, vgl. BGH FamRZ
1986, 444; OLG Stuttgart NJW-RR 2007, 151; OLG Hamm FamRZ 1999, 163.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
48 / 79
Vereinbarung) oder ganz abbedungen und eigenständig vertraglich geregelt werden (novierende Vereinbarung).[179] Der individuellen Regelung zugänglich sind letztlich alle Aspekte des Unterhaltsrechts, insbesondere die Art und Weise der Gewährung, die Grundlage
der Berechnung und die Höhe des Unterhalts.[180] Unterhaltsansprüche können zeitlich
befristet werden.[181] Auch ein vollständiger Verzicht ist grundsätzlich möglich.[182]
b. Vertragliche Vereinbarungen bei nicht formalisierter
Lebensgemeinschaft
Das Recht nichtehelicher und nichtlebenspartnerschaftlicher Gemeinschaften, ihre Angelegenheiten vertraglich zu regeln, ergibt sich aus ihrer Vertragsfreiheit, die wiederum ihrer
verfassungsrechtlich geschützten Privatautonomie entspringt (Art. 2 Abs. 1 GG). Hier liegt
die verfassungsrechtliche Grenze naturgemäß nicht im besonderen staatlichen Schutz der
Ehe, sondern in den allgemeinen Grenzen der Vertragsfreiheit, insbesondere der Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB) sowie des Prinzips von Treu und Glauben (§ 242 BGB).[183] Inhaltlich unterscheidet sich die Kontrolle partnerschaftlicher Vereinbarungen wenig von der
Kontrolle von Eheverträgen. Auch hier geht es darum, den strukturell unterlegenen Teil vor
einer unangemessenen Übervorteilung zu schützen.[184] Im Einzelnen ist hier vieles noch
ungeklärt oder umstritten. Grundsätzlich sind insbesondere folgende Arten von Vereinbarungen möglich:
(1) Für die Zeit des Zusammenlebens können vermögensrechtliche Fragen geklärt werden, etwa ob größere Vermögensgegenstände gemeinschaftlich erworben werden oder im
jeweils getrennten Eigentum verbleiben.[185] Eine gemeinschaftliche Eigenheimfinanzierung kann beispielsweise auf diese Art vertraglich abgesichert werden.
(2) Für die Zeit nach der Trennung kann beispielsweise vereinbart werden, dass die Regeln
über den nachehelichen Zugewinnausgleich gelten sollen.[186]
179 Hammermann, in: Johannsen/Henrich, Familienrecht, 6. Aufl. 2015, § 1585c Rn. 16.
180 BVerfG FAmRZ 2004, 601 (604); BGH FamRZ 2012, 699 (700); Hammermann (Fn. 179), § 1585c
Rn. 16.
181 Hammermann (Fn. 179), § 1585c Rn. 24; Maurer, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl.
2013, § 1585c Rn. 16.
182 BGH FamRZ 2014, 629 (632); Gernhuber/Coster-Waltjen (Fn. 117), § 30 Rn. 176; Maurer (Fn.
181), § 1585c Rn. 21.
183 Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 25.
184 Dethloff (Fn. 155), S. A 140 ff.
185 Gernhuber/Coster-Waltjen (Fn. 117), S. 501.
186 Gernhuber/Coster-Waltjen (Fn. 117), S. 501; Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 54.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
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(3) Auch gegenseitige Unterhaltsansprüche oder Abfindungen für den Fall der Auflösung
der Partnerschaft können festgelegt werden.[187] Solche Abreden für die Zukunft sind
allerdings – anders als im Ehe- und Lebenspartnerschaftsrecht – schenkungssteuerpflichtig.[188] Zudem dürfen sie anderweitige gesetzliche Unterhaltsansprüche, etwa aus einer
früheren oder noch bestehenden Ehe, nicht beeinträchtigen.[189]
(4) Vertretungs- und Informationsrechte für den Fall der Krankheit, Bewusstlosigkeit und
den Todesfall können mit den Instrumenten der Patientenverfügung (§§ 1901a ff. BGB),
der Betreuungsverfügung (§ 1897 Abs. 4 BGB) sowie der Vorsorgevollmacht bestimmt
werden.[190] Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht bedürfen der Schriftform (§§
1901a Abs. 1 S. 1, 1905 Abs. 5 BGB); alle diese Erklärungen sollten aber der Rechtssicherheit halber notariell beurkundet werden.[191] Die Vorsorgevollmacht kann zusätzlich
in das zentrale Vorsorgeregister bei der Bundesnotarkammer eingetragen werden.
(5) Erbrechtliche Verfügungen können durch abgesprochene Einzeltestamente oder aber
durch einen gemeinsamen Erbvertrag geregelt werden.[192] Anders als bei der Ehe erlischt ein Erbvertrag allerdings nicht automatisch, wenn die Partnerschaft endet (vgl. §
2077 BGB),[193] muss nach einer Trennung folglich aufgehoben bzw. abgeändert werden.
Nicht vertraglich vereinbart werden können gesetzlichen Vergünstigungen für Ehe- und
Lebenspartner_innen wie das Recht, einen gemeinsamen Namen zu tragen, das Recht der
Zeugnisverweigerung, die beitragsfreie Mitversicherung in der Kranken- und Pflegeversicherung oder steuerliche Vorteile wie das Ehegattensplitting. Gesetzliche Unterhaltspflichten gegenüber Dritten sowie das gesetzliche Pflichtteilsrecht im Erbfall können vertraglich
ebenfalls nicht modifiziert werden.
4. Alternative Regelungsmodelle
Die bestehende Rechtslage der nicht formalisierten Lebensgemeinschaften ist unübersichtlich und inkonsistent. Zwar gibt es die Möglichkeit, einen Partnerschaftsvertrag zu
schließen und der Paarbeziehung damit auch ohne Ehe oder Lebenspartnerschaft einen
rechtlich verbindlichen Rahmen zu schaffen, doch werden diese Instrumente nach empi-
187 Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 37.
188 Wellenhofer (Fn. 15), Rn. 37; Muscheler (Fn. 13), Rn. 496.
189 Schwab (Fn. 105), Rn. 990; Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 49 f.
190 Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 48.
191 Kristic, in: Schulze/Grziwotz/Lauda, BGB, Vertrags- und Prozessformularbuch, 2. Aufl. München
2014, § 164 BGB Rn. 95.
192 Gernhuber/Coster-Waltjen (Fn. 117), S. 502.
193 OLG Celle, FAmRZ 2004, 310. Für analoge Anwendung der eherechtlichen Vorschrift Wellenhofer
(Fn. 9), Rn. 50.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
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rischen Erkenntnissen nur von sehr wenigen Paaren genutzt.[194] Angesichts der engen
wirtschaftlichen Verflechtungen in vielen faktischen Lebensgemeinschaften, in denen
gemeinsam gewirtschaftet wird, in denen Kinder aufwachsen und Partner_innen zugunsten
von Care-Arbeit auf Erwerbstätigkeit und berufliche Weiterentwicklung verzichten, kann
die Absicherung der Partner_innen in faktischen Lebensgemeinschaften nicht der Privatautonomie überlassen bleiben, sondern bedarf gesetzlicher Regelungen.[195] Dabei steht
das Recht vor der Schwierigkeit, einerseits die strukturell und wirtschaftlich schwächere
Partei wirksam zu schützen, andererseits aber der Vielfalt der Lebensverhältnisse gerecht
zu werden und die Freiheit der Lebensgestaltung nicht unnötig einzuschränken.
a. Grundsätze für ein Recht der faktischen
Lebensgemeinschaften
Die maßgeblichen Grundsätze, denen eine Neuregelung des Rechts der nicht formalisierten
Paargemeinschaft genügen sollten, sind folgende:
(1) Alle Leistungen, die einen Ausgleich für die Betreuung von Kindern verschaffen sollen,
sind für alle Kinder gleich auszugestalten. Der Kindesunterhalt und der Unterhalt wegen
der Betreuung eines Kindes müssen daher unabhängig von der Art der Elternbeziehung
ausgestaltet werden. Dieser Grundsatz ist im deutschen Recht weitgehend umgesetzt.
(2) Die faktische Partnerschaft sollte im Außenverhältnis so behandelt werden, dass wirtschaftliche Be- und Entlastung in einem angemessenen Verhältnis stehen. Insbesondere
sozial- und steuerrechtliche Regelungen sind daher sorgfältig aufeinander abzustimmen.
(3) Wo Paare sich im Innenverhältnis gemeinsam für eine bestimmte Rollenverteilung
entscheiden, tragen sie auch nach Auflösung der Partnerschaft gemeinsam Verantwortung
für die Folgen dieser Entscheidung. Das Recht muss daher Mechanismen bereithalten, die
einen Ausgleich dafür bieten, wenn sich während der gemeinsamen Zeit erhebliche wirtschaftliche Unwuchten ausgebildet haben.
(4) Aus dem Fehlen einer vertraglichen Regelung darf nicht ohne Weiteres darauf geschlossen werden, dass eine rechtliche Bindung nicht gewollt ist.[196] Auf der anderen Seite
aber sind Paare, die ausdrücklich auf rechtlichen Schutz verzichten, in dieser Entscheidung ernst zu nehmen. Wo ein Nichtehelichenrecht also an das Bestehen einer faktischen
Lebensgemeinschaft Folgen knüpft, muss es die Möglichkeit geben, sich verbindlich gegen
diese Folgen zu entscheiden (Opt-Out).
194 Dethloff (Fn. 155), S. A 20 spricht von etwa 10% aller faktischen Paargemeinschaften, die
vertragliche Regelungen getroffen haben.
195 Dethloff (Fn. 155), S. A 41.
196 Vgl. Dethloff (Fn. 155), S. A 137 f.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
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In vielen europäischen und außereuropäischen Staaten sind in diesem Kontext den letzten
Jahren sehr unterschiedliche rechtliche Regelungen geschaffen worden. Dabei können zwei
Modelle unterschieden werden: Man kann die Rechtswirkungen, die an faktisches Zusammenleben geknüpft werden, erweitern, systematisieren und gesetzlich ausdrücklich regeln
(unten b). Die Alternative ist, ein neues Rechtsinstitut neben Ehe und Lebenspartnerschaft
zu schaffen, mit dem die Partner_innen ihr Zusammenleben auf eine rechtlich verbindliche
Grundlage stellen können (unten c).
b. Modell 1: Erweiterte Rechtswirkungen der nicht
formalisierten Lebensgemeinschaft (Opt Out)
aa. Rechtsvergleichender Überblick
Einige europäische Staaten (u.a. Norwegen, Kroatien, Portugal, Schweden, Slowenien
und Spanien) sowie außerhalb Europas Neuseeland, Teile Australiens und einige Provinzen
Kanadas haben die Lebensverhältnisse nicht formalisierten Zusammenlebens umfassender geregelt als Deutschland, ohne diesen Lebensgemeinschaften damit aber den Status
eines weiteren formalisierten Rechtsinstituts neben Ehe und ggf. Lebenspartnerschaft zu
geben.[197] Anknüpfungspunkt für Rechtswirkungen ist in diesen Modellen das faktische
Zusammenleben, das zumeist eine gewisse Dauer von einem bis drei Jahren erreicht haben
muss; teilweise werden zusätzliche Kriterien aufgestellt.[198] In allen Fällen jedoch ist
keine Registrierung erforderlich, die Partnerschaft muss also nicht formalisiert werden,
um Rechtswirkungen zu entfalten.
Welche Rechtswirkungen eintreten (können), ist in den jeweiligen Rechtsordnungen unterschiedlich ausgestaltet. Sie betreffen beispielsweise güterrechtliche Regelungen für
die Zeit des Bestehens der Partnerschaft, sowie vermögensrechtliche Normen für den Fall
der Trennung oder auch gesetzliche Erbrechte. In einigen Staaten (Slowenien, Australien,
Neuseeland) werden die Normen des Eherechts mehr oder weniger weitreichend analog
angewendet, sofern die Voraussetzungen der nichtehelichen bzw. nichtpartnerschaftlichen
Lebensgemeinschaft vorliegen.[199] Demgegenüber hat Schweden die Rechtswirkungen
faktischen Zusammenlebens in einem eigenen Gesetz geregelt.[200] Den meisten dieser
Regelungen ist gemeinsam, dass das Bestehen einer faktischen Lebensgemeinschaft an objektivierbare Kriterien geknüpft wird, die Partner_innen jedoch die Möglichkeit haben, in
197 Vgl. für einen Überblick Dethloff (Fn. 155), S. A 35 ff.; Cottier (Fn. 103), S. 33; Wellenhofer (Fn.
9), Rn. 19 ff.
198 Cottier (Fn. 103), S. 33; Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 19.
199 Vgl. für Australien und Neuseeland Cottier (Fn. 103), S. 33; für Slowenien Wellenhofer (Fn. 9),
Rn. 19; Novak, in: Kroppenberg et al. (Hrsg.), Rechtsregeln für das nichteheliche Zusammenleben,
2008, S. 265 ff.
200 Vgl. Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 19.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
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einem individuellen Partnerschaftsvertrag auf die gesetzlichen Rechtsfolgen zu verzichten
(opt-out-Modell).[201]
In Deutschland hat die Bundestagsfraktion der Grünen 1997 ein derartiges Modell vorgeschlagen: Danach sollten an das faktische Zusammenleben gleich- wie verschiedengeschlechtlicher Partner_innen unter bestimmten Voraussetzungen Rechtswirkungen
geknüpft werden. Für weitere Vergünstigungen sollte Paaren zudem die Option gegeben
werden, sich als nichteheliche Lebensgemeinschaft registrieren zu lassen.[202] Für das
Schweizer Recht wurde im vergangenen Jahr ein Vorschlag vorgelegt, die faktische Lebensgemeinschaft gesetzlich zu definieren und eine Reihe von Rechtswirkungen des faktischen Zusammenlebens ausdrücklich zu normieren.[203]
bb. Verfassungsrechtliche Bewertung
Eine gesetzliche Regelung, die an das Bestehen einer faktischen Lebensgemeinschaft gewisse Rechtswirkungen knüpfen, begegnet keinen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen
Bedenken. Bei der Ausgestaltung eines solchen Modells wäre auf der einen Seite zu berücksichtigen, dass tatsächlich gelebte eheähnliche Solidarität im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) nur dann gegenüber Ehe und Lebenspartnerschaft
schlechter gestellt werden darf, wenn gerade die rechtliche Verfestigung der formalisierten
Partnerschaft dies sachlich rechtfertigt. Auf der anderen Seite ist zu bedenken, dass Paare,
die eine rechtlich verbindliche Gemeinschaft gerade nicht möchten, nicht gegen ihren Willen in eine solche gezwungen werden dürfen (Art. 2 Abs. 1 GG).
cc. Regelungsmöglichkeiten in Deutschland
Wollte man ein solches Modell in Deutschland etablieren, so müsste man zum einen die
faktische Lebensgemeinschaft definieren und zum anderen festlegen, welche Rechtsfolgen
an ihr Bestehen zu knüpfen sind.
(1) Gesetzliche Definition der faktischen Lebensgemeinschaft
Eine gesetzliche Regelung könnte sich an dem Modell orientieren, das Cottier für die
Schweiz vorgeschlagen hat.[204] Danach besteht eine faktische Lebensgemeinschaft dann,
wenn zwei Personen gleichen oder verschiedenen Geschlechts als Paar (bzw. nach anderen
Vorschlägen: in enger emotionaler Verbundenheit)[205] zusammenleben und mindestens
eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt ist:
1. Mindestdauer: Die Wirkungen der faktischen Lebensgemeinschaften können eintreten,
wenn ein Paar über eine bestimmte Zeit zusammenlebt. Hier sind längere oder kürzere
201 Cottier (Fn. 103), S. 33.
202 BT-Drs. 13/7228.
203 Cottier (Fn. 103), S. 35.
204 Cottier (Fn. 103), S. 35.
205 Vgl. Dethloff (Fn. 155), S. A 145.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
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Fristen denkbar, je nachdem, welche wirtschaftlichen Folgen an die Annahme einer faktischen Lebensgemeinschaft geknüpft werden. Cottier schlägt drei Jahre vor. Im europäischen Rechtsvergleich sind Fristen von einem Jahr bis drei Jahren üblich.[206]
2. Zusammenleben mit gemeinsamen Kindern: Lebt ein Paar mit gemeinsamen Kindern zusammen, kann man unterstellen, dass ihre Lebensverläufe organisatorisch wie wirtschaftlich eng verflochten sind und das Bedürfnis nach rechtlicher Absicherung ohne Einhaltung
einer Frist unmittelbar besteht.[207]
3. Faktische Solidarleistungen: In dem Vorschlag von Cottier findet sich als drittes Kriterium, dass die Partner_innen sich in erheblichem Ausmaß tatsächlich gegenseitig
wirtschaftlichen Beistand leisten. Auch dann sollen die Rechtswirkungen der faktischen
Lebensgemeinschaft ohne das Erfordernis einer Frist eintreten. Dieses Kriterium kann im
Innenverhältnis dann Wirkungen entfalten, wenn ein_e Partner_in der anderen bereits vor
dem Ablauf der Mindestfrist erheblich finanziell beisteht, etwa erhebliche Teile des Lebensbedarfs oder eine Ausbildung finanziert. Es kann aber auch dann eintreten, wenn die
Paargemeinschaft sozialrechtlich als Einstandsgemeinschaft behandelt wird (s.o.).
(2) Rechtsfolgen
Der Zuschnitt der Rechtsfolgen muss von dem Grundgedanken getragen sein, dass der
Zweck der gesetzlichen Regelung darin besteht, minimale Gerechtigkeitsbedingungen für
eine wechselseitige Solidaritätsbeziehung zu erreichen. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass die Beteiligten gerade keine Ehe bzw. Lebenspartnerschaft geschlossen haben. Es
fehlt eine förmliche Erklärung, dauerhaft füreinander einstehen zu wollen. Der wesentliche
Unterschied zur Ehe besteht demnach in der fehlenden Verpflichtung zu einer potentiell
lebenslangen Gemeinschaft. Dieser Unterschied muss sich im Recht niederschlagen. Die
Rechtsfolgen der faktischen Lebensgemeinschaft sollten sich daher drauf beschränken, die
soziale Nähe und wechselseitige Verantwortung für die Zeit des Bestands der Gemeinschaft
abzusichern (einschließlich klarer Regeln für die Abwicklung nach Trennung), auf die Regelung nachpartnerschaftlicher Solidarität jedoch verzichten. Im Einzelnen führt dies zu
folgenden Konsequenzen:
(1) Die Zeugnisverweigerungsrechte für Eheleute und Lebenspartner_innen sollten auf die
Partner_innen einer faktischen Lebensgemeinschaft ausgeweitet werden.
(2) Im Falle von Abwesenheit, Krankheit und Tod sollten faktische Partner_innen Auskunfts-, Informations- und Vertretungsrechte erhalten.
(3) Die Eheprivilegien bei der Erbschafts- und Schenkungssteuer sollten auch für faktische
Lebensgemeinschaften gelten.
206 Vgl. Dethloff (Fn. 155), S. A 146.
207 Vgl. Dethloff (Fn. 155), S. A 146.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
54 / 79
(4) Was die übrigen steuerlichen Entlastungen betrifft, sollte eine Reform des Nichtehelichenrechts mit einer grundlegenden Reform des Ehe- und Familiensteuerrechts einhergehen, in der insbesondere das Ehegattensplitting in seiner bisherigen Form abgeschafft
wird. Eine Ausweitung auf die faktische Lebensgemeinschaft kann nicht empfohlen werden.
(5) Da das Bestehen der faktischen Lebensgemeinschaft ausdrücklich das Bestehen einer
tatsächlichen (und nicht nur vermuteten) Verantwortungsgemeinschaft voraussetzt, würde
sie sozialrechtlich als Einstandsgemeinschaft behandelt werden, also gegenseitige finanzielle Beistandspflichten begründen. Die Voraussetzungen der Bedarfs- und Einstandsgemeinschaft sollten an die Definition der nichtehelichen Lebensgemeinschaft angepasst werden. Eine in sich konsistente Regelung müsste die sozialrechtlichen Beistandspflichten mit
Ansprüchen im Innenverhältnis und steuerrechtlichen Entlastungen absichern. Faktische
Lebenspartner_innen müssten also gegenseitige Ansprüche auf Beistand in finanzieller Not
geltend machen und tatsächliche Unterhaltsleistungen steuerlich absetzen können. Demgegenüber sollten Stiefkinder sozialrechtlich nur dann in die Bedarfsgemeinschaft mit ihrem
Stiefelternteil gerechnet werden, wenn der Stiefelternteil tatsächlich Unterhalt leistet.
(6) Dies impliziert, dass faktische Lebenspartner_innen einander während des Bestands der
Lebensgemeinschaft unterhaltspflichtig sein müssten. Für die Zeit nach der Trennung hingegen sind keine Unterhaltsansprüche unter den erwachsenen Partner_innen vorzusehen,
sofern keine gemeinsamen Kinder zu betreuen sind. Für den Fall, dass nach der Trennung
gemeinsame Kinder zu betreuen sind, gibt es bereits Regelungen zum Kindes- und Betreuungsunterhalt, die aufrecht erhalten werden müssten.
(7) Notwendig erscheint es demgegenüber, für die Zeit nach der Trennung einen güterrechtlichen Ausgleich vorzunehmen. Die Regeln des ehelichen Güterrechts entsprechend
anzuwenden, wäre regelungstechnisch einfach, verfehlte aber vermutlich die Bedürfnisse
vieler faktischer Lebensgemeinschaften. Der eheliche Zugewinnausgleich nimmt die Vermögenslage bei der Eheschließung zum Ausgangspunkt – ohne eine förmliche Registrierung der Partnerschaft fehlt bei der faktischen Gemeinschaft schon dieser konkrete Zeitpunkt. In der Lebenswirklichkeit entwickeln sich faktische Lebensgemeinschaften zumeist
schrittweise in eine immer engere Verbindung, so dass ein klarer «Startpunkt» für den
Vermögensausgleich kaum zu ermitteln ist. Sinnvoller scheint es deswegen, an die bisherige Rechtsprechung zu den nachpartnerschaftlichen Ausgleichsansprüchen anzuknüpfen
und diese gesetzlich klar zu regeln. Solche Ansprüche müssten für erhebliche Zuwendungen
materieller und immaterieller Art gelten und sollten in der Form einer einmaligen Geldzahlung ausgeglichen werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, einen Ausgleich nicht nur
wie bisher für finanzielle Zuwendungen und Arbeitsleistungen im engeren Sinne (Mitarbeit
im Betrieb, gemeinsamer Hausbau) vorzusehen, sondern auch für Care-Leistungen, also die
Betreuung von Kindern und pflegebedürftigen Angehörigen.
(3) Schriftlicher Opt-Out
Schon aus verfassungsrechtlichen Gründen (s.o.) wäre des Weiteren eine gesetzliche
Möglichkeit zu schaffen, die Rechtsfolgen des faktischen Zusammenlebens einvernehmlich
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
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auszuschließen (Opt-Out).[208] Die Anforderungen an diese Erklärung müssten möglichst
niedrigschwellig gehalten werden. Wie beim Testament sollte eine schriftliche und eigenhändig (hier: von beiden Partner_innen) unterschriebene Erklärung genügen. Daneben sollte die Möglichkeit bestehen, eine solche Erklärung notariell beurkunden zu lassen.[209]
c. Modell 2: Das faktische Zusammenleben als (neues)
formalisiertes Rechtsinstitut (Opt-in, Solidaritätspakt)
aa. Rechtsvergleichende Überlegungen: das Modell PACS (Frankreich)
Der Prototyp für das Modell einer registrierten Partnerschaft außerhalb der Ehe ist der
französische pacte civil de solidarité (PACS), der 1999 in den Code Civil (CC) eingeführt
wurde.[210] Der PACS steht zwei Personen gleichen oder verschiedenen Geschlechts offen, um ihr Zusammenleben zu organisieren (Art. 515-1 CC). Parallel können in Frankreich
mittlerweile gleich- wie verschiedengeschlechtliche Paare die Ehe eingehen. Der PACS
wird anders als ursprünglich intendiert überwiegend von verschiedengeschlechtlichen
Lebensgemeinschaften genutzt – im Jahr 2013 waren es 95% der Neugründungen.[211]
Mittlerweile haben 41% aller formalisierten Paarbeziehungen die Form des PACS.[212]
Neben Eheleuten und Angehörigen eines PACS gibt es aber weiterhin rein faktische Lebensgemeinschaften.[213]
Berechtigt, einen PACS zu schließen, sind volljährige Personen, die nicht anderweitig verheiratet sowie nicht miteinander verwandt sind (515-2 CC). Der französische Verfassungsrat (Conseil Constitutionel) hat ihn unter der Prämisse für verfassungsmäßig erklärt, dass
zwischen den PACS-Schließenden eine Paarbeziehung besteht («vie de couple»).[214]
Der PACS wird durch Erklärung gegenüber dem Amtsgericht oder einem Notar begründet.
Während seines Bestehens begründet er gegenseitige Beistands- und Unterstützungspflichten der Partner_innen (Art. 515-4 I Code Civil – CC) sowie sozialrechtliche Einstandspflichten bei Krankheit und Arbeitslosigkeit (Art. 161-14 Code de la securité sociale).
Er verleiht den Partner_innen Auskunfts- und Besuchsrechte im Krankheitsfall und ein
Eintrittsrecht in den Mietvertrag. Nach drei Jahren können die Partner_innen des PACS
auf ihren Wunsch wie Eheleute besteuert werden. Aufgelöst wird der PACS durch einver-
208 Cottier (Fn. 103), S. 36; Dethloff (Fn. 155), S. A 151.
209 Vgl. Dethloff (Fn. 155), S. A 151 f.
210 auch Belgien seit 2008: Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 20. Zum PACS Ferrand, in: Kroppenberg et al.
(Hrsg.), Rechtsregeln für das nichteheliche Zusammenleben, 2008, S. 135 ff.
211 Vgl. Bericht des Schweizer Bundesrates „Modernisierung des Familienrechts“, März 2015, S. 30.
212 Ebd.
213 Vgl. Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 21.
214 Conseil Constitutionel, 09.11.1999, Nr. 99-415 DC, § 26.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
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nehmliche oder einseitige schriftliche Erklärung vor dem Amtsgericht. Er begründet keine
nachpartnerschaftlichen Unterhaltsansprüche.
Der PACS wird als Modell auch in anderen Ländern diskutiert. Am 22.10.2015 trat in
Chile ein neuer Zivilstand für gleich- wie verschiedengeschlechtliche Paare in Kraft (Acuerdo de Union Civil, AUC), der ähnliche Rechtswirkungen wie der PACS entfaltet.[215]
Im Unterschied zu diesem sieht der AUC allerdings begrenzte Unterhaltsansprüche für die
Zeit nach der Partnerschaft vor, wenn ein_e Partner_in wegen der Betreuung gemeinsamer
Kinder auf Erwerbstätigkeit verzichtet hat (Art. 27). In der Schweiz hat der Bundesrat
einen Prüfauftrag formuliert, ob ein Ziviler Solidaritätspakt nach dem Modell des PACS
die Rechtslage der nicht formalisierten Lebensgemeinschaften („Konkubinate“) verbessern
kann.[216]
bb. Verfassungsrechtliche Bewertung
Hinsichtlich dieser Alternative, ein neues formalisiertes Rechtsinstitut mit anderen Rechtswirkungen als der Ehe zu schaffen, ist die Vereinbarkeit mit dem besonderen Schutz der
Ehe gem. Art. 6 Abs. 1 GG fraglich. Allerdings verbietet diese Norm dem Gesetzgeber
nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerade nicht, andere Formen des
Zusammenlebens zu fördern, sofern sie nicht besser gestellt werden als die Ehe.[217] Ein
Institut wie der PACS, der die Partner_innen deutlich geringer absichert und insbesondere
eine nachpartnerschaftliche Solidarität nicht oder nur in engen Grenzen vorsieht, verletzt
demnach nicht den besonderen Schutz der Ehe gem. Art. 6 Abs. 1 GG. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen ein solches neues Rechtsinstitut bestehen insofern nicht. Ansprüche der registrierten Partner_innen auf Gleichstellung mit Ehe und Lebenspartnerschaft
könnte man verfassungsrechtlich damit begegnen, dass die Partner_innen sich bewusst für
die niedrigschwelligere Einrichtung entschieden haben und jederzeit heiraten oder eine
Lebenspartnerschaft eingehen könnten, wenn sie den umfassenden Schutz dieser Rechtsinstitute wünschen.
cc. Regelungsmöglichkeiten eines zivilrechtlichen Solidaritätspaktes in
Deutschland
(1) Voraussetzungen
Ein zivilrechtlicher Solidaritätspakt könnte von den Voraussetzungen her in Deutschland
ähnlich geregelt werden wie in Frankreich: Sie könnte möglich sein, wenn zwei Personen
(nicht notwendig räumlich) zusammenleben und dies rechtlich absichern möchten. Im Einzelnen könnten die Voraussetzungen folgendermaßen ausgestaltet werden:
215 Ley No. 20830 que crea el acuerdo de union civil“ v. 13.04.2015
216 Bericht des Schweizer Bundesrates (Fn. 211), S. 32.
217 BVerfGE 105, 313 (342 f.); skeptisch Kroppenberg, in: dies. et al. (Hrsg.), Rechtsregeln für das
nichteheliche Zusammenleben, 2008, S. 43 ff., 47 f.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
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(a) Der Solidaritätspakt sollte der besonderen emotionalen Verbundenheit in privaten
Nahbeziehungen Rechnung tragen und sich klar von reinen Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaften abgrenzen. Voraussetzung sollte daher eine Paargemeinschaft im Sinne einer
engen emotionalen (nicht notwendig sexuellen) Verbundenheit und dem Willen zu gegenseitigem Beistand sein. Die Ausweitung auf Mehrpersonengemeinschaften kann derzeit nicht
empfohlen werden.
(b) Die Begründung einer registrierten Partnerschaft neben Ehe oder Lebenspartnerschaft
sollte ausgeschlossen werden, um komplizierte Mehrpersonengeflechte zu verhindern.
(c) Auch in gerader Linie Verwandte und Geschwister sollten keinen Solidaritätspakt
begründen können, da deren Verwandtschaftsverhältnisse schon anderweitig gesetzlich
geregelt sind.
(2) Verfahren
Wie der PACS sollte ein zivilrechtlicher Solidaritätspakt formlos registriert und unter einfachen Bedingungen wieder aufgelöst werden können. Gerade die einfache Auflösung wird
in Frankreich als erheblicher Vorteil dieses Rechtsinstituts gegenüber der Ehe angesehen.
(3) Rechtsfolgen
Hinsichtlich der Rechtsfolgen bestehen erhebliche politische Gestaltungsmöglichkeiten. Im
Folgenden werden daher drei Modelle vorgeschlagen, in denen die soziale und wirtschaftliche Verflechtung der Partner_innen unterschiedlich eng ausgestaltet wäre.
(a) Eine minimale Lösung wäre eine Registrierung nur für den Schutz der intimen Beziehung nach außen. Mit der Registrierung erhielten die Partner_innen wechselseitige Vertretungsrechte im Not- und Krankheitsfall sowie die damit einhergehenden Auskunfts- und
Informationsrechte. Die minimale Lösung deckt damit in etwa das ab, was heute schon
durch Patientenverfügungen, Betreuungs- und Vorsorgevollmachten verfügt werden kann,
böte hierfür aber ein typisiertes Rechtsinstitut, das zentral registriert würde (ähnlich dem
bereits bestehenden Vorsorgevollmachtsregister). Gegenseitige finanzielle Verpflichtungen
würden nicht begründet, und auch die Annahme einer sozialrechtlichen Einstandsgemeinschaft wäre ohne weitere Indizien für gemeinsames Wirtschaften nicht gerechtfertigt.
Wohl aber könnte die Registrierung den Zugang zu den gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrechten schaffen.
(b) Eine mittlere Lösung könnte dieselben Rechtsfolgen wie Modell 1 vorsehen. Wie Lebenspartner_innen sollten die Partner_innen eines Solidaritätspakts gesetzlich den Status
als Familienangehörige erhalten.
(c) Eine große Lösung könnte für den güterrechtlichen Ausgleich die Regelungen für Ehe
und Lebenspartnerschaft entsprechend anwenden, da durch die Registrierung wie bei
Ehe und Lebenspartnerschaft ein Stichtag für die ursprünglichen Vermögensverhältnisse
vorhanden wäre. Auch der Versorgungsausgleich könnte für den Solidaritätspakt geöffnet
werden.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
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Neben dem Solidaritätspakt wäre eine für alle Paare geöffnete Ehe dann das Modell einer
auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft, die über das Unterhaltsrecht und die Witwenund Witwerrente begrenzte Solidaritätspflichten auch für die Zeit nach der Partnerschaft
vorsieht. Alle diese Modelle ließen sich wie bisher vertraglich abändern, soweit der interne
Ausgleich zwischen den Partner_innen betroffen ist. Man käme auf diese Weise zu einem
Stufenmodell aus mehreren typisierten Vertragsmodellen und hoher Flexibilität für individualisierte Lösungen.
(4) Bedenken
Gegen die Einführung einer registrierten Lebensgemeinschaft neben der Ehe können einige
Bedenken geltend gemacht werden. Der Ausschluss nachehelichen Partnerunterhalts könnte zu Lasten von Personen gehen, die zugunsten von Care-Tätigkeiten (Kinderbetreuung,
Pflege, Haushaltsführung) auf Erwerbsarbeit und/oder berufliche (Weiter-)Qualifikation
verzichten. Der wirtschaftlich stärkere und damit strukturell mächtigere Teil einer Lebensgemeinschaft könnte darauf dringen, statt einer Ehe einen Solidaritätspakt abzuschließen, um nachpartnerschaftliche Versorgungsansprüche auszuschließen. Allerdings hat er
vergleichbare Möglichkeiten auch nach geltendem Recht, indem er entweder keine Ehe/
Lebenspartnerschaft eingeht oder auf einem Ehevertrag besteht, der nachpartnerschaftlichen Unterhalt ausschließt. Im Übrigen sind die Ansprüche auf Ehegattenunterhalt schon
mit der Unterhaltsrechtsreform von 2007 stark reduziert worden, so dass auch eine Ehe/
Lebenspartnerschaft heutzutage nicht mehr im Vertrauen auf eine lebenslange Versorgung
geschlossen werden kann.
Gesellschaftspolitisch führt der Verzicht auf nachpartnerschaftliche Unterhaltsansprüche
dazu, dass die Verantwortung für private Abhängigkeits-Arrangements aus dem privaten
Raum in das öffentliche Sozialleistungssystem verlagert wird. Diese Tendenz wird unterschiedlich bewertet. Man kann sie begrüßen, weil sie Menschen weniger abhängig von
anderen Menschen macht. Jedoch trägt dann am Ende die Folgen einer privaten Entscheidung für das traditionelle Alleinverdienermodell die Gemeinschaft und nicht die Person, die
dadurch faktisch entlastet wurde.
Das größte praktische Problem einer registrierten Partnerschaft neben der Ehe/Lebenspartnerschaft liegt jedoch darin, dass auch neben einem solchen Modell weiter faktische Lebensgemeinschaften bestehen werden, die sich nicht registrieren lassen. Für diese
Gemeinschaften bleibt es bei den Gerechtigkeitsproblemen, die faktische Partnerschaften
heute erleben. Eine Reform, mit der ein ziviler Solidaritätspakt geschaffen wird, kann
folglich nicht alle tatsächlich gelebten Solidargemeinschaften absichern, während das oben
genannte Modell 1 jede Gemeinschaft erfasst, die unter die gesetzlichen Voraussetzungen
fällt.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
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d. Kombinationsmodell
Bedenkenswert ist daher die Kombinationslösung, die im Jahr 1997 von der Bundestagsfraktion der Grünen vorgeschlagen wurde. Darin war wie in Modell 1 eine gesetzliche
Definition der faktischen Lebensgemeinschaft vorgesehen, an deren Erfüllung verschiedene
Rechtsfolgen geknüpft waren. Zu Beweiszwecken sollte es möglich gemacht werden, sich in
einer notariell beurkundeten Erklärung selbst zu einer faktischen Lebensgemeinschaft zu
erklären.[218] Diese notarielle Beurkundung könnte durch eine Registrierung beim Standesamt ersetzt werden. Man käme dann zu einem erweiterten Stufenmodell:
–– Stufe 1: Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen der faktischen Lebensgemeinschaft. Rechtsfolgen wie in Modell 1 beschrieben.
–– Stufe 2: Registrierte Partnerschaft wie in Modell 2 mit einer Variante der dort beschriebenen Rechtsfolgen.
–– Stufe 3: Die Ehe mit den heutigen Rechtswirkungen, die für alle Paare geöffnet werden sollte.
218 BT-Drs. 13/7228.
III.
Die Rechtslage nicht formalisierter («faktischer») Lebensgemeinschaften
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IV. Eltern-Kind-Beziehungen
Elternschaft bezeichnet eine Verwandtschafts- und eine Verantwortungsbeziehung. Beides
kann, muss aber nicht zusammenfallen. Betrachtet man die Rechtsverhältnisse zwischen
Eltern und Kindern, muss man deswegen zwischen abstammungs- und sorgerechtlichen Aspekten differenzieren: Das Abstammungsrecht regelt, welche Person aus welchen Gründen
und in welchen Verfahren einem Kind rechtlich als Elternteil zugeordnet wird. Das Sorgerecht umfasst Befugnisse und Pflichten, ein Kind zu pflegen und zu erziehen. Nicht jeder
Elternteil, der dem Kind rechtlich als Elternteil zugeordnet ist, hat auch ein Sorgerecht.
Und nicht jede Person, die faktisch für ein Kind sorgt, ist rechtlicher Elternteil.
Des Weiteren muss zwischen leiblicher, rechtlicher und sozialer Elternschaft unterschieden
werden: Leibliche Elternschaft bezeichnet ein biologisches Abstammungsverhältnis. Rechtliche Elternschaft entsteht durch abstammungsrechtliche Zuordnung des Kindes zu einer
Person und Eintragung in die Geburtsurkunde. Soziale Elternschaft entsteht dadurch, dass
ein Mensch faktisch die Elternverantwortung für ein Kind übernimmt. Leibliche, rechtliche und soziale Elternschaft können zusammenfallen oder auf unterschiedliche Personen
verteilt sein. Rechtliche Elternschaft wiederum kann aus der leiblichen Verwandtschaft
oder einer sozialen Beziehung entstehen. So ist Mutter eines Kindes die Frau, die das Kind
geboren hat, von dem es also leiblich abstammt (§ 1591 BGB). Wird ein Kind in eine bestehende Ehe geboren, wird die Vaterschaft des Ehemannes vermutet (§ 1592 BGB), hier
gibt also die soziale Beziehung zunächst den Ausschlag für die rechtliche Zuordnung. Man
spricht in solchen Fällen von rechtlich-sozialer Elternschaft.
Anders als im Verhältnis erwachsener Partner_innen wird Elternschaft in Ehen, Lebenspartnerschaften, nicht formalisierten Lebensgemeinschaften und Ein-Eltern-Familien
im deutschen Recht mittlerweile weitgehend gleich behandelt. Grundsätzliche Probleme
sind jedoch auf zwei Gebieten zu beobachten, auf denen das Recht nicht adäquat auf veränderte gesellschaftliche Bedingungen reagiert: der rechtlichen Zuordnung von Elternschaft
in Familien, die mit Hilfe medizinischer Reproduktionstechniken entstanden sind (1), und
den Lebensverhältnissen in Stieffamilien (2). In beiden Fällen geht es um die Frage, wie
mit multipler Elternschaft umgegangen werden soll, also mit dem Umstand, dass nach der
Geburt eines Kindes mehr als zwei Personen für die Elternrolle in Betracht kommen.
1. Elternschaft nach künstlicher Befruchtung
In Deutschland ist die künstliche Befruchtung nur in vergleichsweise engen Grenzen erlaubt: Methoden wie die Eizellspende und die Leihmutterschaft, die in anderen Staaten
legal sind, sind hierzulande nach dem Embryonenschutzgesetz verboten. Zulässig ist die
Insemination mit Spendersamen, die entweder homolog (Verwendung des Samens des
Wunschvaters) oder heterolog (Verwendung von Fremdsamen, auch «donogene Insemination» genannt) durchgeführt werden kann.
IV. Eltern-Kind-Beziehungen
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a. Ungleichbehandlungen beim Zugang zu medizinischen
Reproduktionstechniken und der Finanzierung künstlicher
Befruchtung
Die heterologe Samenspende wirft allerhand Rechtsprobleme auf, unter denen der unterschiedliche Zugang für gleich- und verschiedengeschlechtliche, formalisierte und nicht
formalisierte Lebensgemeinschaften bereits erwähnt wurde. Hinzu kommt, dass auch
Alleinstehende nach den Richtlinien der Bundesärztekammer nicht zum Kreis der Berechtigten für eine heterologe Samenspende gehören sollen. Diese abstrakten Festlegungen auf
bestimmte Lebensformen arbeiten mit generalisierenden Normalitätsvorstellungen und diskriminieren alle Menschen mit Kinderwunsch, die nicht verheiratet sind.[219] Hier wäre
dringend geboten, die Voraussetzungen für die Insemination in einem Fortpflanzungsgesetz
neu und diskriminierungsfrei zu regeln.[220]
Gleiches gilt für die Finanzierung von Leistungen der künstlichen Befruchtung: Ehepaaren wird nach § 27a SGB V die Hälfte der Kosten für drei Versuche von ihrer gesetzlichen
Krankenkasse erstattet. Zusätzlich werden 25% ihres Eigenanteils nach der Bundesförderrichtlinie vom Staat bezuschusst. Nach dieser Richtlinie erhalten seit dem 07.01.2016
auch nichteheliche Lebensgemeinschaften einen Zuschuss in Höhe von 12,5 % für die
ersten drei Behandlungen.[221] Für beide Lebensformen wird überdies ein vierter Versuch mit 25% der Selbstkosten gefördert. Gleichgeschlechtliche Paare und Alleinstehende
erhalten keine dieser Vergünstigungen. Aus gleichheitsrechtlicher Sicht ist diese Situation
unbefriedigend. Im System der GKV kann noch überzeugen, dass die künstliche Befruchtung nur dann zu finanzieren ist, wenn sie Ausdruck einer krankheitsbedingten Unfruchtbarkeit ist – dieser Nachweis müsste dann aber auch von Menschen geführt werden können, die in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben oder alleinstehend sind. Sobald
der Staat die künstliche Befruchtung bezuschusst, ist er an Art. 3 Abs. 1 GG gebunden. Das
Ziel des Bundeszuschusses ist nicht die Überwindung gesundheitlicher Probleme bei Wunscheltern, sondern sehr viel weitreichender, die Situation «kinderloser Frauen und Paare»
zu verbessern.[222] Um dieses Ziel zu erreichen, muss der Gesetzgeber nach den Vorgaben
des Art. 6 Abs. 1 GG alle (hier: angestrebten) Familienformen gleich behandeln. Für den
Ausschluss gleichgeschlechtlicher Paare und alleinstehender Frauen gibt es daher keine
sachliche Rechtfertigung.
219 Vgl. Helms, „Kinderwunschmedizin“ – Reformvorschläge für das Abstammungsrecht, in:
Coester-Waltjen/Lipp/Schumann/Veit (Hrsg.), „Kinderwunschmedizin“ – Reformbedarf im
Abstammungsrecht?, 2015, S. 47 ff. (48 f.).
220 Vgl. die Diskussionen und Vorschläge in Rosenau (Hrsg.), Ein zeitgemäßes Fortpflanzungsgesetz für
Deutschland, 2012.
221 Richtlinie des BMFSFJ über die Gewährung von Zuwendungen zur Förderung von Maßnahmen der
assistierten Reproduktion v. 29.03.2012, zuletzt geändert am 23.12.2015.
222 Vgl. Ziff. 1.2 der Bundesförderrichtlinie.
IV. Eltern-Kind-Beziehungen
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b. Der rechtliche Status der Wunscheltern und des
Samenspenders in der Inseminationsfamilie
Die heterologe Samenspende kann in Ehen ebenso stattfinden wie in nichtehelichen oder
lesbischen Lebensgemeinschaften oder auch von einer alleinstehenden Frau zur Gründung
einer intendierten Ein-Eltern-Familie in Anspruch genommen werden. Der Samenspender
wird durch die Insemination zum leiblichen, zunächst aber nicht zum rechtlichen Vater des
Kindes. Er kann die Vaterschaft anerkennen (§ 1592 Nr. 1 BGB) oder – nach nicht unumstrittener Rechtsprechung des BGH[223] – die Vaterschaft eines anderen Mannes anfechten (§ 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB). Sofern er die Vaterschaft nicht anerkennt und niemand
anders rechtlicher Vater wird, kann die Mutter sie gerichtlich feststellen lassen (§ 1600d
Abs. 1 BGB). Ist der Samenspender dem Kind durch Anerkennung, Anfechtung oder gerichtliche Feststellung als rechtlicher Vater zugeordnet, hat das Kind Unterhalts- und Erbansprüche und er selbst kann Sorge- und Umgangsrechte beanspruchen. Je nach Kontext
können diese Rechtswirkungen mehr oder weniger dem Willen der Beteiligten entsprechen.
Nach geltendem Recht haben jedoch weder der Samenspender noch die Wunscheltern die
Möglichkeit, ihre Mehr-Elternschaft nach ihren Vorstellungen auszugestalten.
aa. Die Freistellung des Samenspenders von der Vaterschaftsanfechtung
Wird ein Kind in eine bestehende Ehe geboren, wird die Vaterschaft des Ehemannes der
Mutter gesetzlich vermutet (§ 1592 Nr. 1 BGB). Für den Fall der künstlichen Befruchtung mit Fremdsamen regelt § 1600 Abs. 5 BGB, dass der Wunschvater und die Mutter
des Kindes die Vaterschaft des Ehemannes nicht anfechten können. Der Samenspender
wird also gesetzlich von den Rechten und Pflichten der Elternschaft freigestellt. Der Gesetzgeber ist, als er diese Vorschrift schuf, davon ausgegangen, dass der Samenspender
mit seiner Mitwirkung an der assistierten Reproduktion regelmäßig konkludent auf seine
rechtliche Vaterschaft und sein Anfechtungsrecht verzichtet.[224] Diese Regelvermutung
ist plausibel, da dem Samenspender in der Regel bekannt sein dürfte, dass seine Spende
einem anderen Elternpaar den Kinderwunsch erfüllen soll. Verfassungsrechtlich ist es nicht
bedenklich, diesen Verzicht für alle Beteiligten rechtlich abzusichern. Zwar hat das Kind
ein Grundrecht auf staatliche Gewährleistung der elterlichen Erziehung aus Art. 2 Abs.
1 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG.[225] Elternschaft muss jedoch nicht notwendig leiblich
vermittelt sein. Dem sozialen Kontext der Geburt und den zukünftigen sozialen Beziehungen des Kindes kann unter Umständen Vorrang vor der leiblichen Abstammung gegeben
werden, denn das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Kindes (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1
223 Vgl. BGH NJW 2013, 2589.
224 BT-Drs. 17/12163, S. 14.
225 BVerfGE 133, 159; Britz, Das Grundrecht des Kindes auf staatliche Gewährleistung elterlicher
Pflege und Erziehung, JZ 2014, S. 1069 ff.; Wapler, Kindeswohl und Kinderrechte. Eine
Untersuchung zum Status des Kindes im Öffentlichen Recht, 2015, S. 173.
IV. Eltern-Kind-Beziehungen
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GG) verlangt unter anderem auch den Schutz der primären sozialen Bindungen.[226] Die
Regelung des § 1600 Abs. 5 BGB wirft jedoch in anderen Hinsichten Probleme auf:
(1) Nicht ausgeschlossen ist die Anfechtung der Vaterschaft durch den Samenspender[227] und das Kind. Hinsichtlich des Samenspenders ist dies insofern inkonsequent, als
die gesetzliche Regelung gerade damit gerechtfertigt wird, dass der Samenspender selbst
auf seine Elternrechte verzichtet.[228] Das verbleibende Anfechtungsrecht des Kindes
könnte allenfalls wegen seines Rechts auf Kenntnis der genetischen Abstammung (Art. 2
Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG) geboten sein. Ein Recht auf Kenntnis bezieht sich jedoch auf Informationen, nicht auf eine Veränderung der Rechtslage. Das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung verpflichtet folglich dazu, dem Kind Auskunfts- und Informationsrechte über seine Erzeugung zur Verfügung zu stellen. Ein weitergehendes Recht darauf,
dem leiblichen Vater dann auch rechtlich zugeordnet zu werden, kann daraus nicht abgeleitet werden. Für das Informationsrecht des Kindes kann es sogar hinderlich sein, wenn
daraus ein Anfechtungsrecht erwächst. Die Sorge vor der Vaterschaftsanfechtung kann bei
den Wunscheltern dazu führen, dass sie dem Kind gar nicht erst erzählen, dass es im Wege
der Insemination gezeugt wurde. Rechtspolitisch sinnvoll wäre es daher, den Samenspender
ähnlich wie in Österreich (§ 148 Abs. 4 ABGB) – von allen Anfechtungsmöglichkeiten
freizustellen und auch ihm selbst diese Option zu verschließen.[229] Dies gilt jedenfalls
dann, wenn alle Beteiligten sich darauf geeinigt haben, dass die Wunscheltern das Kind
allein erziehen und der Samenspender daran nicht beteiligt wird.
(2) Außerhalb einer bestehenden Ehe gilt der Ausschluss der Anfechtung nach § 1600
Abs. 5 BGB nicht. In Lebenspartnerschaften und faktischen Lebensgemeinschaften gibt es
allerdings auch keine Elternschaftsvermutung im Sinne des § 1592 BGB. Hier müsste die
Freistellung des Samenspenders daher an die Bedingung geknüpft sein, dass die Wunscheltern und der Samenspender verbindlich erklären, dass die Wunscheltern die Erziehung
des Kindes allein übernehmen sollen. Entsprechende Vereinbarungen können schon jetzt
getroffen und notariell beglaubigt werden. Ob sie hingegen eine verbindliche Rechtswirkung
entfalten, ist in der zivilrechtlichen Literatur äußerst umstritten.[230] Vielfach werden
die Regeln des BGB über die Abstammung und die Vaterschaftsanfechtung für nicht abdingbar gehalten. Hier wäre eine gesetzliche Klarstellung hilfreich. Verfassungsrechtliche
226 Vgl. hierzu Wapler (Fn. 225), S. 509 f.
227 Für die Zulässigkeit eines solchen Anfechtungsverfahrens, auch wenn der Spender der Mutter nicht
im natürlichen Sinn „beigewohnt“ hat, neuerdings BGH NJW 2013, 2589.
228 BT-Drs. 17/12163, S. 14.
229 Vgl. Helms (Fn. 219), S. 49 f., 53 f.
230 Vgl. Schumann, Familienrechtliche Fragen der Fortpflanzungsmedizin des Grundgesetzes, in:
Rosenau (Hrsg.), Ein zeitgemäßes Fortpflanzungsgesetz für Deutschland,2012, S. 155-201 (181)
m.w.N.
IV. Eltern-Kind-Beziehungen
64 / 79
Bedenken bestehen nicht, sofern sich alle Beteiligten einig sind.[231] Lediglich bei der
Ein-Eltern-Familie ließe sich einwenden, dass man auf diese Weise dem Kind einen potentiell Unterhaltsverpflichteten raubt, da neben der leiblichen Mutter kein zweiter Elternteil in die Verantwortung eintritt. Wie weit man dieses Argument akzeptiert, hängt davon
ab, ob man die intendierte Ein-Eltern-Familie als grundsätzlich defizitär gegenüber der
Zwei-Eltern-Familie ansieht. Angesichts des Umstands, dass ein erheblicher Anteil von
Kindern seit jeher in Ein-Eltern-Familien aufwächst, dürfte außer Zweifel stehen, dass
diese Lebensform das Kindeswohl jedenfalls nicht gefährdet. In jedem Fall sollte die Gesetzgebung in dieser Frage konsequent sein: Öffnet man, wofür vieles spricht, den Zugang
zur Samenspende auch für alleinstehende Frauen, dann sollte die schriftliche und notariell
beglaubigte oder behördlich registrierte Erklärung, den Samenspender nicht an der Erziehung beteiligen zu wollen, auch zu einem Ausschluss der Möglichkeit der Vaterschaftsanerkennung oder -feststellung gegen den Willen der anderen Partei führen.
bb. Elternschaft in der gleichgeschlechtlichen Familie
Abstammungsrechtliche Probleme besonderer Art wirft des Weiteren die gleichgeschlechtliche Familie auf, wenn in ihr ein Kind im Wege der Samenspende erzeugt wird. Beteiligt
sind hier die leibliche Mutter des Kindes und die intendierte Co-Mutter sowie der Samenspender, der den Partnerinnen bekannt sein kann oder nicht. Neben der oben erörterten
Frage der Freistellung des Samenspenders ist hier weiter problematisch, wie die Co-Mutter
zu ihrer Elternstellung kommt. Nach der Geburt des Kindes ist sie mit diesem zunächst
nicht rechtlich verbunden. Zum rechtlichen Elternteil kann sie nur durch die Stiefkindadoption werden. Hier kann viel schiefgehen, insbesondere, wenn die Partnerinnen den Samenspender kennen. Dieser kann die Vaterschaft anerkennen und anschließend nicht in
die Stiefkindadoption einwilligen, mit der Konsequenz, dass er zum rechtlichen Vater des
Kindes wird und Sorge- und Umgangsrechte beanspruchen kann. Umgekehrt hat aber
auch der bekannte Samenspender keine Rechtssicherheit: Die leibliche Mutter kann seine
Vaterschaft gerichtlich feststellen lassen und Unterhaltsansprüche geltend machen. Diese Rechtsunsicherheit geht im Zweifel zu Lasten des Kindes. Dessen Recht auf staatliche
Gewährleistung der elterlichen Erziehung verlangt, dass ihm seine Eltern rechtlich verbindlich zugeordnet werden.[232] Vorbild für eine gesetzliche Regelung könnte Österreich
sein: Dort wird die Elternschaft der Lebenspartnerin gesetzlich vermutet, wenn ein Kind in
einer eingetragenen Partnerschaft im Wege der Samenspende erzeugt wurde (§ 144 Abs. 2
Nr. 1 ABGB). Leben die Partnerinnen in einer faktischen Lebensgemeinschaft, so kann die
Partnerin der Mutter die Elternschaft anerkennen (§ 144 Abs. 2 Nr. 2 ABGB). Die zweite
231 Wie hier Remus/Liebscher, Wohnst du noch oder sorgst du schon mit? – Das Recht des
Samenspenders zur Anfechtung der Vaterschaft, NJW 2013, S. 2558 ff. (2561); Schumann (Fn.
230), S. 197; dies., Elternschaft nach Embryoadoption, MedR 2014, S. 736 ff. In diese Richtung
auch BGH NJW 2013, 2589.
232 Vgl. BVerfGE 133, 59; Britz (Fn. 225); Schumann, Familienrechtliche Fragen (Fn. 230), S. 180 f.
IV. Eltern-Kind-Beziehungen
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Mutterschaft kann auch gerichtlich festgestellt werden (§ 144 Abs. 2 Nr. 3 ABGB). Eine
ähnliche Regelung ist auch für Deutschland zu empfehlen.
2. Ein-Eltern-Familien
Bei den Ein-Elternfamilien können zwei Formen unterschieden werden: die intendierte
Ein-Eltern-Familie einer alleinstehenden Person, die ein Kind von vornherein allein aufziehen möchte, und die im Alltag häufiger zu beobachtende Ein-Eltern-Familie nach Trennung, Scheidung oder Tod des Partners/der Partnerin. Im Jahr 2009 war fast jede fünfte
(19%) der in Deutschland lebenden Familien mit minderjährigen Kindern eine Familie
einer alleinerziehenden Mutter oder eines alleinerziehenden Vaters.[233] Zukünftig kann
mit einer weiteren Zunahme dieser Familienform gerechnet werden.[234]
a. Die intendierte Ein-Eltern-Familie
Alleinstehende Personen können Kinder adoptieren und auf diese Weise ohne Partner_in
Eltern werden (§ 1741 Abs. 2 S. 1 BGB). Im Schrifttum wird diese Möglichkeit allerdings
als defizitär gegenüber der Annahme durch zwei Personen angesehen. Der wesentliche
Grund dafür ist der Umstand, dass dem Kind nach einer solchen Adoption ein rechtlicher
Elternteil fehlt und es dadurch status-, unterhalts- und erbrechtlich weniger gut abgesichert ist als in der Zwei-Eltern-Familie.[235] Da aber jede Adoption eine sorgfältige Einzelfallprüfung voraussetzt (§ 1740 Abs. 1 S. 1 BGB), sind Ausnahmen zu diesem Grundsatz möglich. An dieser Stelle besteht kein Bedarf, das Gesetz zu ändern.
Anders ist dies für den Zugang zu der künstlichen Reproduktion zu werten: Während eheliche und nichteheliche verschiedengeschlechtliche Paare Kinder im Wege der ärztlich assistierten Insemination (Samenspende) erzeugen dürfen, bleibt dieser Weg alleinstehenden
Personen nach den Richtlinien der Bundesärztekammer ausnahmslos verschlossen. Diese
absolute Zugangssperre ist mit abstrakten Kindeswohlgründen nicht zu rechtfertigen. Im
Zuge einer umfassenden gesetzlichen Regelung der Fortpflanzungsmedizin sollte daher ein
diskriminierungsfreier Zugang alleinstehender Frauen zur Samenspende geschaffen werden.
233 Die Alleinerziehenden waren weit überwiegend (90%) die Mütter, vgl. Statistisches Bundesamt,
Alleinerziehende in Deutschland - Ergebnisse des Mikrozensus 2009, S. 14, https://www.destatis.
de/DE/PresseService/Presse/Pressekonferenzen-/2010/Alleinerziehende/pressebroschuere _
Alleinerziehende2009.pdf?
234 Ebd., S. 7.
235 Vgl. Maurer, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 1741 Rn. 46.
IV. Eltern-Kind-Beziehungen
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b. Die ökonomische Situation von Ein-Eltern-Familien
Das beherrschende Problem in Ein-Eltern-Familien ist das erheblich erhöhte Armutsrisiko.[236] Die geltende Rechtslage trägt zu diesem Problem in nicht unerheblicher Weise
bei bzw. schafft nicht in hinreichender Weise Abhilfe.
(1) Nicht immer bestehen Unterhaltsansprüche gegen einen anderen Elternteil bzw. werden sie bei Bestehen in voller Höhe durchgesetzt. Der staatliche Unterhaltsvorschuss
jedoch wird nur sechs Jahre lang innerhalb der ersten zwölf Lebensjahre des Kindes gezahlt. Für diese Beschränkung gibt es allenfalls fiskalische Gründe, die der Lebensrealität
in Ein-Eltern-Familien jedoch nicht hinreichend gerecht werden.
(2) Im Unterhaltsrecht sind seit der Reform von 2007 erhebliche Verschlechterungen zu
beobachten. Nach der sehr restriktiven Rechtsprechung wird bei alleinerziehenden Eltern
mit Kindern über drei Jahren regelhaft vermutet, dass sie in Vollzeit erwerbstätig sein
können. Mit der Lebenswirklichkeit kinderbetreuender Elternteile ist diese verordnete
Doppelbelastung vielfach nicht in Einklang zu bringen.[237] Hier sollten mit Hilfe einer
gesetzlichen Klarstellung die Kosten und Lasten der Kinderbetreuung gerechter als bisher
zwischen beiden Elternteilen aufgeteilt werden. Dazu müsste die Erwerbsverpflichtung des
überwiegenden betreuenden Elternteils reduziert und die Unterhaltspflicht des anderen
Elternteils entsprechend erhöht werden.[238]
(3) Im Sozialrecht besteht derzeit eine unübersichtliche Gemengelage unterschiedlicher
Förder- und Entlastungsinstrumente (Mehrbedarfszuschlag, Kinderzuschlag, Wohngeld,
Unterhaltsvorschuss), die teilweise nebeneinander in Anspruch genommen werden können,
teilweise gegeneinander aufgerechnet werden. Hier ist dringend zu fordern, ein übersichtliches Leistungssystem zu schaffen, mit dem der Mehraufwand in Ein-Eltern-Familien
wirksam kompensiert wird.[239]
(4) Eltern, die ihre Kinder allein erziehen, haben zwangsläufig einen höheren Betreuungsaufwand und sind daher in steuerrechtlicher Hinsicht weniger leistungsfähig.[240] Im
236 Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren im Jahr 2008 rund 36% der Personen, die
in Haushalten von Alleinerziehenden lebten; die Armutsgefährdung von Personen in Haushalten
mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern lag hingegen bei nur 8%, vgl. Statistisches Bundesamt,
Alleinerziehende in Deutschland - Ergebnisse des Mikrozensus 2009, https://www.destatis.
de/DE/PresseService/Presse/Pressekonferenzen-/2010/Alleinerziehende/pressebroschuere _
Alleinerziehende2009.pdf?
237 Vgl. Wapler, Kinderbetreuung und Erwerbsarbeit – Tendenzen in der neueren Rechtsprechung zum
Unterhaltsrecht, RdJB 2014, S. 36-58; Scheiwe/Wersig, Cash und Care – Kindesunterhaltsrecht
und Geschlechter(un)gleichheit, 2011.
238 Lenze, Alleinerziehende unter Druck. Rechtliche Rahmenbedingungen, finanzielle Lage und
Reformbedarf, 2014, S. 75.
239 Ausf. Lenze (Fn. 238), S. 70 ff.
240 BVerfGE 61, 319 (348).
IV. Eltern-Kind-Beziehungen
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geltenden Einkommenssteuerrecht wird dem durch einen Entlastungsbetrag für Alleinstehende i.H.v. 1.908 Euro für das erste und 240 Euro für jedes weitere zu ihrem Haushalt
gehörenden Kind Rechnung getragen.[241] Dieser Freibetrag kann von der Summe der zu
versteuernden Einkünfte abgerechnet werden, sofern dem Elternteil für das die Kinder ein
Freibetrag nach § 32 Abs. 6 EStG oder Kindergeld zusteht.
Steuerfreibeträge wirken sich in einem progressiven Steuersystem in höheren Einkommensklassen stets stärker aus als in niedrigen: Wird kein steuerpflichtiges Einkommen
erzielt, laufen Freibeträge ins Leere. Alleinerziehende Elternteile, die ihre Kinder selbst
betreuen und daher nicht oder nur begrenzt einer Erwerbstätigkeit nachgehen können,
profitieren daher nicht bzw. nur in geringem Umfang von dem Entlastungsbetrag. Dagegen
wirkt sich eine Erhöhung des Kindergeldes in niedrigeren Einkommensgruppen stärker aus
als in höheren. Diese sozialen Auswirkungen müssten bei einer Reform der Rechtslage von
Ein-Eltern-Familien berücksichtigt werden.
Bei erwerbstätigen Alleinerziehenden ist der Entlastungsbetrag in seiner derzeitigen Höhe
nicht geeignet, die Kluft zu Haushalten von Ehe- oder Lebenspartner_innen zu überwinden.
Das gilt selbst im Vergleich zu Einverdienerhaushalten. Denn im Vergleich zu zusammen
veranlagten Ehe- oder Lebenspartner_innen erhalten Alleinerziehende nicht den Vorteil
des Splittingtarifs, so dass sich bei ihnen kein Progressionsvorteil einstellt.[242] Außerdem profitieren sie nicht von dem doppelten Grundfreibetrag. Um den besonderen Situationen Alleinerziehender Rechnung zu tragen, sollte der Entlastungsbetrag daher spürbar
erhöht werden.[243]
c. Reformoptionen
Reformvorschläge zur Verbesserung der ökonomischen Situation von Ein-Eltern-Familien
sehen Veränderungen insbesondere in den folgenden Bereichen vor:[244]
–– Die Regeln des Betreuungsunterhalts (§§ 1570, 1615l BGB) sollten den tatsächlichen Aufwand der Kinderbetreuung in der Familie realitätsgerechter abbilden.
241 Die Zugehörigkeit zum Haushalt ist anzunehmen, wenn das Kind in der Wohnung des
alleinstehenden Steuerpflichtigen gemeldet ist.
242 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts soll es dem Gestaltungsspielraum des
Gesetzgebers überlassen bleiben, wie genau er der verminderten Leistungsfähigkeit von
Alleinerziehenden Rechnung trägt. Ein Zwang, den Splittingvorteil auf Alleinerziehende
auszudehnen, besteht nicht, BVerfGE 61, 319 (345); s. auch BFH, Beschl. v. 27.05.2013, Az.: III B
2/13; Beschl. V. 17. 10. 2012 – III B 68/12.
243 So spricht sich Lenze auf eine Erhöhung des Betrags auf die Hälfte des zweiten (bei
Alleinerziehenden nicht realisierten) Grundfreibetrags aus, vgl. Lenze (Fn 238), S. 54.
244 Vgl. Lenze (Fn 238), S. 75 ff.
IV. Eltern-Kind-Beziehungen
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–– Die zeitliche Begrenzung des staatlichen Unterhaltsvorschusses sollte aufgehoben
werden.
–– Im Recht der Sozialleistungen sollte der besondere Mehrbedarf Alleinerziehender
nicht gegen andere Sozialleistungen (Kinderzuschlag, Wohngeld) aufgerechnet werden.
–– Der steuerrechtliche Entlastungsbeitrag sollte spürbar erhöht werden.
Die Bundestagsfraktion Bündnis90/Die Grünen hat im März 2015 einen Entschließungsantrag zur Stärkung Alleinerziehender eingebracht, der neben diesen noch weitergehende
Reformvorschläge zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf (weiterer Ausbau der Kindertagesbetreuung, Verbesserung der Erwerbssituation Alleinerziehender) enthält.[245]
3. Mehr-Eltern-Modelle (intendierte und gewachsene
Stieffamilien)
Was aber, wenn mehr als zwei Personen übereinkommen, für ein Kind gleichberechtigt
sorgen zu wollen? Mehr-Eltern-Modelle können von vornherein angestrebt sein, etwa wenn
ein schwules und ein lesbisches Paar gemeinsam ein Kind zeugen und aufziehen möchten.
Häufiger ist allerdings der Fall, dass Mehr-Eltern-Modelle nach der Geburt des Kindes
entstehen, weil Elternpaare sich trennen und mit neuen Partner_innen verbinden. Solche
Stieffamilien gibt es wiederum in vielfältigen Zusammensetzungen und mit ganz unterschiedlichen Verteilungen der tatsächlichen Sorge. Stiefeltern können eine soziale Elternbeziehung zu dem Kind entwickeln oder aber an der Erziehung nicht nennenswert beteiligt
sein.
a. Die Zwei-Eltern-Theorie des Bundesverfassungsgerichts
und ihre Kritik
Das Bundesverfassungsgericht steht auf dem klaren Standpunkt, ein Kind könne nur zwei
Elternteile im verfassungsrechtlichen Sinne, also als Träger des Elternrechts aus Art.
6 Abs. 2 S. 1 GG, haben.[246] In der familien- und verfassungsrechtlichen Literatur wird
diese Zwei-Eltern-Theorie des Bundesverfassungsgerichts gelegentlich angezweifelt.[247]
Gegen sie wird angeführt, dass sie längst nicht mehr modernen Familienverhältnissen
entspreche. In der Tat ist die Realität vieler Familien von gespaltener Elternschaft geprägt,
245 BT-Drs. 18/4307.
246 BVerfGE 108, 82 (101).
247 Dethloff, Regenbogenfamilien. Der Schutz von Eltern-Kind-Beziehungen in gleichgeschlechtlichen
Partnerschaften, in: A. Söllner (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, 2005, S. 133 ff.
(142); Brosius-Gersdorf (Fn. 16), Art. 6 GG Rn. 150.
IV. Eltern-Kind-Beziehungen
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nicht zuletzt in den vielfältigen Formen der Stief- oder Patchworkfamilie. Wenn es darum geht, welche Personen Träger des verfassungsrechtlich geschützten Elternrechts sein
können, sind daher abgestufte Modelle der Elternverantwortung für mehr als zwei Personen durchaus denkbar. Auf der einfachrechtlichen Ebene sollte hier allerdings zwischen der
abstammungs- und sorgerechtlichen Ebene differenziert werden:
b. Die abstammungsrechtliche Ebene
Die abstammungsrechtliche Ebene betrifft die rechtliche Zuordnung einer Person als
Elternteil zu einem Kind. Hier ist Skepsis gegenüber Mehr-Eltern-Modellen angebracht.
Elternschaft ist eine Verantwortungsbeziehung, die zeitlich unbegrenzt besteht und grundsätzlich alle Belange des Kindes umfasst. Kinder brauchen Eltern, die sich voll für sie
verantwortlich fühlen und denen sie verlässlich zugeordnet sind. Verantwortung aber droht
entwertet zu werden, wenn sie auf zu viele Schultern verteilt wird. Könnte ein Kind drei
oder gar vier Elternteile haben, die ihm gleichberechtigt rechtlich zugeordnet sind und den
verfassungsrechtlichen Schutz des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG genießen, potenzierte sich das
schon im klassischen Zwei-Eltern-Modell nicht unerhebliche Konfliktpotenzial. Die einfachrechtliche Möglichkeit, drei oder mehr Elternteile in die Geburtsurkunde einzutragen
(z.B. die leibliche Mutter, ihren Ehemann und den Samenspender oder, in einer gleichgeschlechtlichen Konstellation, die leibliche und die annehmende Mutter, den Samenspender
und dessen als Mit-Vater vorgesehenen Lebenspartner), begegnet daher verfassungsrechtlichen Bedenken im Hinblick auf die Persönlichkeitsrechte des Kindes.[248]
c. Die Ausgestaltung der tatsächlichen Sorge
Diese Argumentation bezieht sich aber nur auf die rechtliche Zuordnung der Elternstellung, nicht auf die Ausgestaltung des Sorgerechts und der Umgangsbeziehungen. Auf der
einfachrechtlichen Ebene des Sorge- und Umgangsrechts sind Mehr-Ebenen-Modelle mit
abgestufter Verantwortlichkeit durchaus möglich. Im geltenden Recht gibt es bereits das
Modell des «kleinen Sorgerechts» in Alltagsangelegenheiten (§1687b Abs. 1 BGB, § 9
Abs. 7 LPartG). Dieses ist von zwei Bedingungen abhängig: Der Elternteil, mit dem der
Stiefelternteil zusammenlebt, muss das alleinige Sorgerecht haben und er muss mit dem
Mitspracherecht des Stiefelternteils einverstanden sein. Diese Beschränkungen werden den
gegenwärtigen Lebensverhältnissen in ihrer Vielfalt nicht gerecht. Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers ist hier relativ groß, solange die Rechte des zweiten rechtlichen
Elternteils unberührt bleiben, sich die Mitspracherechte des Stiefelternteils also auf Ange-
248 Vgl. Wapler (Fn. 225), S. 186 ff.
IV. Eltern-Kind-Beziehungen
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legenheiten des täglichen Lebens beschränken: [249] Ein kleines Sorgerecht könnte daher
auch dann ermöglicht werden, wenn die beiden rechtlichen Eltern noch das gemeinsame
Sorgerecht haben. Zulässig wäre auch eine Regelung, die das kleine Sorgerecht automatisch entstehen lässt, wenn das Kind mit dem Stiefelternteil in einem gemeinsamen Haushalt lebt. Denkbar ist schließlich, hier größeren Spielraum für einvernehmliche Absprachen
aller Beteiligten zu lassen, die dann sinnvollerweise schriftlich niedergelegt und notariell
beglaubigt werden sollten. Kommt es zu Konflikten, ist an einen gerichtlich gebilligten Vergleich zu denken, wie er hinsichtlich des Umgangs und der Herausgabe des Kindes bereits
möglich ist (§ 156 Abs. 2 FamFG). Eine Neuregelung sollte die Beteiligungsmöglichkeiten
von Kindern klarer Regeln (Art. 12 I KRK).
4. Der Familienleistungsausgleich
Unabhängig von den rechtlichen Beziehungen der Eltern werden kindbezogene Ausgaben
durch den Familienleistungsausgleich steuermildernd berücksichtigt. Damit werden Eltern-Kind-Beziehungen gegenüber anderen sozialen Nahbeziehungen privilegiert. Zu den
Kindern, die einkommenssteuerrechtlich anerkannt werden (§ 32 Abs. 1 EStG), gehören
auch Pflegekinder.[250] Stiefkinder werden steuerrechtlich nur als Kinder berücksichtigt,
wenn die Eltern in einer formalisierten Beziehung leben (s.o.).
Das Steuersystem muss das Existenzminimum unberührt lassen. Die Steuerfreiheit des
Existenzminimums der einzelnen Steuerpflichtigen, ihrer Kinder sowie der Familie als
sozialer Gemeinschaft ist verfassungsrechtlich aufgrund von Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art.
20 Abs. 1 GG (hinsichtlich des Familienexistenzminimums zusätzlich durch Art. 6 Abs. 1
GG) geboten.[251] Die Freistellung geschieht bei erwachsenen Steuerpflichtigen durch den
Grundfreibetrag (§ 32a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG), der dasjenige Einkommen von der Besteuerung ausnehmen soll, das zur Existenzsicherung benötigt wird. Bei Kindern wird das
Existenzminimum durch den Familienleistungsausgleich von der Besteuerung ihrer Eltern
ausgenommen.[252]
249 Vgl. die Vorschläge bei Dethloff (Fn. 190), S. 142 und dies, Kindschaftsrecht des 21. Jahrhunderts,
ZJK 2009, S. 141 ff. (144); Kemper, Rechtsanwendungsprobleme bei der eingetragenen
Lebenspartnerschaft, FamFZ 2001, S. 156 ff. (161); Löhnig, Neue Partnerschaften der gemeinsam
sorgeberechtigt gebliebenen Eltern – Welche Rechte haben die neuen Partner?, FPR 2008, S. 157
ff. (159); Muscheler, Das Recht der Stieffamilie, FamRZ 2004, S. 915 (920 f.). Siehe auch den
Überblick bei Wapler (Fn. 37), S. 150 ff.
250 Kirchhof, in: ders. (Hrsg.), EStG, 2015, § 2 Rn. 29a; Seiler (Fn. 89), § 32 Rn. 1; Vogel, Die
Auslegung privatrechtlich geprägter Begriffe des Ertragssteuerrechts, 2015, S. 72 ff.
251 BVerfGE 82, 60 (85); 87, 153 (169); 99, 216 (233);
252 Kirchhof (Fn. 250), § 2 Rn. 13. Vgl. insbesondere auch die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts zum Existenzminimum des Steuerpflichtigen und seiner Familie,
BVerfGE 87, 153 (169).
IV. Eltern-Kind-Beziehungen
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Das steuerliche Existenzminimum von Kindern beschränkt sich auf die zwingend notwendigen Ausgaben. Sie ergeben sich aus zivilrechtlichen Unterhaltspflichten und den
Leistungen für Betreuung und Ausbildung. Die Zwangsläufigkeit existenzsichernder Aufwendungen für die Familie folgt dabei regelmäßig aus der zivilrechtlichen Verpflichtung
zur Leistung.[253] Darum ist die steuerliche Entlastung – anders als die sozialrechtliche
Belastung (s.o.) – in aller Regel an eine zivilrechtliche Unterhaltsbeziehung gekoppelt.
Der so begründete Familienleistungsausgleich hat zwei Bestandteile bzw. wird auf unterschiedliche Weise gewährt:
–– Der Kinderfreibetrag in Höhe von derzeit 2.304 Euro pro Kind eines Steuerpflichtigen soll das sächliche Existenzminimum eines Kindes abdecken. Ein weiterer Betrag
von 1.320 Euro wird für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarfs
eines Kindes berücksichtigt.[254].
–– Alternativ zum kindesbezogenen Freibetrag wird ein monatliches Kindergeld gezahlt
§ 31 S. 3 EStG).
Im Verhältnis der beiden Leistungsarten zueinander gilt die jeweils günstigere: Das Finanzamt überprüft auf Grundlage einer Günstigerprüfung bei der Veranlagung zur Einkommenssteuer automatisch, ob sich der kindesbezogene Freibetrag oder die Kindergeldzahlungen vorteilhafter für den Steuerpflichtigen auswirken.[255]
253 Kirchhof (Fn. 250), § 2 Rn. 29; Vogel (Fn. 250), S. 268 ff.
254 Berücksichtigt werden nach § 32 Abs. 2-5 EStG Kinder, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet
haben, sowie abhängig von der Aufnahme eines Beschäftigungs- oder Ausbildungsverhältnisses, der
Leistung eines freiwilligen sozialen oder ökologischen Jahres oder von Wehrdienst Kinder bis zur
Vollendung des 21. bzw. 25. Lebensjahres. In Fällen, in denen das Kind wegen körperlicher, geistiger
oder seelischer Behinderung außerstande ist sich selbst zu unterhalten, wird es zeitlich unbefristet
berücksichtigt.
255 Wird durch die Günstigerprüfung festgestellt, dass die Entlastungen durch den Freibetrag höher
als die Kindergeldzahlungen sind, sind bei der Veranlagung zur Einkommensteuer die Freibeträge
nach § 32 Abs. 5 EStG zu berücksichtigen. Um eine doppelte Berücksichtigung des Kindes zu
vermeiden wird bereits bezogenes Kindergeld mit der Steuerzahlung verrechnet. Im umgekehrten
Fall, dass die steuerliche Entlastung durch den kindesbezogenen Freibetrag niedriger ausfällt als
die Kindergeldzahlungen, ist die steuerliche Berücksichtigung über das Kindergeld abgegolten und
der überschießende Anteil des Kindergeldes verbleibt den Familien als sozialpolitischer Förderanteil
(siehe § 31 S. 2 EStG). Das Kindergeld weist insofern eine Doppelnatur auf: Zum Teil dient es der
Steuervergünstigung in Form einer Vorauszahlung, zum Teil ist es als Sozialleistung zu qualifizieren,
vgl. auch Loschelder, in: Weber-Grellet (Hrsg.), Einkommenssteuergesetz, 2015, § 31, Rn. 1; Seiler
(Fn. 89), § 31 Rn. 2
IV. Eltern-Kind-Beziehungen
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a. Kinderfreibetrag
Der einfache und im Gesetz festgelegte Kinderfreibetrag wird jedem Elternteil je berücksichtigungsfähigem Kind gewährt. Materiell deckt dieser Betrag nur das halbe sächliche
Existenzminimum des Kindes ab, erst der doppelte Betrag ist materiell als ganzer Betrag
anzusehen. Dieser ganze Betrag wird zusammenveranlagten Ehe- und Lebenspartner_innen gewährt, die beide in einem Kindschaftsverhältnis zum Kind stehen.[256] Darüber
hinaus wird dieser Betrag einzelnen Steuerpflichtigen gewährt, wenn der andere Elternteil
verstorben oder nicht unbeschränkt steuerpflichtig ist sowie in Fällen, in denen nur eine_r
das Kind angenommen hat oder zu ihm in einem Pflegekindschaftsverhältnis steht (§ 32
Abs. 6 S. 3 EStG).
Zusätzlich steht jedem Elternteil für jedes berücksichtigungsfähige Kind ein Freibetrag
für Betreuungs- Erziehungs- und Ausbildungsbedarf i.H.v. derzeit 1.320 Euro zu, der
materiell wie der Kinderfreibetrag nur den halben Bedarf abdeckt und unter grundsätzlich
gleichen Voraussetzungen verdoppelt wird.[257] Der Betrag wird unabhängig von den tatsächlich entstandenen Aufwendungen abgezogen, auch dann, wenn Dritte die Erziehungsleistung erbringen.[258]
Stiefeltern formalisierter Paarbeziehungen und Großeltern erhalten beide Freibeträge,
wenn zum Kind ein Pflegekindschaftsverhältnis besteht. Ist dies nicht der Fall, können
ihnen auf Antrag die Freibeträge übertragen werden, sofern sie das Kind in ihren Haushalt
aufgenommen haben und ihm dort Unterhalt leisten oder falls sie ihm gesetzlich zum Unterhalt verpflichtet sind (§ 32 Abs. 6 S. 10 EStG).
Der gesamte Kinderfreibetrag inklusive dem Betrag für Betreuung und Erziehung bzw.
Ausbildung beträgt zur Zeit 7.248 Euro pro Kind. Eine regelmäßige Anpassung des Kinderfreibetrags ist verfassungsrechtlich aufgrund von Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 10 Abs.
1 GG, Art. 6 Abs. 1 GG geboten.[259] Die Anpassung erfolgt durch Gesetz auf Grund-
256 Bei Elternpaaren, die dauernd getrennt leben, geschieden sind oder ein nichteheliches Kind haben
(also die nicht der Ehe- bzw. Lebenspartnerveranlagung unterliegen) kann auf Antrag eines
Elternteils der Kinderfreibetrag des anderen Teils auf ihn übertragen werden (§ 32 Abs. 6 S. 6-11),
ohne dass dies der Zustimmung des anderen Teils bedarf. Voraussetzung für die Berücksichtigung
des vollen Kinderfreibetrags ist in diesem Fall, dass nur er seiner Unterhaltspflicht gegenüber dem
Kind nachkommt bzw. der andere Teil mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist.
257 Vgl. hierzu Seiler (Fn. 89), § 32 Rn. 26.
258 Leben die Eltern getrennt, wird auf Antrag des Elternteils, in dessen Wohnung das Kind gemeldet
ist, der Freibetrag des anderen Teils auf ihn übertragen (§ 32 Abs. 6 S. 8 EStG), sofern der andere
Teil nicht widerspricht. Widersprechen kann der andere Teil, wenn er Kinderbetreuungskosten trägt
oder das Kind regelmäßig in einem nicht unwesentlichen Umfang betreut.
259 BVerfGE 82, 60 (85); 87, 153 (169); 99, 216 (233);
IV. Eltern-Kind-Beziehungen
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lage des Existenzminimumberichts der Bundesregierung.[260] In diesem Bericht wird
der sozialhilferechtliche Mindestbedarf eines Kindes festgestellt, der die Untergrenze des
steuerlich zu berücksichtigenden Betrags markiert. Die Unterhaltsverpflichtungen eines
Steuerpflichtigen gehen allerdings oft deutlich über das Minimum hinaus, das als Existenzminimum typisiert wurde und werden daher aus versteuertem Einkommen erbracht. Hingegen wird bei den erwerbssichernden Aufwendungen in der Regel der tatsächliche Aufwand
zum Abzug gebracht.[261] Die zweite Komponente, der Freibetrag für Betreuung, Erziehung und Ausbildung, wird nicht regelmäßig angepasst, eine letzte Anpassung erfolgte im
Jahre 2010.
b. Kindergeld
Anders als beim Kinderfreibetrag ist der Gesetzgeber nicht verfassungsrechtlich verpflichtet, das Kindergeld anzupassen, solange er das Existenzminimum von Kindern in irgendeiner Weise sicherstellt. Eine Anpassung erfolgt jedoch gewöhnlich zeitgleich mit den Anpassungen des Kinderfreibetrags. Anspruchsberechtigt sind neben Kindern i.S.v. § 32 Abs. 1
EStG vom Berechtigten in seinen Haushalt aufgenommene Kinder des Ehegatten oder Lebenspartners sowie Enkel (§ 63 Abs. 1 S. 1 EStG). Gibt es mehrere Kindergeldberechtigte,
wird das Kindergeld an denjenigen ausgezahlt, in dessen Haushalt das Kind aufgenommen
wurde (§ 64 Abs. 1 und 2 EStG).
Das Kindergeld beträgt gem. § 66 EStG derzeit monatlich für erste und zweite Kinder jeweils 190 Euro (2280 Euro pro Jahr), für das dritte Kind 196 Euro (2352 Euro pro Jahr)
und für das vierte und jedes weitere Kind jeweils 221 Euro (2652 Euro pro Jahr).
Während das Kindergeld nur einem Berechtigten ausgezahlt wird, stehen die Freibeträge
nach § 36 Abs. 6 EStG grundsätzlich beiden Elternteilen zu. Bei gemeinsam veranlagten
Ehe- oder Lebenspartnern bleibt dies folgenlos, ebenso wenn ein Elternteil die gesamte
Kinderförderung beanspruchen kann.[262] Im Rahmen der Günstigerprüfung wird aller-
260 Die Bundesregierung legt alle zwei Jahre einen Bericht über die Höhe des von der Einkommensteuer
freizustellenden Existenzminimums von Erwachsenen und Kindern vor (vgl. BT-Drs. 13/1558). Der
10. Existenzminimumbericht enthält die der aktuellen Gesetzeslage zugrunde gelegte Berechnung
(abrufbar unter www.bundesfinanzministerium.de). Dieser dort ausgewiesene Betrag von
insgesamt 4608 Euro für das Jahr 2016 pro Kind bezieht sich nur auf das Existenzminimum, die
steuerrechtlich als zwangsläufige Ausgaben berücksichtigten Kosten für Erziehung und Ausbildung
sind hier noch nicht berücksichtigt.
261 Kirchhof (Fn. 250), § 2 Rn. 16.
262 Etwa weil der andere Elternteil verstorben oder nicht uneingeschränkt einkommenssteuerpflichtig
ist oder nur ein Ehepartner das Kind angenommen hat oder nur zu ihm ein
Pflegekindschaftsverhältnis besteht.
IV. Eltern-Kind-Beziehungen
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dings auch bei einzeln veranlagten Ehe- oder Lebenspartnern jeweils die Hälfte des Kindergelds angesetzt.[263]
c. Reformoptionen
Aufgrund des progressiven Steuersystems wirkt sich der Kinderfreibetrag nur in höheren
Einkommensgruppen positiver aus als das Kindergeld. Bei einer Familie mit einem Kind ist
dies ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen von rund 63.500 Euro der Fall. Bei einem niedrigeren Einkommen ist dagegen das Kindergeld höher als eine steuerliche Entlastung durch die Freibeträge.[264] Der Familienlastenausgleich in seiner derzeitigen Form
begünstigt daher die höheren Einkommensgruppen und sollte vor diesem Hintergrund
überdacht werden.
Der Freibetrag für Betreuung und Erziehung wird unabhängig von dem tatsächlichen
Betreuungsaufwand gewährt und begünstigt dadurch Familienmodelle, die keine tatsächlichen Betreuungskosten haben. Einverdienerpaare werden hierdurch stärker gefördert als
Zweiverdienerpaare. Wären dagegen (nur) tatsächliche Aufwendungen für Kinderbetreuung absetzbar (als Werbungskosten oder Betriebsausgaben), würde dies die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf erhöhen, insbesondere auch für Alleinerziehende, die auf die Inanspruchnahme von Betreuungsdienstleistungen angewiesen sind.
263 Vgl. hierzu Seiler (Fn. 89), § 31 Rn. 8 f.
264 Vgl. den Überblick bei Lemmer, Kindergeld und Kinderfreibetrag: Funktionsweise,
Entlastungswirkung und aktueller Handlungsbedarf, DSi kompakt, 2015.
IV. Eltern-Kind-Beziehungen
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V. Zusammenfassung der Ergebnisse und
der Handlungsempfehlungen
1. Ehe und Lebenspartnerschaft
a. Beseitigung bestehender Ungleichbehandlungen: Die Lebenspartnerschaft wird im
geltenden Recht gegenüber der Ehe diskriminiert. Die verbliebenen rechtlichen Ungleichbehandlungen sollten beseitigt werden, indem
–– entweder die gesetzlichen Grundlagen der Lebenspartnerschaft vollständig an die der
Ehe angeglichen werden oder
–– die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet wird.
b. Abkehr vom Leitbild der Alleinverdienerehe: Das System der ehebedingten Begünstigungen ist in Teilen nach wie vor von dem traditionellen Leitbild der Alleinverdienerehe geprägt. Die diesem Leitbild dienenden Leistungen, insbesondere das Ehegattensplitting und
die beitragsfreie Mitversicherung in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung,
sollten abgeschafft und durch lebensformenneutrale Modelle ersetzt werden.
2. Faktische Lebensgemeinschaften
Die Rechtslage faktischen Lebensgemeinschaften ist unübersichtlich und folgt keiner klaren Systematik. Diese Situation zu verbessern, wäre grundsätzlich auf zwei Wegen möglich:
–– Die Einführung eines formalisierten Solidaritätspakts hätte den Vorteil, den Paaren, die sich dafür entscheiden, Rechtssicherheit zu bieten und auch nach außen klar
erkennbar zu sein. Sozialrechtliche Pflichten und gegenseitige Ansprüche auf Beistand im Innenverhältnis könnten aufeinander abgestimmt werden. Für die Paare, die
auch auf diese Form der Registrierung verzichten (müssen), bietet ein formalisiertes
Rechtsinstitut jedoch keine Lösung.[265]
–– Eine gesetzliche Ausgestaltung der faktischen Lebensgemeinschaft ohne Registrierung hat demgegenüber den Vorteil, alle Beziehungen zu erfassen, in denen nachweisbar gegenseitige Verantwortung übernommen wurde. Man könnte den Begriff
der faktischen Lebensgemeinschaft gesetzlich definieren und dann die Tatbestände,
die schutzwürdig erscheinen, im Einzelnen rechtlich regeln. Hier wäre es dann wich-
265 Cottier (Fn. 103), S. 34; Wellenhofer (Fn. 9), Rn. 18.
V.
Zusammenfassung der Ergebnisse und der Handlungsempfehlungen
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tig, sozialrechtliche Einstands- und privatrechtliche Unterhaltspflichten übereinstimmend zu regeln. Ergänzend müsste die Möglichkeit eines schriftlichen opt-out
vorgesehen werden. Damit stünde den Partner_innen frei, durch eine einvernehmliche
Erklärung oder einen Partnerschaftsvertrag festzulegen, dass die Wirkungen der faktischen Lebensgemeinschaft wie der sozialrechtlichen Bedarfsgemeinschaft sie nicht
treffen sollen.
–– Möglich wäre auch ein Kombinationsmodell mit den folgenden drei Stufen: (1) Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen der faktischen Lebensgemeinschaft mit klar
geregelten gesetzlichen Rechtsfolgen (à oben Modell 1); (2) Möglichkeit einer Absicherung dieser (und ggf. weiterer) Rechtsfolgen durch Registrierung (àzivilrechtlicher
Solidaritätspakt); (3) Ehe für alle mit den heutigen Rechtswirkungen.
–– Neben diesen Regelungen sollte eine typisierte Erklärung und Registrierung der heutigen Vorsorge- und Betreuungsvollmacht geschaffen werden, die auch außerhalb von
Paarbeziehungen abgegeben werden kann.
3. Eltern-Kind-Beziehungen
a. Die Inseminationsfamilie: Die abstammungsrechtlichen Verhältnisse der Inseminationsfamilie sind derzeit in gleichheitsrechtlicher Hinsicht unbefriedigend geregelt und kollidieren mit dem Recht des Kindes auf staatliche Gewährleistung der elterlichen Erziehung aus
Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG. Folgende Gesetzesänderungen sind empfehlenswert:
–– Die vollständige Freistellung des Samenspenders von der Anfechtung der Vaterschaft
sowie der Ausschluss seines eigenen Anfechtungsrechts in allen Fällen, in denen
Samenspender und Wunscheltern sich vor der Zeugung darüber einig sind, dass der
Samenspender an der Erziehung des Kindes nicht beteiligt werden soll.
–– Die Einführung einer Elternschaftsvermutung und/oder -anerkennung bei der Geburt
eines Kindes in eine eingetragene Lebenspartnerschaft, sofern das Kind im Wege der
Samenspende erzeugt wurde.
–– Die klare gesetzliche Regelung der Dokumentationspflichten bei medizinisch unterstützter Zeugung sowie der Informations-, Auskunfts- und Einsichtsrechte der betroffenen Kinder.
–– Die Bezuschussung assistierter Reproduktionsverfahren nach einheitlichen Maßstäben für gleich- und verschiedengeschlechtliche Paare sowie für Alleinstehende.
d. Ein-Eltern-Familien: Ein-Eltern-Familien sind keine defizitäre Lebensform. Der Kinderwunsch einer alleinstehenden Person ist rechtlich diskriminierungsfrei zu behandeln.
Des Weiteren sollten unterhalts-, steuer- und sozialrechtliche Vorschriften so aufeinander
abgestimmt werden, dass der betreuungsbedingte Mehraufwand Alleinerziehender angemessen berücksichtigt wird:
V.
Zusammenfassung der Ergebnisse und der Handlungsempfehlungen
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–– Die Regeln des Betreuungsunterhalts (§§ 1570, 1615l BGB) sollten den tatsächlichen Aufwand der Kinderbetreuung in der Familie realitätsgerechter abbilden.
–– Die zeitliche Begrenzung des staatlichen Unterhaltsvorschusses sollte aufgehoben
werden.
–– Im Recht der Sozialleistungen sollte der besondere Mehrbedarf Alleinerziehender
nicht gegen andere Sozialleistungen (Kinderzuschlag, Wohngeld) aufgerechnet werden.
–– Der steuerrechtliche Entlastungsbeitrag sollte spürbar erhöht werden.
c. Mehr-Eltern-Modelle: Eine schützenswerte Eltern-Kind-Beziehung kann ein Kind zu
mehr als zwei Personen haben, etwa wenn es in mit seiner Mutter und einem rechtlich-sozialen Vater aufwächst, der leibliche Vater jedoch bekannt ist. Abstammungsrechtlich sollte
es dennoch dabei bleiben, dass einem Kind nicht mehr als zwei Eltern rechtlich zugeordnet
werden können. Auf der Ebene des Sorge- und Umgangsrechts sollten hingegen flexiblere
Lösungen möglich sein als bisher:
–– Das „kleine Sorgerecht“ in Alltagsangelegenheiten sollte Stiefeltern auch dann
zustehen (können), wenn es außerhalb der Stieffamilie einen weiteren sorgeberechtigten Elternteil gibt.
–– Alternativ könnte ein kleines Sorgerecht per Gesetz immer dann entstehen, wenn ein
Kind mit einem Stiefelternteil in einem gemeinsamen Haushalt lebt. Hier sind allerdings Abgrenzungsschwierigkeiten zu Wohn- und Hausgemeinschaften zu befürchten,
und die rechtlichen Eltern des Kindes sollten die Möglichkeit haben, sich gegen die
Mitsorge auszusprechen.
–– Sinnvoll wäre in jedem Fall, im Gesetz mehr Raum für verbindliche einvernehmliche
Absprachen der Beteiligten über die Verteilung von Rechten und Pflichten der rechtlichen Eltern und der Stiefeltern vorzusehen.
V.
Zusammenfassung der Ergebnisse und der Handlungsempfehlungen
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Impressum
Herausgeberin: Heinrich-Böll-Stiftung,
Schumannstraße 8, 10117 Berlin, D
Redaktion: Dorothee Schulte-Basta, Referentin für Sozialpolitik der Heinrich-Böll-Stiftung
Erscheinungsort: www.boell.de
Erscheinungsdatum: November 2016
Die Studie wurde beauftragt von der
Familienpolitischen Kommission der Heinrich-Böll-Stiftung.
https://www.boell.de/de/2015/05/11/vorstellung-der-familienpolitischen-kommission
Die Kommission arbeitet zu den Themen:
–– Vielfalt der Sorge- und Solidarbeziehungen anerkennen und absichern
–– Alleinerziehende besser absichern
–– Echte Teilhabe von Kindern gewährleisten
–– Förderung von Geschlechtergerechtigkeit in der Sorge- und Erwerbsarbeit
–– Zeitsouveränität ermöglichen
Die vorliegende Publikation gibt die Meinung des Verfassers
und nicht die der Heinrich-Böll-Stiftung wieder.
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unter www.boell.de/publikationen
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