Entwicklung und Gerechtigkeit durch Transformation
Im Jahr 2015 gelang ein historischer Doppelerfolg für die Nachhaltigkeits- und Klimapolitik. Die Agenda
2030 für nachhaltige Entwicklung mit ihren Sustainable Development Goals (SDGs) und das Überein
kommen von Paris zum Klimaschutz definieren ein ehrgeiziges globales Zielsystem. Die Gruppe der zwanzig
wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20) sollte jetzt die Umsetzung beider Abkommen ent
schlossen vorantreiben und die Große Transformation zur Nachhaltigkeit als einzigartiges Modernisierungsprojekt wahrnehmen, das erhebliche ökonomische Entwicklungschancen bietet. So ist etwa die vollständige Dekarbonisierung der Weltwirtschaft bis spätestens 2070 nur mit einem tiefgreifenden Wandel
der Energiesysteme und anderer emissionsintensiver Infrastrukturen umsetzbar. Die Transformation
inspiriert Innovationen und lenkt Investitionen in Richtung Nachhaltigkeit und Klimaschutz, u. a. in die aufund auszubauenden nachhaltigen Infrastrukturen. Gleichzeitig kann die Transformation genutzt werden, um
Ungleichheit zu bekämpfen, also die Inklusion innerhalb der Gesellschaften wie auch global voranzubringen,
und so zum Gerechtigkeitsprojekt werden.
Sondergutachten
Entwicklung und Gerechtigkeit
durch Transformation:
Die vier großen I
20
Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
Globale Umweltveränderungen
Geschäftsstelle
Luisenstraße 4 6
101 1 7 Berlin
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Telefon: (030) 26 39 48-0
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Internet: www.wbgu.de
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G2
Sondergutachten
Entwicklung und Gerechtigkeit
durch Transformation:
Die vier großen I
Mitglieder des WBGU
Prof. Dr. Dr. h. c. Hans Joachim Schellnhuber CBE (Vorsitzender)
Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung; Professor für Theoretische Physik an der
Universität Potsdam; External Professor am Santa Fe Institute
Prof. Dr. Dirk Messner (Vorsitzender)
Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE), Bonn und Co-Direktor des Center for
Advanced Studies on Global Cooperation Research, Universität Duisburg-Essen
Prof. Dr. Frauke Kraas
Professorin für Stadt- und Sozialgeographie an der Universität zu Köln
Prof. Dr. Dr. h. c. Claus Leggewie
Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, Forschungskolleg der Universitätsallianz
Metropole Ruhr und Co-Direktor des Center for Advanced Studies on Global Cooperation Research,
Universität Duisburg-Essen
Prof. Dr. Peter Lemke
Professor für Physik von Atmosphäre und Ozean, Universität Bremen und Alfred-Wegener-Institut
Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven; Wissenschaftlicher Koordinator des
Helmholtz-Verbunds „Regionale Klimaänderungen“ (REKLIM)
Prof. Dr. Ellen Matthies
Professorin für Umweltpsychologie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
Prof. Dr. Dr. h. c. Nebojsa Nakicenovic
Stellvertretender Generaldirektor und Stellvertretender Geschäftsführer des Internationalen Instituts für
Angewandte Systemanalyse (IIASA) und Professor i. R. für Energiewirtschaft an der Technischen Universität
Wien
Prof. Dr. Sabine Schlacke
Professorin für Öffentliches Recht, Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Umwelt- und
Planungsrecht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
Prof. Dr. Uwe Schneidewind
Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie und Professor für Innovationsmanagement und
Nachhaltigkeit („Sustainable Transition Management“) an der Bergischen Universität Wuppertal
II
Sondergutachten
Entwicklung und Gerechtigkeit
durch Transformation:
Die vier großen I
Hinweis zur geschlechtsneutralen Formulierung: In diesem Gutachten werden bei Bezeichnungen, die auf
Personen bezogen sind, abwechselnd die weibliche und die männliche Form verwendet.
Zitierweise für diese Publikation: WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale
Umweltveränderungen (2016): Entwicklung und Gerechtigkeit durch Transformation: Die vier großen I.
Sondergutachten. Berlin: WBGU.
Leitautorinnen: Frauke Kraas, Claus Leggewie, Peter Lemke, Ellen Matthies, Dirk Messner,
Nebojsa Nakicenovic, Hans Joachim Schellnhuber, Sabine Schlacke, Uwe Schneidewind
Mitautoren: Clara Brandi, Sebastian Busch, Frederic Hanusch, Miriam Köster,
Mareike Kroll, Carsten Loose, Inge Paulini, Benno Pilardeaux, Teresa Schlüter, Gesa Schöneberg,
Astrid Schulz, Benjamin Stephan, Johannes Sutter, Kira Vinke, Hannah Wallis, Matthias Wanner
Das diesem Bericht zu Grunde liegende F&E-Vorhaben wurde im Auftrag des Bundesministeriums für B
ildung
und Forschung und des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit unter dem
Kennzeichen 01RI0708A3 durchgeführt. Die Verantwortung für den Inhalt liegt beim Autor.
ISBN 978-3-946830-00-9
© WBGU Berlin 2016
Gestaltung: WERNERWERKE GbR, Berlin
Titelbild: WERNERWERKE GbR, Berlin unter Verwendung der 17 Piktogramme des
Logos der Sustainable Development Goals (SDGs). Der WBGU unterstützt die SDGs.
Herstellung: WBGU
Satz: WBGU
Druck und Bindung: Ruksaldruck, Berlin
Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
Globale Umweltveränderungen (WBGU)
Geschäftsstelle
Luisenstraße 46
10117 Berlin
Tel.: 030 263948 0
Email: wbgu@wbgu.de
Web: www.wbgu.de
Redaktionsschluss: 23.09.2016
IV
Mitarbeiterinnen des WBGU
Dieses Sondergutachten wurde nicht zuletzt
ermöglicht durch die großartige wissenschaftliche
und editorische Arbeit der WBGU-Geschäftsstelle
und das bemerkenswerte Engagement der
Referentinnen und Referenten der Beiräte.
Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen der
itglieder des WBGU
M
Dr. Clara Brandi
Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE),
Bonn
Wissenschaftlicher Stab der Geschäftsstelle
Dr. Inge Paulini
(Generalsekretärin)
Dr. Carsten Loose
(Stellvertretender Generalsekretär)
Dr. Benno Pilardeaux
(Medien- und Öffentlichkeitsarbeit)
Teresa Schlüter, Ph. D.
Dr. Astrid Schulz
Dipl.-Kfm. Sebastian Busch
Transitions to New Technologies Program,
Internationales Institut für Angewandte
Systemanalyse (IIASA), Laxenburg
Frederic Hanusch, M. A.
Kulturwissenschaftliches Institut, Essen
Dipl.-Jur. Miriam Köster
Institut für Umwelt- und Planungsrecht der
Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
Dr. Mareike Kroll
Geographisches Institut der Universität zu Köln
Dipl. Ing. Dipl. Jur. Gesa Schöneberg
Dr. Benjamin Stephan
Dr. Johannes Sutter
Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für
Polar- und Meeresforschung, Bremerhaven
Verlagsmanagement, Administration und
Assistenz in der Geschäftsstelle
Kira Vinke, M. A.
Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung
Anja Böhmer, M. A.
(Veranstaltungsmanagement und Sekretariat)
Dipl.-Psych. Hannah Wallis
Otto-von-Guericke-Universität, Magdeburg
Mario Rinn, B. Sc.
(Systemadministration)
Dipl.-Psych. Matthias Wanner
Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie
Martina Schneider-Kremer, M. A.
(Verlagsmanagement)
V
Danksagung
Der Beirat dankt den externen Gutachtern für die
Zuarbeit und wertvolle Hilfe. Folgende Expertisen
flossen in das Gutachten ein:
• Dr. Galina Churkina (IASS Potsdam): „Can use of
wood in future infrastructure development reduce
emissions of CO2?“
• Prof. Dr. Michael Sterner und M. Eng. Franz
Bauer (FENES OTH Regensburg): „Weltweit NullEmissionen bis 2050. Szenarien zur globalen
Dekarbonisierung auf Basis erneuerbarer Energien,
Sektorenkopplung und Energiespeicher ohne negative Emissionen, Biomasse und CCS“.
Danken möchte der Beirat auch all jenen Personen,
die durch Zuarbeit, Hinweise, Diskussionen und
Beratung sowie bei Expertenanhörungen dem WBGU
wertvolle Dienste erwiesen haben: Chris Barrett,
European Climate Foundation, Berlin; Prof. Dr. Dr.
Giacomo Corneo, FU Berlin; Prof. Dr. Ottmar Edenhofer, PIK, Potsdam; Norbert Gorißen, BMUB; Prof.
Dr. Ralph Hertwig, MPI für Bildungsforschung, Berlin;
Dr. Karl-Eugen Huthmacher, BMBF; Dr. Louise Jeffery,
PIK, Potsdam; Peter Kolp, IIASA, Laxenburg, Österreich; Sönke Kreft, Germanwatch, Bonn; Karsten Löffler,
Allianz Climate Solutions, München; Dr. Simon Marr,
Bundeskanzleramt; Dr. Pao-Yu Oei, TU Berlin, DIW,
Berlin; Dr. Andreas Oschlies, GEOMAR, Kiel; Prof. Dr.
Konrad Ott, Universität Kiel; Dr. Robert Pietzcker, PIK,
Potsdam; Prof. Dr. Alexander Proelß, Universität Trier;
Prof. Dr. Ortwin Renn, IASS, Potsdam; Dr. Karsten
Sach, BMUB; Prof. Dr. Christian von Hirschhausen,
TU Berlin; Dr. Koko Warner, UNFCCC, Bonn; Dr. Petra
Wolff, BMBF.
VI
Inhaltsverzeichnis
Kästen, Abbildungen und Tabellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII
Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
2 Klimaschutz: Die Herausforderung von Paris. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
2.1 Was in Paris beschlossen wurde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
2.2 Erwärmung begrenzen und Klimaextreme vermeiden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
2.3 Nachhaltiger Umgang mit natürlichen und anthropogenen Kohlenstoffsenken . . . . . . . . . . 12
2.4 Transformation der Infrastruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
2.5 Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
3 Nachhaltigkeitstransformation in den G20-Staaten voranbringen – Reformperspektiven . . . . . . . 19
3.1 Staat, Markt und Zivilgesellschaft neu ausbalancieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
3.2 Dekadischer Klimaschutzfahrplan zur Dekarbonisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
3.3 Transformative Staatsfonds für eine nachhaltige Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
3.4 Stärkung partizipatorischer Demokratien für Transformation nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
3.5 Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
4 Transformation als Modernisierungs-, Gerechtigkeits- und Friedensprojekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
4.1 Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik als globales Modernisierungsprojekt . . . . . . . . . . 33
4.2 Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik als globales Gerechtigkeitsprojekt . . . . . . . . . . . . 35
4.3 Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik als globales Friedensprojekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
4.4 Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
5 Hauptbotschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
6 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
VII
Kästen, Abbildungen und Tabellen
Kasten 2.3-1
Kasten 2.3-2
Kasten 3.1-1
Kasten 3.2-1
Kasten 3.3-1
Bioenergie und Kohlenstoffspeicherung (BECCS). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Bewertung des Geoengineering . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Verfassungsrechtliche Verpflichtung zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen
aktiv wahrnehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Vision eines regenerativen Energiesystems nach Jürgen Schmid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Beispielhafte Abschätzung über das Volumen des deutschen Zukunftsfonds. . . . . . . . . . .
Abbildung 2.2-1 Entwicklung der global gemittelten Oberflächentemperatur zwischen
1880 und 2015. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Abbildung 2.2-2 Anstieg der globalen Oberflächentemperatur in Abhängigkeit von den kumulierten
CO2-Emissionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Abbildung 2.3-1 Schema des globalen Kohlenstoffkreislaufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Abbildung 2.4‑1 Entwicklung erneuerbarer Energien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Abbildung 3-1
Ausbalancierung von Staat, Markt und Zivilgesellschaft im Zuge der Transformation
zur Nachhaltigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Abbildung 3.2-1 Jürgen-Schmid-Szenario: Vision eines globalen regenerativen Energiesystems
bis 2050. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Abbildung 3.2-2 Jürgen-Schmid-Szenario: Generierte Emissionen und die dadurch hervorgerufenen
Änderungen im Kohlenstoffkreislauf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Abbildung 3.2-3 Klimaschutzfahrplan für eine stufenweise dekadische Dekarbonisierung . . . . . . . . . . . . . .
Abbildung 3.3-1 Elemente des Zukunftsfonds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Abbildung 3.3-2 Zukunftsfonds Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Tabelle 3.3-1
Tabelle 4.1-1
VIII
14
15
21
22
28
11
12
13
16
19
22
23
24
25
28
Zukunftsfonds Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
Dimensionen eines neuen Innovationsverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
Zusammenfassung
Im Jahr 2015 gelang ein historischer Doppelerfolg für die Nachhaltigkeits- und Klimapolitik. Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung mit ihren Sustainable Development Goals (SDGs) und das Übereinkommen von Paris zum Klimaschutz definieren ein
ehrgeiziges globales Zielsystem. Die Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und
Schwellenländer (G20) sollte jetzt die Umsetzung beider Abkommen entschlossen
vorantreiben und die Große Transformation zur Nachhaltigkeit als einzigartiges
Modernisierungsprojekt wahrnehmen, das erhebliche ökonomische Entwicklungschancen bietet. So ist etwa die vollständige Dekarbonisierung der Weltwirtschaft bis spätestens 2070 nur mit einem tiefgreifenden Wandel der Energiesysteme und anderer emissionsintensiver Infrastrukturen umsetzbar. Die Transformation inspiriert Innovationen
und lenkt Investitionen in Richtung Nachhaltigkeit und Klimaschutz, u. a. in die auf- und
auszubauenden nachhaltigen Infrastrukturen. Gleichzeitig kann die Transformation
genutzt werden, um Ungleichheit zu bekämpfen, also die Inklusion innerhalb der
Gesellschaften wie auch global voranzubringen, und so zum Gerechtigkeitsprojekt werden. Die G20 als prägender Akteur sollte diese „vier großen I“ der Nachhaltigkeits- und
Klimapolitik gezielt fördern, so dass Ressourcen- und Verteilungskonflikte entschärft
und damit internationale Krisen verhindert werden. Die nachhaltige Entwicklung,
insbesondere der globale Klimaschutz, ist gegenwärtig das einzige ehrgeizige Vorhaben
bei dem alle Nationen der Welt beteiligt sind und einen Konsens erreichen konnten.
Durch Erfolge in diesem Mega-Politikfeld können Staaten gegenseitiges Vertrauen aufbauen. Die Große Transformation zur Nachhaltigkeit wird so auch zum Friedensprojekt.
Die deutsche G20-Präsidentschaft kann für dieses Zukunftsprogramm entscheidende
Weichen stellen.
Doppelter Durchbruch: Der politische Kontext
Zwei Weltkonferenzen brachten im Jahr 2015 einen
doppelten Durchbruch: (1) Die bei der UN in New York
vereinbarte Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung
umreißt mit ihren 17 SDGs die komplexen Herausforderungen einer Transformation zur Nachhaltigkeit, die auch
die globale Armut besiegen soll. Die SDGs sind zugleich
gemeinsame Zielorientierung und ein anspruchsvolles
Aktionsprogramm für die Weltgemeinschaft. (2) Das
Übereinkommen von Paris unter dem Dach der UN-
Klimarahmenkonvention (UNFCCC) setzt erstmals völkerrechtlich verbindliche Ziele fest, die menschengemachte Erderwärmung auf deutlich weniger als 2 °C zu
beschränken und sogar Maßnahmen im Hinblick auf
eine Begrenzung auf 1,5 °C zu entwickeln. Diese Zielsetzungen stellen eine angemessene weltpolitische Reaktion auf nicht mehr zu leugnende Bedrohungen dar.
Zum politischen Kontext gehören derzeit aber auch
gefährliche Spannungen: Kriege und Bürgerkriege, Massenflucht und Terrorismus, globale Finanzmarktkrise
und wachsende Ungleichheit sowie nicht zuletzt der in
vielen Ländern zu beobachtende Aufstieg eines autoritären, völkischen Nationalismus sind beherrschende
Themen. Angesichts dessen gilt es zu verhindern, dass
die Pariser Beschlüsse und die Agenda 2030 auf der
Prioritätenliste der internationalen Politik an den Rand
gedrängt werden.
Dekarbonisierungsstrategie umsetzen
Die Umsetzung des Übereinkommens von Paris erfordert einen einzigartigen Kraftakt der Weltgemeinschaft,
denn bei stabilen Emissionen wäre bereits in 20 Jahren das globale CO2-Budget aufgebraucht, das eine Klimaerwärmung auf 2 °C begrenzt. Für die Einhaltung
der 2 °C-Leitplanke müssen bis spätestens 2070 Null
emissionen erreicht sein; für eine Begrenzung auf 1,5 °C
bereits bis 2050. Dies ist nur mit einer grundlegenden
Transformation der Energiesysteme und anderer emissionsintensiver Infrastrukturen sowie signifikanten Verhaltensänderungen von Bürgern zu erreichen.
Es besteht die Gefahr, dass Länder, um einen schnellen Ausstieg aus den fossilen Energien zu vermeiden,
1
Zusammenfassung
auf einen massiven Zubau der Kernenergie sowie den
großskaligen Einsatz unausgereifter Technologien wie
Kohlenstoffabscheidung und -speicherung setzen (CCS;
auch in Kombination mit Bioenergie: BECCS), möglicherweise noch ergänzt mit als hochriskant einzustufenden
B. der Manipulation
Geoengineering-Maßnahmen (z.
des globalen Strahlungshaushalts).
Der WBGU stellt eine weitaus risikoärmere Alternative vor, mit der sich eine Begrenzung auf weniger als
2 °C erreichen lässt. Er empfiehlt eine rapide Dekarbonisierung der Energieinfrastruktur, einen stark beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien sowie eine effektive Begrenzung des Energieverbrauchs. Für die Umsetzung einer solchen Transformation stellt der WBGU
einen dekadischen Klimaschutzfahrplan vor, mit der die
in den kommenden Jahrzehnten notwendigen tiefgreifenden Veränderungen skizziert werden. Dies reicht z. B.
von einer effektiven CO2-Bepreisung und dem Ende der
Subventionen fossiler Energieträger (bis 2020), über
den Stopp der Zulassung von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren (bis 2030) und den großskaligen Einsatz
erneuerbarer Energietechnologien sowie Energiespeicherung und -transport (bis 2040) bis hin zur vollständigen Dekarbonisierung der G20-Ökonomien (bis 2050).
G20 in der Führungsrolle
Die Staaten der G20 sind für 82 % der CO2-Emissionen
aus fossilen Energieträgern verantwortlich. Daher ist es
unverzichtbar, dass die G20 als Gestalter der Weltwirtschaft und -politik bei der Umsetzung der Agenda 2030
und des Übereinkommens von Paris eine Führungsrolle
übernimmt. Zum Beispiel sollten die G20-Staaten ihre
Reduktionsankündigungen im Rahmen der UNFCCC
nachbessern, um sie mit den in Paris vereinbarten Zielen in Einklang zu bringen. Insbesondere empfiehlt der
WBGU, dass sich die G20 den genannten dekadischen
Klimaschutzfahrplan zu eigen macht. Die G20-Staaten
sollten auf dieser Basis umfassende und überprüfbare
nationale Dekarbonisierungsstrategien entwickeln. Darin
sollte u. a. festgeschrieben werden, den Ausstieg aus der
Nutzung fossiler Energieträger bis 2050 zu erreichen
sowie die natürlichen Ökosysteme, ihre Kohlenstoffvorräte und Senkenfunktionen zu erhalten.
2
Die vier großen I: Innovationen, Infrastrukturen,
Investitionen, Inklusion
Um diesen anspruchsvollen Weg gehen zu können, müssen die „vier großen I“ zum Programm der G20 werden:
eine Neuausrichtung von Innovationen, damit Wirtschafts- und Wohlstandsentwicklung innerhalb der
Leitplanken des Erdsystems möglich werden; ein rascher
klimaverträglicher und ressourcenschonender Umbau
der zentralen Infrastrukturen der Weltwirtschaft; die
Schaffung von Rahmenbedingungen, um einen Investiti
onsschub für die Nachhaltigkeitstransformation zu erreichen; sowie deren Verknüpfung mit dem handlungsleitenden Prinzip der sozialen Inklusion, also von Gerechtigkeit und Teilhabe, weil diese zugleich Bedingung und
Ziel einer Gesellschaftstransformation zur Nachhaltig-
keit darstellt. Die G20-Regierungen sollten sich für diese
vier großen I der Transformation stark machen. Dazu
sollte nach Auffassung des WBGU der gestaltende Staat
gestärkt werden, also ein Staat, der einerseits aktiv Prioritäten setzt und diese deutlich macht, und andererseits
verbesserte Mitsprache-, Mitbestimmungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger bereitstellt.
Transformative Staatsfonds einrichten
Zur Umsetzung der Agenda 2030 und des Übereinkommens von Paris sollten die beteiligten Staaten effektive nationalstaatliche Politikinstrumente entwickeln.
Der WBGU empfiehlt den G20-Staaten insbesondere
die Einrichtung transformativer Staatsfonds (Zukunftsfonds). Damit können die G20-Staaten auf den Finanzmärkten stärker als Akteure aktiv werden, mit dem Ziel,
einen sozialverträglichen Strukturwandel hin zu einem
nachhaltigen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu
fördern. Die Zukunftsfonds sollten sich aus den Einnahmen von CO2-Steuern und Emissionshandel speisen
sowie aus einer Generationenkomponente auf Nachlassvermögen. Die Mittel der transformativen Staatsfonds
sollten im Sinne des Klimaschutzes und der SDGs angelegt und die Erträge für gemeinwohl- und gerechtigkeitsorientierte Zwecke verwendet werden.
Nachhaltigkeits- und Klimapolitik zur Lösung
weltpolitischer Probleme nutzen
Die Regierungen der G20 sollten sich nicht nur „zu
Hause“ engagieren, sondern auch auf internationaler
Ebene als Vorreiter dazu beitragen, Kooperation zu stärken und globale Probleme zu lösen. Bei richtiger Ausgestaltung und dem strategischen Einsatz der vier g roßen I
kann Nachhaltigkeits- und Klimapolitik als Hebel zur
Lösung weltpolitischer Probleme genutzt werden.
Erstens kann eine weitsichtige Klimaschutz- und
Nachhaltigkeitspolitik zu einem Modernisierungsprojekt
der Weltwirtschaft werden. Sie kann ökonomische Entwicklungschancen eröffnen, indem sie Innovationen
inspiriert, Investitionsmöglichkeiten und nachhaltige
Beschäftigung schafft sowie Investitionen in zukunftsfeste Technologien, Unternehmen und Infrastrukturen
lenkt.
Zweitens kann Klimaschutz- und Nachhaltigkeits
politik auf nationaler Ebene zum Gerechtigkeits
projekt werden und Inklusion voranbringen, indem sie
Dekarbonisierungsstrategien sozialverträglich gestaltet,
Ungleichheiten bekämpft und soziale Kohäsion stärkt.
Drittens kann die Bewältigung gemeinsamer nachhaltigkeits- und klimapolitischer Herausforderungen
zum Friedensprojekt werden, denn dadurch können auch
Staaten Vertrauen aufbauen, die sonst nicht miteinander
kooperieren oder in offenem Konflikt stehen. Dies fördert Inklusion auf globaler Ebene, indem Ressourcenund Verteilungskonflikte entschärft werden und Bürgerkriegen sowie Massenflucht entgegengewirkt wird.
Einleitung
Dieses Gutachten beginnt mit einer überfälligen
Klarstellung und endet mit einer begründeten Hoffnung.
Die Klarstellung
In den ersten Dekaden des 21. Jahrhunderts ist die
Weltwirtschaft ins Stocken geraten und die Ungleichheit
hat sich in vielen Staaten weiter verschärft. Diese Entwicklung ist keinesfalls den schädlichen Interventionen
einer wie auch immer gearteten Nachhaltigkeitspolitik
anzulasten. Ganz im Gegenteil sind die entsprechenden
politischen Maßnahmen bisher so kraftlos, dass Erderwärmung und Artensterben sich inzwischen in beängstigendem Tempo vollziehen.
Das gilt, obwohl nahezu alle Voraussetzungen erfüllt
sind, die üblicherweise als förderlich für das Gedeihen der globalen Märkte (und ihrer Kunden) angesehen werden: Viele Nationalstaaten überbieten sich bei
Deregulierung und Steuererlässen für Unternehmen.
Die Notenbanken pumpen unablässig billiges Geld in
die Volkswirtschaften, obgleich die private Liquidität
bereits historische Höchststände erreicht hat. Der Planet wird gegenwärtig von preiswerten fossilen Energieträgern regelrecht geflutet.
Dennoch stagnieren die reiferen und auch manche
der aufstrebenden Ökonomien, sinkt der Realzins auf
Null, geht die Investitionstätigkeit weiter zurück, verfallen in vielen Ländern wichtige Infrastrukturen, ist, nicht
zuletzt in weiten Teilen Europas, die Jugendarbeitslosigkeit dramatisch hoch. Breite Gesellschaftsschichten
erleben Realeinkommensverluste und haben das Gefühl,
den Anschluss an die nationalen und globalen Eliten zu
verlieren. Es muss noch einmal betont werden, dass
diese Krisendynamiken nicht etwa den eher noch zögerlichen Umweltregulierungen geschuldet sind, sondern
der inneren Logik eines fossil betriebenen Industriesystems, das nur im Expansionsmodus Wohlfahrt für viele
generieren kann und zugleich den Großteil der wahren
Wachstumskosten auf vulnerable Einkommensgruppen und künftige Generationen abwälzt – sei es in Form
sozialer Degradierung, durch eklatante Staatsverschuldung oder die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Besorgniserregend ist, dass das herkömmliche
Modell der Weltwirtschaft nicht länger greift, obwohl
die ungedeckten Wechsel auf die Zukunft außer Acht
gelassen werden. Es ist deshalb einleuchtend, dass ein
Wohlstandsmodell, das nicht nur nicht mehr funktioniert, sondern auch jeden Tag größeren Schaden anrich-
1
tet, in Frage gestellt und neu ausgerichtet werden muss.
Dies bedeutet: Transformation, nicht Reparatur.
Damit ist keineswegs gesagt, dass die Eckwerte der
Moderne – Entwicklung im Sinne von materiellem und
kulturellem Fortschritt und Gerechtigkeit im Sinne fairer
individueller Lebenschancen – geschleift werden müssten. Schon gar nicht sollte in diesem Zusammenhang
die kostbarste Errungenschaft der westlichen Demokratie, nämlich das Recht auf selbstbestimmte Persön
lichkeitsentfaltung in einer offenen Gesellschaft, beeinträchtigt werden. Aber der Rahmen, in dem diese Entfaltung erfolgen kann, ist nunmehr neu abzustecken,
was die ureigenste Verantwortung der Politik im Dienste
des Gemeinwohls darstellt. Der entsprechende Auftrag
heute lautet somit Transformation zu einer nachhaltigen Weltgesellschaft und Weltwirtschaft! Die G20-Staaten müssen bei dieser Transformationsaufgabe die Führungsrolle übernehmen. Dafür kann man zwei Befunde
anführen:
Befund 1: Die Transformation zur Nachhaltigkeit ist
möglich
Für den Übergang zum nachhaltigen Wirtschaften
bedarf es sowohl einer verbindlichen Zielvorstellung als
auch eines kraftvollen operativen Konzepts. Trotz erheblicher Widerstände und zahlreicher Rückschläge hat der
Multilateralismus, das Zusammenwirken der Nationen
auf internationaler Ebene, namentlich im UN-System, im
Jahr 2015 mit der Proklamation der in der Agenda 2030
zusammengefassten Ziele für nachhaltige Entwicklung
(Sustainable Development Goals – SDGs) und der Unterzeichnung des Pariser Übereinkommens unter dem Dach
der Klimarahmenkonvention zum globalen Klimaschutz
eine bedeutsame gemeinsame Zielorientierung hervorgebracht. Sie wird zu Recht als historischer Erfolg eingestuft. Mehr noch: Die Agenda 2030 und das Pariser
Übereinkommen bilden gegenwärtig die einzigen ehrgeizigen Vorhaben, an denen sämtliche Nationen beteiligt sind. Diese beiden Menschheitsprojekte könnten
also Akteure zusammenbinden, die in anderen Zusammenhängen nicht kooperieren oder sogar ernsthafte
Konflikte austragen. Wie kann diese ehrgeizige Vision
mit konkretem Leben erfüllt werden? Welche Schritte
sollten dazu vor allem die G20-Staaten tun?
Bevor auf diese Fragen Antworten gegeben werden, stellt der WBGU unmissverständlich klar, dass das
heute weitestgehend globalisierte Projekt der Moderne,
3
1 Einleitung
4
der Kampf gegen den Klimawandel, scheitern wird,
wenn die den multilateralen Prozessen und Institutionen 2015 mühsam abgerungene globale Zielorientierung nicht ernst genommen wird: Die Klimakrise allein
hat sich in den letzten Jahren dramatisch zugespitzt,
und zwar völlig im Einklang mit den bestmöglichen Projektionen der internationalen Wissenschaft. Anders als
vor wenigen Jahren wird dies in der Wissenschaft kaum
noch bestritten und nur noch von politischen Akteuren bekämpft, die sich „postfaktisch“, also ausdrücklich
jenseits von Wahrheit und Wirklichkeit positionieren.
Die Pariser Beschlüsse, insbesondere die Vereinbarung,
die menschengemachte Erderwärmung auf 1,5–2 °C zu
beschränken, stellen eine angemessene weltpolitische
Reaktion auf die nicht mehr zu leugnende Bedrohung
dar. Die Umsetzung dieser Beschlüsse erfordert einen
historisch einzigartigen Kraftakt einer solidarischen,
evidenzbasierten Modernisierung.
Dies wird in Kapitel 2 näher erläutert, nicht zuletzt
mit Blick auf die Tatsache, dass der Klimawandel längst
in eine gefährliche Nähe der roten Linien des Übereinkommens von Paris gerückt ist. Aber auch andere planetarische Grenzen, innerhalb derer sich zivilisatorischer Fortschritt einigermaßen sicher entfalten kann,
sind nicht mehr weit entfernt: Wasserressourcen,
fruchtbare Böden und biologische Vielfalt geraten unter
immer größeren Druck, während der Eintrag von Schadund Giftstoffen in die natürliche Umwelt nahezu exponentiell zunimmt. Die kaum reversible Vermüllung der
Weltmeere (WBGU, 2013) ist der vielleicht skandalöseste Ausdruck dieser besorgniserregenden Entwicklung. Die Agenda 2030 mit ihren 17 Fundamentalzielen
für nachhaltige Entwicklung (SDGs) trägt dieser hochdimensionalen Herausforderung Rechnung. Doch nach
Auffassung des WBGU ist die Bewältigung der Klima
krise die conditio sine qua non für die Weltgesellschaft
im 21. Jahrhundert. Entsprechend intensiv setzt sich das
vorliegende Papier mit dieser Problematik auseinander.
Die Beschränkung der Erderwärmung auf weniger
als 2 °C kann – so der Stand der besten wissenschaftlichen Einsicht – nur gelingen, wenn das globale Wirtschaftssystem bis 2050 weitestgehend dekarbonisiert
ist. Der entsprechende Transformationspfad muss sofort
eingeschlagen werden, so dass die weltweiten Emissionen bereits gegen 2020 ihren Scheitelpunkt überschreiten können. Dies wird in Kapitel 2 näher begründet. Der
WBGU erörtert auch alternative Szenarien, welche weniger auf rasche Transformationsanstrengungen heute als
vielmehr auf massive großtechnische Interventionen
(„Geoengineering“) später setzen (Kasten 3.2-1). Nach
Ansicht des WBGU sind solche Strategien in mehrfacher
Hinsicht unverantwortlich. Ob sogenannte „negative
Emissionen“ durch risikoarme Maßnahmen, wie Aufforstungskampagnen, nach der Jahrhundertmitte die Dekarbonisierung ergänzen sollten, kann die Forschung heute
noch nicht angemessen beantworten. Dass solche Maßnahmen den schnellstmöglichen Ausstieg aus der fossilen Wirtschaft nicht ersetzen können, ist jedoch evident.
Deshalb sollten alle Anstrengungen auf die Entwicklung
einer Transformations- und Dekarbonisierungsagenda
2050 gerichtet sein.
Befund 2: Internationale Krisen und eine
kooperations- und demokratiefeindliche
Gegentransformation gefährden den Übergang zur
Nachhaltigkeit
Der Erfolgsgeschichte der Pariser Klimabeschlüsse und
der Agenda 2030 stehen bi-, multi- und internationale Krisen entgegen: Kriege, Bürgerkriege, transnationaler Terrorismus und Massenflucht sind beherrschende
Themen der Weltpolitik. Ernst zu nehmende Spannungen und politische „Eiszeiten“ erschweren die Kooperation zwischen relevanten Akteuren, auch zwischen
G20-Staaten. Auch zehn Jahre nach dem Ausbruch der
globalen Finanzmarktkrise stehen Verschuldungs- und
Bankenkrisen, mit ihren negativen Wirkungen auf Steuereinkommen und Wachstum, weiterhin auf der internationalen Tagesordnung. Die EU, das Paradebeispiel für
regionale Staatenkooperation, steckt in einer Existenzkrise. Der deutsche Diplomat, ehemalige Staatssekretär
des Auswärtigen Amtes und Präsident der Münchener
Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, spricht von
einer drohenden Ära des Weltordnungszerfalls. In einem
solchen krisengetriebenen Umfeld besteht die Gefahr
einer Verdrängung der Nachhaltigkeitstransformation
an die Ränder der G20-Tagesordnung.
Die internationalen Turbulenzen finden ihre Entsprechung in krisenhaften Entwicklungen vieler Gesellschaften, auch innerhalb der G20. Die Wahrnehmung, „die
Globalisierung“ erzeuge wachsende Disparitäten und
Ungleichheiten sowie soziale Fliehkräfte, hat sich ausgebreitet. Die Folgen der Finanzmarktkrisen haben oft
die Ärmsten zu tragen, während leistungsfähige multi
nationale Unternehmen durch systematische Steuervermeidungsstrategien ihre Beiträge zur Finanzierung
öffentlicher Güter reduzieren. Die OECD schätzt die entsprechenden weltweiten staatlichen Einnahmeverluste
auf 100–240 Mrd. US-$ pro Jahr (OECD, 2015). Die
„Panama Papers“ sind zu einem Symbol dafür geworden, dass sich auch wohlhabende Bevölkerungsschichten durch Steuerflucht der Verantwortung für das
Gemeinwohl entziehen. Diese Dynamiken begünstigen den Eindruck, die Globalisierung sei ein Elitenprojekt, was in vielen Ländern zum Aufstieg eines autoritären, völkischen Nationalismus beigetragen hat. „Our
country first“-Bewegungen sind Absagen an internationale Kooperation und an den Schutz globaler öffentlicher Güter. Damit steht der „Großen Transformation
zur Nachhaltigkeit“ (WBGU, 2011) eine autoritäre, neonationalistische Gegentransformation gegenüber, die die
Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaften, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie bedroht.
Die deutsche G20–Präsidentschaft sollte an dieser
Wegscheide Richtungen und Lösungen für den Übergang zu einer nachhaltigen, auf Kooperation basierenden
Weltgemeinschaft aufzeigen. Gelingt dies nicht, ist zu
befürchten, dass Nachhaltigkeitspolitik und Ansätze
funktionierender globaler Governance genauso wie die
Einleitung 1
Errungenschaften der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in den Strudel der globalen Konfrontationen und
der internen Krisen vieler G20-Staaten hineingezogen
werden.
Die Handlungsperspektive des WBGU
Die historischen Beschlüsse von Paris 2015 und die
Agenda 2030 fallen in eine Zeit brisanter und eskalierender nationaler wie internationaler Konflikte, die
kurzfristiges Krisenmanagement erfordern, viel politische Aufmerksamkeit binden und deshalb langfrist
orientierte
Nachhaltigkeitsreformen
erschweren
könnten. Gerade in dieser Situation ist politische Führung sowie Weit- und Weltsicht gefragt, um zu verhindern, dass die Pariser Beschlüsse und die Agenda 2030
auf der Prioritätenliste der internationalen Politik „nach
hinten durchgereicht“ werden.
Aufbauend auf Vorarbeiten der chinesischen Präsidentschaft (z. B. der „Action Plan on the 2030 Agenda
for Sustainable Development“; G20, 2016a) bietet die
deutsche G20-Präsidentschaft im Jahr 2017 eine exzellente Gelegenheit, die notwendige Nachhaltigkeitstransformation nicht isoliert von, sondern in Verbindung mit
den anderen „Großbaustellen der Weltpolitik“ anzugehen. Der WBGU empfiehlt der G20, die Nachhaltigkeitstransformation so auszugestalten, dass sie zugleich zu
dem
>> zentralen Modernisierungsmotor der stagnierenden
Weltwirtschaft,
>> Gerechtigkeitsprojekt einer auseinanderdriftenden
Weltgemeinschaft und
>> internationalen Friedens- und Kooperationsprojekt
in Zeiten grassierender Gewalt in vielen Weltregionen
wird.
Der WBGU entwickelt hierzu in Kapitel 3 ein Narrativ, das sich auf sein bereits 2011 vorgestelltes Szenario
zur Großen Transformation stützt (WBGU, 2011), dieses im Lichte jüngster Erkenntnisse fortschreibt und in
ein Bündel konkreter Empfehlungen für Entscheidungsträger (von der Regierung bis zum Konsumenten) übersetzt.
Eine Grundvoraussetzung für die Umsetzung dieser Vorschläge ist das Leitbild des gestaltenden Staa
tes: öffentliche Institutionen, Markt, Zivilgesellschaft
und Wissenschaft müssen in eine neue Balance gebracht
werden, um den Übergang zur Nachhaltigkeit als glo
bales Modernisierungsprojekt voranzubringen. Die erste
große Globalisierungskrise zwischen 1910 und 1930
versetzte die damals führenden Industrienationen in
einen Zustand gefährlicher Nervosität und provozierte
einen hysterischen Nationalismus, der die intellektuelle,
kulturelle und technologische Kreativität dieser Epoche erstickte, internationale Initiativen wie den Völkerbund lahmlegte und letztlich in zwei Weltkriege mündete. Einzig die US-amerikanische Politik des New Deal
entzog sich der Dynamik nationalistischer Austeritätspolitik und baute gegen den wirtschaftlichen Niedergang wohlfahrtsstaatliche Barrieren ein. In der heutigen
Globalisierungskrise ist ein neuer „Deal“, ein (globaler)
Gesellschaftsvertrag zur Nachhaltigkeit und Inklusion erforderlich, der die Grenzen der Nationalstaaten
übersteigt und die Überwindung des gegenwärtigen
Stagnationszustands der Weltwirtschaft mit dem Projekt der Wiederherstellung des Friedens zwischen Zivili
sation und Natur verbindet.
% des globaDie G20-Staaten produzieren 80
len Sozialprodukts (World Bank, 2016a) und 82 % der
Treibhausgase aus fossilen Energieträgern (IEA, 2015a).
Sie sind daher die essenziellen Gestalter des politischen
und sozioökonomischen Weltgeschehens und damit die
Hauptadressaten dieser Studie. Themen wie Innovationen, Investitionen und Infrastrukturen finden sich regelmäßig auf der G20-Agenda; 2016 ist noch die hochrelevante Frage der Begrenzung gesellschaftlicher Disparitäten – Stichwort: Inklusion – hinzugekommen (G20,
2016b). Damit sind die zentralen Begriffe benannt,
um welche dieses Sondergutachten kreist: Innovation,
Infrastruktur, Investition und Inklusion, also die „vier
großen I“. Deutschland sollte seine G20-Präsidentschaft
2017 dazu nutzen, diese Begriffe in einer geschlossenen Fortschrittsvision zusammenzubringen. Dafür gibt
der WBGU eine Reihe von Anregungen, die in den Kapiteln 3 und 4 ausgeführt werden.
Damit die einschlägige Debatte ins Konkrete überführt werden kann, bringt der WBGU insbesondere zwei
neuartige Politikelemente ins Spiel, nämlich den deka
dischen Klimaschutzfahrplan und den transformati
ven Staatsfonds. Was das erste Element angeht, entwickelt der WBGU mit Blick auf die neuesten Forschungsresultate und Technologieperspektiven einen Fahrplan
für den durch die Agenda 2030 und das Pariser Übereinkommen de facto vereinbarten Übergang vom fossil-nuklearen zum effizient-erneuerbaren Wirtschaften.
Dabei werden explizit die Neuerungen benannt, die in 5bzw. 10-Jahresschritten in den relevanten sozioökonomi
schen Sektoren bewirkt werden müssen. Dazu gehört die
schnelle Substitution der Kohle im Energiesektor ebenso
wie die Elektrifizierung des Transportsektors weit vor
2050 und die umgehende Nachhaltigkeits
reform im
Ernährungssektor. Als möglicherweise entscheidendes Modernisierungsinstrument wird den G20-Staaten
die Einrichtung von Zukunftsfonds empfohlen, inspiriert durch Institutionen wie den durch Erdöl- und Erdgaseinnahmen gespeisten staatlichen Pensionsfonds
Norwegens (Statens pensjonsfond utland), jedoch in
Absicht und Wirkung weit über diesen hinausgreifend.
Mit solchen transformativen Staatsfonds könnten die in
der Nachhaltigkeitsverantwortung stehenden Staaten zu
proaktiven Gestaltern des Wandels werden, wobei sich
eine Reihe von Optionen anbieten: Direkte Investitio
nen in Zukunftsprojekte, Public-Private Partnerships zur
Mobilisierung und Hebelung privater Liquidität, Marktpräsenz im Sinne von Bundesaktionären (Corneo, 2015)
oder die fiskalische Abfederung sozialrelevanter Konver
sionsprozesse.
Am deutschen Beispiel lässt sich dieser Doppelansatz
ausgezeichnet illustrieren: Die nach Paris 2015 notwendig gewordene Fortschreibung des nationalen Klima-
5
1 Einleitung
schutzplans wird sich an den großen I orientieren müssen, insbesondere was den vollständigen Ausstieg aus
der Kohlenutzung in der vierten Dekade des 21. Jahrhunderts angeht. Den betroffenen Regionen muss einerseits eine Modernisierungsperspektive aufgezeigt werden (etwa der Aufbau konkurrenzfähiger industrieller Kapazitäten im Energiespeicherbereich), andererseits braucht der Wandlungsprozess Fördermittel und
sozialpolitische Flankierungen, wenn er im erforderlichen Zeitrahmen gelingen soll.
Der Beirat geht sogar noch einen weiteren Konkretisierungsschritt, indem er Überlegungen zur Finanzierung eines „Zukunftsfonds Deutschland“ und seiner Entsprechungen in anderen G20-Staaten anstellt
(Kasten 3.3-1). Nach Ansicht des WBGU ist dafür eine
strukturelle Steuerreform ins Auge zu fassen, die sich
an den Erfordernissen der Agenda 2030 und des Pariser Übereinkommens orientiert und die zum einen
notorische Externalitäten (wie Umweltzerstörung und
Gesundheitsschäden) nicht länger ignoriert sowie zum
anderen dazu beiträgt, gesellschaftliche Ungleichheiten signifikant abzubauen. Neben der progressiven CO2Bepreisung darf in diesem Zusammenhang auch die Erbschaftsthematik kein Tabu mehr darstellen.
6
Die Hoffnung
Wie eingangs unterstrichen, hat sich das Nachkriegsmodell der globalisierten Wertschöpfung auf der Basis
fossiler Energieträger von selbst festgefahren. Seine
intergenerationellen Kollateralschäden sind bei diesem
Negativurteil noch gar nicht berücksichtigt. Der Beirat
ist jedoch der Ansicht, dass sich mit der nachhaltigen
Umgestaltung dieses Modells eine doppelte Dividende
erzielen ließe: Nicht nur würde dadurch eine fatale
Degradierung der globalen Umwelt verhindert, sondern
auch die Grundlage für eine neue ökonomische Dynamik
mit positiven Auswirkungen auf Beschäftigung, Wohlstand und Teilhabe geschaffen. Zugespitzt formuliert
spricht vieles dafür, dass nicht die Weltwirtschaft trans
formiert werden muss, um das Klima zu retten, sondern
dass die für die Bewahrung der natürlichen Lebensgrund
lagen erforderlichen Innovationen die Weltwirtschaft ret
ten werden! Denn die in Kapitel 3 umrissene Dekarbonisierung ist nichts weniger als eine industrielle Revolution im Erdmaßstab.
Wie der WBGU in Kapitel 4 näher ausführt, dürfte
die Transformationsdividende sogar noch höher ausfallen: Denn Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik kann
dazu beitragen, den inneren und äußeren Frieden zu
bewahren, indem sie Ressourcen- und Verteilungskonflikte entschärft und damit Bürgerkriegen und Massenflucht entgegenwirkt. Im Gegensatz dazu untergräbt die
schrankenlose Ausbeutung der Natur den Frieden zwischen den Nationen. Klimaschutz und die Agenda 2030
können zum Modernisierungs-, Gerechtigkeits- und
Friedensprojekt werden.
Der WBGU empfiehlt der G20 folgende Argumentation für die Ausrichtung der Weltwirtschaft an der
Agenda 2030 und dem Pariser Klimaübereinkommen:
1. Nachhaltigkeitspolitik ist auch in weltpolitisch
schwierigen Zeiten kein Luxus. Eine Verschleppung
der Umsetzung des Übereinkommens von Paris und
ein ungebremster Klimawandel werden wie Brandbeschleuniger für bereits existierende und zukünftige Konflikte in der Weltgesellschaft wirken. Viele
Gesellschaften würden durch die Folgen einer
unkontrollierten globalen Erwärmung überfordert
und destabilisiert (WBGU, 2008, 2014a).
2. Die Agenda 2030 ist eine ambitionierte, zukunftsorientierte Antwort auf die gesellschaftlichen Fliehkräfte, globalisierungsskeptische Sorgen vieler Menschen und nationalistische Angstreaktionen, die in
vielen Ländern um sich greifen. Es wird immer deutlicher, dass die Dekarbonisierung und der Aufbau
ressourcenschonender Kreislaufwirtschaften nur in
Verbindung mit sozialen Reformen und der Schaffung von Entwicklungs- und Lebensperspektiven
für alle Menschen gelingen können. Eine solche Perspektive stellt sich sowohl gegen autoritär-nationalistische, internationale Kooperation ablehnende
Bewegungen als auch gegen verengte wirtschaftsliberale Perspektiven, die lange die Folgen sozialer
Ungleichheit und Segregation ignoriert haben.
3. Nach den Beschlüssen von Paris kann gerade die
Klimapolitik, über zwei Jahrzehnte ein Symbol
blockierten Multilateralismus, zum Hoffnungsträ
ger für eine erneuerte Kultur globaler Kooperation
in Zeiten gefährlicher internationaler Spannungen
werden. Beide Weltnachhaltigkeitsabkommen sind
zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht massiv von
den G20-Staaten vorangebracht werden.
4. Mit dem Pariser Klimaübereinkommen und der
Agenda 2030 stehen Kooperations- und Zukunftsperspektiven eröffnende Politikentwürfe zur Verfügung, die den destruktiven Wirkungen von
Renationalisierungen in vielen Gesellschaften sowie
Konflikt- und Gewalteskalationen im internationalen System entgegengestellt werden können. Es
lässt sich demonstrieren, dass die globale Transfor
mation zur Nachhaltigkeit im Effekt auch ein Moder
nisierungs-, Gerechtigkeits- und Friedensprojekt sein
kann. Eine kluge Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik dient der Modernisierung der Weltwirtschaft
und eröffnet ökonomische Entwicklungschancen, weil
sie erhebliche Investitionsmöglichkeiten und nachhaltige Beschäftigung schafft sowie Investitionen
aus unproduktiven und spekulativen Anlageformen
in zukunftsfeste Branchen und Unternehmen lenkt.
Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik ist Gerech
tigkeitspolitik, wenn sie Dekarbonisierungsstrategien
sozialverträglich gestaltet, Ungleichheiten effektiv
bekämpft und die soziale Kohäsion stärkt. Und Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik kann dazu beitragen, den Frieden zu bewahren, indem sie Ressourcenund Verteilungskonflikte entschärft und damit Bürgerkriegen und Massenflucht entgegenwirkt.
5. Die Dekarbonisierung nimmt in der Nachhaltigkeitstransformation eine zentrale Rolle ein: Sie ist ein
Einleitung 1
Einleitung 1
essenzieller Baustein der Agenda 2030, denn ohne
die Bekämpfung des Klimawandels ist die Umsetzung der SDGs, insbesondere die radikale Reduzierung von Armut und Ungleichheit, nicht möglich.
Gleichzeitig wird die Dekarbonisierung nur im Kontext der SDGs gelingen, beispielsweise durch den
massiven Ausbau erneuerbarer Energien bei gleichzeitiger Schaffung des Zugangs zu moderner Energie
für Milliarden in Energiearmut lebender Menschen,
sowie durch den sozialverträglichen Umbau klimaschädlicher Produktion und Branchen.
6. Als globales Modernisierungs-, Gerechtigkeits- und
Friedensprojekt erfordert eine transformative Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik:
• Eine Neuausrichtung von technologischen und
sozialen Innovationen, damit Wirtschafts- und
Wohlstandsentwicklung innerhalb der Leitplanken des Erdsystems möglich werden;
• Einen raschen klimaverträglichen und ressourcenschonenden Umbau der zentralen Infrastrukturen
der nationalen Ökonomien und der Weltwirtschaft;
• Die Schaffung von entsprechenden Rahmenbedingungen, um einen Investitionsschub für die Nachhaltigkeitstransformation auszulösen;
• Deren Verknüpfung mit dem handlungsleitenden
Prinzip der sozialen Inklusion, also von Gerechtigkeit und Teilhabe, weil diese sich nicht von
allein ergibt und zugleich Bedingung sowie Ziel
einer gelingenden Gesellschaftstransformation zur
Nachhaltigkeit darstellt.
Um die Transformation zu beschleunigen und an den
„vier großen I“ auszurichten, unterstreicht der WBGU
die Idee eines gestaltenden Staates, eingebettet in ein
neues Gleichgewicht aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft unter Einschluss der Wissenschaft, und schlägt
eine an der Vision der Agenda 2030 orientierte Steuerreform vor, um transformative Staatsfonds zu generieren,
die helfen, Dekarbonisierungsstrategien umzusetzen.
7
8
Klimaschutz: Die Herausforderung
von Paris
Die folgenden Überlegungen stellen den Klimaschutz,
seine völkerrechtlich neue Verankerung und die daraus
erwachsenden Handlungserfordernisse ins Zentrum, vor
allem in Bezug auf die weltweiten Infrastrukturen. Nur
wenn auch die anderen Nachhaltigkeitsziele berücksichtigt werden, kann eine Strategie zum Klimaschutz
einen erfolgreichen Beitrag zu einem globalen Modernisierungs-, Gerechtigkeits- und Friedensprojekt leisten
(Kap. 4).
2.1
Was in Paris beschlossen wurde
Das am 12. Dezember 2015 auf der Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention (United Nations
Framework Convention on Climate Change, UNFCCC)
verabschiedete Übereinkommen von Paris (Paris Agreement) ist ein Meilenstein der Klimapolitik. Sein zentraler Erfolg ist die Festlegung verbindlicher Qualitätsziele für den Klimaschutz für nahezu die gesamte
Staatengemeinschaft.
Das Übereinkommen von Paris ist ein völkerrechtlicher Vertrag im Sinne des Wiener Übereinkommens
über das Recht der Verträge (Wiener Vertragsrechtskonvention, 1969) und entfaltet – dem Mandat von Durban
entsprechend – grundsätzlich Bindungswirkung für die
Vertragsparteien (pacta sunt servanda; Schlacke, 2016;
Bodle et al., 2016).
Nichtsdestotrotz entfalten die jeweiligen Regelungen
des Übereinkommens von Paris eine unterschiedliche
Reichweite im Hinblick auf ihre Verbindlichkeit: Es kann
sich um Ziele, konkrete Verpflichtungen, ausfüllungs
bedürftige Rahmenvorgaben oder lediglich Empfehlungen handeln. Vorschriften, die ein konkretes Handeln, Dulden oder Unterlassen vorschreiben, sind indes
die Ausnahme. Auch der Adressatenkreis kann unterschiedlich ausfallen (Vertragsstaaten, Industriestaaten,
Entwicklungsländer, Sekretariat usw.). Insoweit ist die
Verbindlichkeit des Abkommens jeweils von der Ausgestaltung der Einzelvorschriften abhängig. Die Positionierung der G20-Staaten zur Umsetzung des Übereinkommens von Paris ist daher von großer Bedeutung.
Das Ziel in Art. 2.1 (a), den Anstieg der globalen
Mitteltemperatur deutlich unter (well below) 2 °C im
Vergleich zum vorindustriellen Niveau zu halten und
Anstrengungen zu verfolgen, den Temperaturanstieg
2
sogar auf 1,5 °C zu begrenzen, ist für alle Vertragsparteien verbindlich (Frank, 2016). Erstmalig hat sich die
Staatengemeinschaft damit völkerrechtlich auf ein quantifiziertes Klimaschutzziel geeinigt. Hierdurch wird die
„gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems“
aus Art. 2 der Klimarahmenkonvention konkretisiert
(WBGU, 2014a; Morgenstern und Dehnen, 2016).
Erst durch weitere Konkretisierung werden sowohl das
2 °C-Ziel als auch das 1,5 °C-Ziel vollziehbar, kontrollierbar oder sanktionierbar sein (Schlacke, 2016).
Auch das an alle Vertragsstaaten gerichtete globale
Langfristziel aus Art. 4.1, den Scheitelpunkt der Treibhausgasemissionen so schnell wie möglich zu erreichen,
gefolgt von rascher Reduktion, um in der zweiten Hälfte
des Jahrhunderts ein Gleichgewicht zwischen anthropogenen Emissionen durch Quellen und dem Abbau von
Treibhausgasen durch Senken zu erreichen, ist ein zwar
verbindliches Ziel, das aber ohne weitere Konkretisierung ebenfalls weder vollziehbar, kontrollierbar noch
sanktionierbar ist. Bezweckt wird eine Treibhausgasneutralität in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, die
nicht ausschließlich durch Vermeidung von Treibhausgasemissionen erreicht werden muss, sondern auch
offen ist für auf die Herstellung von CO2-Senken gerichtete Geoengineering-Maßnahmen (z. B. Aufforstung,
Meeresdüngung, Ozean-Alkalinisierung; M
orgenstern
und Dehnen, 2016). Nicht erfasst sind dagegen Maßnahmen des Solar Radiation Management, d. h. solche
Geoengineering-Technologien, die eine Temperaturbegrenzung durch Abschirmung von Sonneneinstrahlung
bezwecken (Kasten 2), denn Sinn und Zweck sowie
Wortlaut des Art. 4.1 („removals by sinks of greenhouse
gases“) sind auf Emissionen und Senken von Treibhausgasen beschränkt. Senken sind im Sinne von Art. 1.8
UNFCCC solche Vorgänge, mit denen klimawirksame
Stoffe aus der Atmosphäre entfernt werden (z. B. CO2Aufnahme durch Wälder, Meere, technische Verfahren).
Diese Zielsetzungen sollen vor allem durch die
nationalen Klimaschutzbeiträge (Nationally Determined
Contributions – NDCs) erreicht werden. NDCs können Klimaschutz und Anpassung bezwecken. Sie dienen nicht dazu, einen Umgang mit Verlusten und Schäden (Loss and Damage) zu finden (Art. 3). Die Vertragsparteien werden verpflichtet, NDCs zu melden, diese
alle fünf Jahre zu überarbeiten, zu verschärfen und
erneut zu melden sowie über ihre Entwicklung, Erreichung und Einhaltung klar und transparent zu berich-
9
2 Klimaschutz: Die Herausforderung von Paris
10
ten (Art. 4.2, 4.3, 4.8, 13.7 (b)). Es ist das Tätigwerden
an sich geschuldet (Morgenstern und Dehnen, 2016),
ohne dass konkrete Teilziele vorgegeben werden. Hierin liegt eine Chance und Verantwortung für die Nationalstaaten, denen die Umsetzung der Pariser Ziele übertragen wird. Da die Nichterreichung oder Nichteinhaltung gemeldeter Klimaschutzbeiträge nach dem Übereinkommen von Paris nicht sanktionierbar sind, müssen
sie nationale Vorkehrungen treffen, die die Durchsetzung der eingegangenen Verpflichtungen gewährleisten
bzw. bei Nichterreichung Sanktionen vorsehen. Es ist
ausdrücklich verboten, Emissionsreduktionen doppelt
zu zählen (Art. 6.5). Das UNFCCC-Sekretariat wird verpflichtet, NDCs und Anpassungsmaßnahmen festzuhalten (Art. 4.12, 7.12).
Die bisher gemeldeten Intended Nationally Determined Contributions (INDCs) oder die NDCs sind nicht
immer quantifiziert oder quantifizierbar. Um sie am
Langfristtemperaturziel (deutlich unter 2 °C) und den in
Art 4.1 formulierten globalen Langfristzielen zu Emissionen zu messen, und um die Bemühungen der Vertragsstaaten zu ihrer Einhaltung überprüfen zu können, sollten einheitliche Standards für die Meldung von
NDCs entwickelt werden. Der Erfolg des Übereinkommens ist zu einem großen Teil von der Steigerung der
nationalen Beiträge abhängig (Arens et al., 2015).
Das Übereinkommen von Paris setzt im Unterschied
zum Kyoto-Protokoll auf die Verantwortungsübernahme
aller Staaten, unabhängig davon, ob es sich um Industrie-, Schwellen- oder Entwicklungsländer handelt. Das
Übereinkommen rekurriert nichtsdestotrotz auf ein
Kernprinzip der Klimarahmenkonvention: das Prinzip
der „common but differentiated responsibilities“ (Art. 3
UNFCCC; Art. 2 Abs. 2 Übereinkommen von Paris). So
wird Industriestaaten eine Führungsrolle z. B. bei der
Festlegung von NDCs zugewiesen (Schlacke, 2016).
Die Förderung von Anpassungsmaßnahmen ist
Teil der Zielbestimmungen des Pariser Übereinkommens (Art. 2 Abs. 1 lit. b) geworden. Anpassung an
den Klimawandel hat dadurch eine Aufwertung erfahMorgenstern und Dehnen, 2016; Doelle, 2016)
ren (
und sollte weiter gestärkt werden. Zunächst können
Anpassungsmaßnahmen betroffene Bevölkerungsgruppen gegen bereits eingetretene bzw. wahrscheinlich eintretende Folgen des Klimawandels wappnen und damit
auch indirekt Fluchtursachen bekämpfen. Aus Sicht des
WBGU kann Flucht vor den bzw. die Migration in Reaktion auf die Folgen des Klimawandels als ultima ratio
der Anpassung verstanden werden. Bislang wird das
Thema Migration unter „displacement“ (Verdrängung)
lediglich in der völkerrechtlich unverbindlichen Begleit
entscheidung zum Übereinkommen von Paris, beispielsweise unter der Überschrift der Verluste und Schäden,
behandelt und dem Warschau-Mechanismus unterstellt
(UNFCCC, 2015b: §§ 50–51; WBGU, 2014a).
Der Ausgleich von durch den Klimawandel erzeugten
Verlusten und Schäden fand keine Berücksichtigung.
Verluste und Schäden werden zwar in Art. 8 P
ariser
Übereinkommen aufgegriffen, die Vertragsparteien stell-
ten jedoch klar, dass sie Schadenersatz oder H
aftung für
klimawandel(mit)bedingte Schäden nicht als von dieser
Regelung erfasst betrachten (Morgenstern und Dehnen,
2016; Doelle, 2016). Allein die Erwähnung, dass Verluste und Schäden durch den Klimawandel ein Problem
sind und behandelt werden müssen, reicht nach Ansicht
des WBGU allerdings nicht aus. Fast ist man geneigt, eine
derart schwache Ausgestaltung als ein „von der Agenda
nehmen“ zu interpretieren. Es sollten vielmehr konkrete rechtliche Folgen an die Verursachung von Verlusten und Schäden geknüpft werden, etwa Ansprüche
auf Schadenersatz für die kleinen Inselstaaten verankert
werden. Der WBGU empfiehlt den Beginn einer Diskussion, wer für diese Schäden aufkommen muss, wie sie
ausgeglichen werden und wer, wo und wie Ansprüche
durchsetzen kann. Nur so können zukünftige Konflikte
verhindert werden.
Das Thema der Klima(schutz)finanzierung fand als
Teil der Zielbestimmungen in Art. 2.1 (c) an hervorgehobener Stelle Eingang in das Übereinkommen (Morgenstern und Dehnen, 2016). Art. 9 rekurriert auf die Verpflichtung der Industriestaaten unter der Klimarahmenkonvention, Entwicklungsländer finanziell zu unterstützen. Konkretere Verpflichtungen, wie beispielsweise 100
Mrd. US-$ jährlich bereitzustellen, wurden allerdings
nur in der Begleitentscheidung (§ 54) zum Übereinkommen aufgegriffen (Bodle et al., 2016). Ein rechtsverbindliches, stufenweises Einstellen (phase out) von Subventionen für fossile Brennstoffe konnte nicht durchgesetzt
werden (Doelle, 2016). Vielmehr liegt der Schwerpunkt
der in Paris vereinbarten Maßnahmen bei Transparenz
schaffenden, prozeduralen Vorgaben. Zum einen hält
der WBGU es daher für wichtig, möglichst schnell diesen prozeduralen Rahmen mit Maßnahmen auszufüllen
(Kap. 4.3). Zum anderen sollten die Industrie- und auch
Schwellenländer konkrete finanzielle Verpflichtungen
übernehmen, um Klimaschutz- und Klimaanpassungsmaßnahmen zu unterstützen. Die G20-Staaten sollten
hierbei eine Vorreiterrolle übernehmen.
Insgesamt geht vom Übereinkommen von Paris ein
sehr wichtiges Signal für den internationalen Klimaschutz aus. Der in Paris geschaffene Rahmen muss
zeitnah durch internationale wie nationale Maßnahmen gefüllt werden. Gefragt sind insoweit neben Stan
dardisierungen und dem Monitoring der Klimaschutzbeiträge vor allem ambitionierte zusätzliche Dekarbonisierungsanstrengungen der Vertragsstaaten.
2.2
Erwärmung begrenzen und Klimaextreme
vermeiden
Seit der 15. Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention 2009 in Kopenhagen ist die Begrenzung der
globalen Erwärmung auf 2 °C gegenüber der Zeit vor
der Industriellen Revolution in den internationalen Verhandlungen präsent. Die Klimafolgenforschung zeigt,
dass bei einem Überschreiten dieser planetarischen
Erwärmung begrenzen und Klimaextreme vermeiden 2.2
Abbildung 2.2-1
0,8
0,6
Temperaturanomalien [°C]
Entwicklung der
global gemittelten
Oberflächentemperatur
zwischen 1880 und 2015.
Gezeigt ist jeweils die
Temperaturabweichung
gegenüber dem Mittelwert
der Jahre 1951–1980.
Quelle: WBGU, auf
Grundlage von Daten des
Goddard Institute for Space
Studies (NASA, 2016)
0,4
0,2
0
-0,2
-0,4
1880
1900
Leitplanke gefährliche anthropogene Einflüsse auf das
Wetter und Klima (z. B. vermehrte Extremwetterereignisse, Dürren, Überschwemmungen, Verschwinden von
Gebirgsgletschern, irreversibles Schmelzen des grönländischen Eisschilds, starker Meeresspiegelanstieg) wahrscheinlicher werden; allerdings können auch unterhalb
dieser Grenze Gefährdungen auftreten (WBGU, 1995,
2003, 2009b; UNFCCC, 2015a). Die Erwärmung ist nicht
überall gleich, sondern regional sehr unterschiedlich. So
erwärmt sich etwa die Arktis mehr als doppelt so stark
wie das globale Mittel (Cohen et al., 2014). Auch der
Meeresspiegelanstieg ist regional unterschiedlich ausgeprägt (Rhein et al., 2013). Daher werden sich auch
die Klimafolgen regional stark unterscheiden. Das in
Paris beschlossene Ziel, den Anstieg der durchschnittlichen Oberflächentemperatur nicht nur deutlich unter
2 °C im Vergleich zum vorindustriellen Niveau zu halten, sondern auch Anstrengungen zu unternehmen, um
den Temperaturanstieg auf 1,5 °C zu begrenzen, würde
die Risiken und Auswirkungen der Klimaänderungen
erheblich verringern und ist daher aus Vorsorgegesichtspunkten zu empfehlen. Folgerichtig wäre nur noch eine
zusätzliche Erwärmung von 0,5–1 °C tolerierbar, da die
globale Temperatur von 1880 bis 2015 bereits um etwa
1 °C gestiegen ist (Hansen et al., 2016; Abb. 2.2-1).
Neueste Messungen zeigen, dass jeder einzelne Monat
von Oktober 2015 bis August 2016 die jeweils höchste
Temperatur seit Beginn der Aufzeichnungen aufweist
(NASA, 2016).
Welche Erwärmung erreicht wird, hängt entscheidend von der Menge an CO2 ab, die die Menschheit
noch in die Atmosphäre emittiert. Umfangreiche Analysen haben gezeigt, dass die global gemittelte Lufttemperatur in Bodennähe nahezu linear von der seit Beginn
der Industrialisierung emittierten Gesamtmenge an CO2
abhängt (IPCC, 2014a; Abb. 2.2-2). Um die Erwärmung
1920
1940
Jahr
1960
1980
2000
mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln auf 1,5 °C
bzw. 2 °C zu begrenzen, dürften die zukünftigen kumulativen Emissionen etwa 200 Gt CO2 bzw. 800 Gt CO2 nicht
überschreiten. Diese Zahlen wurden wie folgt abgeleitet: Laut Synthesebericht des letzten Sachstandsberichts
des IPCC (2014a) verblieb im Jahr 2011 noch ein Budget von 400 Gt CO2, um die Erderwärmung auf maximal 1,5 °C zu begrenzen, bzw. 1.000 Gt CO2 für 2 °C (mit
einer Wahrscheinlichkeit von 66 %). In den letzten fünf
Jahren lagen die globalen Emissionen bei etwa 40 Gt CO2
pro Jahr, wovon etwa 32 Gt CO2 auf die Verbrennung
fossiler Brennstoffe, etwa 4 Gt CO2 auf die Zementproduktion und andere industrielle Prozesse sowie etwa 4
Gt CO2 auf Landnutzungsänderungen entfielen (Global
Carbon Project, 2016). In der Summe reduzieren sich
also die Budgets um jeweils 200 Gt CO2, so dass ab 2016
ein Budget von 200 Gt CO2 bis zu Erreichung von 1,5 °C
und von 800 Gt CO2 für 2 °C zur Verfügung stünde.
Verbleiben die globalen Emissionen weiterhin bei
knapp 40 Gt CO2 pro Jahr, würden die kumulierten Emissionen bereits in etwa fünf Jahren ein Niveau erreichen, bei dem die global gemittelte Temperatur mit einer
Wahrscheinlichkeit von 66 % gerade noch unter 1,5 °C
bleibt; das entsprechende Niveau für eine Begrenzung auf 2 °C wäre in 20 Jahren erreicht. Alle zusätzlich
anfallenden Emissionen müssten später durch „negative Emissionen“, d. h. durch Entnahme von CO2 aus der
Atmosphäre, kompensiert werden. Derzeit ist allerdings
wissenschaftlich noch unklar, wie sich negative Emissionen genau auf den globalen Kohlenstoffkreislauf auswirken, und welche Folgen der vorangegangenen Emissionen sie tatsächlich rückgängig machen können (Fuss
et al., 2014). Ebenso unklar ist, wie das Erdsystem insgesamt auf eine schnelle Reduktion der CO2-Konzentration reagieren würde.
In einem Szenario ohne wirksamen Klimaschutz könnte
11
2 Klimaschutz: Die Herausforderung von Paris
Kumulierte anthropogene CO2-Emissionen seit 1870 [Gt CO2]
1.000
5
2.000
3.000
4.000
5.000
6.000
7.000
8.000
9.000
Temperaturabweichung relativ zum Mittel von 1861–1880 [°C]
2100
4
2100
3
2100
2050
2
2050
2050
2030
1
2050
2100
2030
2010
1950
Szenarien
RCP2.6
RCP4.5
RCP6.0
RCP8.5
2000
1980
0
Historisch
RCP Bandbreite
1% pro Jahr CO2
1% pro Jahr CO2 Bandbreite
1890
0
500
1.000
1.500
2.000
2.500
Kumulierte anthropogene CO2-Emissionen seit 1870 [Gt C]
Abbildung 2.2-2
Anstieg der globalen Oberflächentemperatur in Abhängigkeit von den kumulierten CO2-Emissionen. In der Graphik sind
Beobachtungen und Ergebnisse verschiedener Modelle zusammengefasst. Je nach Szenario werden bestimmte Werte kumulativer
Emissionen zu unterschiedlichen Zeitpunkten erreicht (farbige fette Linien und Punkte; die farbig unterlegte Fläche zeigt die
Streuung der Modellergebnisse und Szenarien). Bei diesen Szenarien sind auch die Wirkungen anderer Treibhausgase auf die
Temperatur berücksichtigt. Die dünne schwarze Linie mit der grau unterlegten Fläche als Streubreite zeigt, wie die Erwärmung
ausfallen würde, wenn keine anderen Treibhausgase, sondern ausschließlich CO2 emittiert würde; dabei wurde ein Anstieg des CO2
um 1 % pro Jahr angenommen.
Quelle: IPCC, 2013; Knutti und Rogelj, 2015
12
die Erwärmung am Ende dieses Jahrhunderts über 4 °C
liegen (IPCC, 2014a). Werden alle bisher von den Vertragsstaaten des Pariser Übereinkommens für den Zeitraum bis 2030 angekündigten Klimaschutzmaßnahmen –
(Intended) Nationally Determined Contributions, (I)NDCs
– umgesetzt, würden die Emissionen einem Pfad folgen,
der die Erwärmung auf unter 3–3,5 °C begrenzen könnte
(UNEP, 2015). Die derzeitigen (I)NDCs erreichen, gemessen an einem Business-as-usual-Pfad, im Jahr 2030 etwa
45 % der Emissionsreduktion die notwendig wäre, um auf
einen 2 °C-kompatiblen Pfad zu gelangen (UNEP, 2015).
Um die Erwärmung unter 2 °C (1,5 °C) zu halten, sind
also drastischere – aber durchaus durchführbare – CO2Emissionsreduktionen und ein völliger Stopp bis 2070
(2050) nötig (Kap. 3). Nach Einstellung der Emissionen
bleibt die Lufttemperatur noch einige Jahrhunderte auf
etwa demselben Niveau, das im Wesentlichen durch die
kumulierten Emissionen definiert ist. Nur langsam reduziert sich die Menge an CO2 in der Atmosphäre durch
Aufnahme in Ozean und Biosphäre (Kap. 2.3; Collins et
al., 2013: 1106).
2.3
Nachhaltiger Umgang mit natürlichen und
anthropogenen Kohlenstoffsenken
Wie viel des anthropogenen CO2 langfristig in der Atmosphäre verbleibt und zur globalen Erwärmung beiträgt,
hängt vom Zusammenspiel der CO2-Quellen und -Senken ab. Etwa die Hälfte des seit 1750 emittierten CO2
befindet sich noch immer in der Atmosphäre, die andere
Hälfte wurde wiederum je zur Hälfte vom Ozean und
von der terrestrischen Biosphäre aufgenommen (Ciais et
al., 2013). Langfristig (d. h. im Zeitraum von etwa 1.000
Jahren) nehmen die Meere den überwiegenden Teil des
vom Menschen emittierten CO2 auf.
Durch den bisherigen Eintrag von CO2 ist der pHWert der Meeresoberflächen bereits um 0,1 gesunken,
verglichen mit dem vorindustriellen Wert (Rhein et al.,
2013: 294). Dies entspricht einer Zunahme des Säuregehalts um fast 30 %. Ein Fortschreiten der Versauerung könnte zu kritischen Belastungen mariner Öko-
Nachhaltiger Umgang mit natürlichen und anthropogenen Kohlenstoffsenken 2.3
systeme und Arten führen (z. B. Korallenriffe, kalkbildende Organismen; WBGU, 2006, 2013: 47; Ciais et al.,
2013). Der Grund für die Senkenfunktion des Ozeans ist
der CO2-Anstieg in der Atmosphäre; der CO2-Austausch
zwischen Atmosphäre und Ozean ist durch Partialdruckunterschiede des CO2 getrieben und kaum durch den
Menschen beeinflussbar bzw. aufhaltbar (Abb. 2.3-1).
Ausnahmen sind in Kasten 2.3-2 beschriebene Methoden der Ozean-Alkalinisierung und der Ozeandüngung
(Maßnahmen des „Geoengineering“).
Parallel zur Ozeansenke ist seit Beginn der
Industrialisierung eine steigende Senkenfunktion natürlicher, nicht durch Landnutzungsänderungen betroffener terrestrischer Ökosysteme durch verstärkte Photosynthese und damit vermehrtes Wachstum von Pflanzen zu verzeichnen. Auch dies ist zum Teil begründet in
der zunehmenden CO2-Konzentration der Atmosphäre,
sowie in vermehrten Stickstoffeinträgen, und auch
in Auswirkungen des Klimawandels, die z. B. längere
Wachstumsperioden in mittleren und hohen Breiten zur
Folge haben (Ciais et al., 2013: 487). Der Schutz und die
Wiederherstellung natürlicher Ökosysteme können dazu
beitragen, diese Senkenfunktion aufrechtzuerhalten.
Auch Landnutzungsänderungen, etwa die ver
stärkte
Ausbreitung und höhere Biomassedichte von Wäldern,
tragen zur CO2-Aufnahme bei und kompensieren einen
Teil der ebenfalls durch Landnutzungsänderungen (etwa
Entwaldung) verursachten Emissionen. Die terrestrische CO2-Senke unterliegt starken zwischenjährlichen
Schwankungen und verschwindet in einzelnen Jahren
ganz (Ciais et al., 2013: 504).
Landnutzungsmanagement sowie die Erhaltung und
Wiederherstellung natürlicher Ökosysteme können auf
verschiedene Weise zum Klimaschutz beitragen:
>> Vermeidung von Emissionen durch den Abbau natürB. durch Entwaldung
licher Kohlenstoffvorräte, z.
und Konversion natürlicher Ökosysteme in Ackerflächen,
>> Schutz von Ökosystemen zur Erhaltung der CO2-
Senkenfunktionen der terrestrischen Biosphäre,
>> Förderung der Akkumulation von Kohlenstoff im
Boden oder in der Biomasse auf bewirtschafteten FläB. durch land- und forstwirtschaftliches
chen (z.
Management, Aufforstung),
>> Substitution emissionsintensiver Materialien und
Energieträger durch Nutzung von Biomasse für energetische oder stoffliche Zwecke (z. B. Bioenergie, Holz
als Baustoff).
Da fruchtbare Böden eine knappe, unverzichtbare
und nicht substituierbare Ressource sind, stehen diese
Optionen in Konkurrenz nicht nur untereinander, sondern auch mit anderen Landnutzungserfordernissen
(WBGU, 2009a). Daher sollte jede großskalige Änderung der Landnutzung immer im Kontext der gesamten
Agenda 2030 und der SDGs betrachtet werden. Dabei
geht es nicht nur um das Primat der Ernährung (SDG
Nr. 2: „Den Hunger beenden...“), sondern u. a. auch um
die langfristige Aufrechterhaltung der Bodenfrucht
barkeit, um die Erhaltung von biologischer Vielfalt und
Atmosphäre
1
2
CO2Austausch
nicht direkt
beeinflussbar
Ozean
3
CO2-Austausch
beeinflussbar
CO2Austausch
nur zum Teil
beeinflussbar
Terrestrische Biosphäre
und Biomasseprodukte
Fossile Energieträger
Abbildung 2.3-1
Schema des globalen Kohlenstoffkreislaufs. Die atmosphärische
CO2-Konzentration wird im Wesentlichen bestimmt durch (1)
CO2-Flüsse zwischen Atmosphäre und Ozean. Dabei handelt es
sich um große natürliche Flüsse, die nach heutigem Stand der
Technik kaum direkt durch den Menschen beeinflussbar sind,
(2) CO2-Emissionen aus der Nutzung fossiler Energieträger.
Diese Flüsse sind anthropogen und damit durch den Menschen
kontrollierbar, (3) CO2-Flüsse zwischen der terrestrischen
Biosphäre und der Atmosphäre: Dies sind große, überwiegend
natürliche Flüsse, die nur zum kleinen Teil (vor allem durch
Landnutzungsänderungen bzw. -management) durch den
Menschen beeinflussbar sind. Durch die Ausgestaltung der
Landnutzung lässt sich die Aufteilung des Kohlenstoffs
zwischen Atmosphäre und terrestrischer Biosphäre in Grenzen
verschieben. Diese Maßnahmen sind überwiegend reversibel.
Quelle: WBGU, 2009a: 95
Ökosystemleistungen (SDG Nr. 15) sowie um den langfristigen Ersatz von aus Erdöl gewonnenen Stoffen (z. B.
Plastik) durch biobasierte Produkte. Daher kann die
Landnutzung keinesfalls einseitig zum Zwecke des Klimaschutzes optimiert werden, sei es durch großskalige
Aufforstung oder Bioenergienutzung.
Eine vieldiskutierte Möglichkeit der Schaffung einer
anthropogenen CO2-Senke (d. h. „negativer Emissionen“)
ist die Kombination von Bioenergienutzung mit Kohlendioxidabscheidung und -speicherung (Bioenergy with Carbon Dioxide Capture and Storage – BECCS). Darunter wird
ein Verfahren verstanden, das darauf zielt, der Atmosphäre dauerhaft CO2 zu entziehen, indem Pflanzenmasse
energetisch genutzt wird und das dabei freigesetzte CO2
aus dem Rauchgas abgeschieden und in unterirdischen
Lagerstätten gespeichert wird (Kasten 2.3-1). Der WBGU
rät davon ab, BECCS als großskalige Lösungsoption für
den Klimaschutz zu sehen. Eine limitierte Anwendung
von BECCS auf Grundlage der Nutzung von Abfall- und
Reststoffen und einem Anbau von Energiepflanzen, der
nicht im Konflikt mit Nahrungsmittelproduktion und dem
Erhalt von Ökosystemen steht, kann die Bemühungen,
den anthropogenen Klimawandel zu begrenzen, aber
unterstützen. Bei einem angenommenen Reststoffpotenzial für die energetische Nutzung von 50 EJ könnten
theoretisch etwa 3 Gt CO2 pro Jahr für die Sequestrierung zur Verfügung stehen (WBGU, 2009a: 138). Dies
entspricht in etwa einem Zehntel der derzeitigen jährlichen Emissionen aus der Nutzung fossiler Energieträger.
Auch rät der WBGU davon ab, großskalige
Aufforstungen, Eisendüngung bzw. Alkalinisierung der
13
2 Klimaschutz: Die Herausforderung von Paris
Kasten 2.3-1
Bioenergie und Kohlenstoffspeicherung (BECCS)
Während ihres Wachstums nehmen Pflanzen mittels Photosynthese CO2 aus der Atmosphäre auf und wandeln es in Biomasse um. Ohne menschliche Eingriffe wird der weitaus größte
Teil davon später durch metabolische Prozesse oder durch biologischen Abbau wieder in die Atmosphäre abgegeben. Um der
Atmosphäre das CO2 dauerhaft zu entziehen, könnte die Pflanzenmasse energetisch genutzt werden, wobei das dabei freigesetzte CO2 aus dem Rauchgas abgeschieden und dauerhaft
gespeichert wird. Dieses als BECCS (Bioenergy with Carbon
Dioxide Capture and Storage) bezeichnete Verfahren könnte
also „negative Emissionen“ erzeugen und die atmosphärische
CO2-Konzentration senken. Unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten sind vor einem großskaligen Einsatz dieser Technologie vor allem zwei Fragen zu klären:
Erstens muss gewährleistet sein, dass die genutzte Biomasse
auf nachhaltige Weise gewonnen wurde. Werden hier eigens
angebaute Energiepflanzen verwendet, ergeben sich vielfältige Konkurrenzen mit anderen Landnutzungen, wie z. B.
für Ernährung und Naturschutz. Je nach Anbausystem und
genutzter Landfläche kann der Anbau von Energiepflanzen
selbst erhebliche CO2-Emissionen verursachen. Der WBGU hat
in seinem Gutachten „Zukunftsfähige Bioenergie und nachhal-
Ozeane als weitere Möglichkeiten der Schaffung negativer Emissionen ins Auge zu fassen, da diese mit unterschiedlichsten Problemen, potenziellen Schäden und
schwer oder nicht kalkulierbaren Risiken verbunden
sind (Kasten 2.3-2).
2.4
Transformation der Infrastruktur
14
Die im Übereinkommen von Paris vereinbarten Ziele
bedeuten eine erhebliche Herausforderung für die
Transformation der globalen Infrastrukturen. Gegenüber dem Status Quo müssen Transformationsprozesse radikal beschleunigt werden, um die notwendiTechnologiesprünge zu vollziehen. Zum Beispiel
gen
müssten in der Automobilindustrie Verbrennungs
motoren durch emissionsfreie Antriebstechnologien
ersetzt werden, weit bevor das maximale Effizienzverbesserungspotenzial von Verbrennungsmotoren ausgeschöpft worden ist, was u. a. entsprechende Infrastruktur (z. B. Stromtankstellen) erfordert. Auch im S tädtebau
muss umgesteuert werden. Der in den kommenden
Dekaden zu erwartende gewaltige Urbanisierungsschub
(etwa 2,5 Mrd. zusätzliche Stadtbewohner bis Mitte des
Jahrhunderts) sowie seine ressourcen- und klimaverträgliche Gestaltung sind zentral für eine global nachhaltige Entwicklung. In den Städten wird sich e ntscheiden,
ob die Transformation zur Nachhaltigkeit gelingt (WBGU,
2016a: 5 f.).
Dieses Bewusstsein herrscht jedoch bei vielen Entscheidungsträgern sowie in weiten Teilen der Öffentlichkeit bisher noch nicht vor. Deshalb wären klare Signale der
Entscheidungsträger der G20 an die Wirtschaft sehr hilf-
tige Landnutzung“ (WBGU, 2009a) umfangreiche Analysen
zu nachhaltigen Bioenergiepotenzialen vorgelegt und empfohlen, hierfür prioritär Abfall- und Reststoffe zu verwenden,
da dabei kaum Konkurrenzen zu bestehender Landnutzung
auftreten. Sofern eigens Energiepflanzen angebaut werden,
sollte dies bevorzugt auf marginalen, also wenig fruchtbaren
Flächen geschehen, wobei mehrjährige Anbaukulturen und
Energiegräser grundsätzlich gegenüber einjährigen Kulturen
zu bevorzugen sind (WBGU, 2009a: 6).
Zweitens stellt sich die Frage nach der CCS-Technologie
(Carbon Dioxide Capture and Storage) und den nutzbaren
geologischen Speichern. Die CCS-Technologie selbst ist heute
prinzipiell technisch ausgereift und verfügbar, jedoch noch
nicht großmaßstäblich erprobt. Der Einsatz von CCS bei der
Nutzung oder Förderung fossiler Energieträger führt nicht, wie
in Kombination mit Bioenergie, zu negativen Emissionen, sondern kann nur anthropogene Emissionen verringern.
Da die Verfügbarkeit langfristig sicherer, d. h. gegen die
Atmosphäre abgedichteter CO2-Speicher unklar und die
Akzeptanz ihrer Nutzung schwer vorhersagbar ist, könnte es
zu einer Konkurrenz zwischen BECCS und der Nutzung von
CCS im Rahmen der Energiegewinnung aus fossilen Energieträgern kommen (van Vuuren et al., 2013). In jedem Fall setzt
eine mögliche relevante zukünftige Nutzung von BECCS weitere Forschung und Erprobung voraus.
reich, damit diese einen verlässlichen Planungshorizont
vorfindet.
Hauptfaktor Zeit
Derzeit sind fossile Energien mit 32 Gt CO2 sowie
Zementherstellung und industrielle Prozesse mit 4 Gt
CO2 für den Großteil der jährlichen Treibhausgasemissionen verantwortlich (Global Carbon Project, 2016;
IPCC, 2014a: 45). Diese Emissionen werden in hohem
Maß durch die Ausgestaltung der weltweiten Infrastruktursysteme determiniert. Damit das Klimaziel
von Paris erreicht werden kann, muss die zukünftige
Rate der Dekarbonisierung – gemessen als Reduktion
der Kohlenstoffintensität (t CO2 pro Mio. € des BIP) –
signifikant höher ausfallen als die in der Vergangenheit
beobachtbare Rate. Zwischen 2000 und 2014 ist die
globale Kohlenstoffintensität im Durchschnitt um 1,3 %
jährlich gefallen. Um eine Stabilisierung der globalen
Erwärmung unterhalb von 2 °C zu erreichen, muss die
Kohlenstoffintensität jedoch mit einer Rate von mehr als
6 % pro Jahr reduziert werden (PWC, 2015). Dies kann,
insbesondere vor dem Hintergrund des engen Zeitfensters, nicht allein durch eine Substitution bestehender
Energieerzeugungsinfrastrukturen durch emissionsarme
oder emissionsfreie Alternativen erreicht werden. Vielmehr müssen, neben einem beschleunigten Ausbau der
erneuerbaren Energien, mit gleich hoher Priorität Effizienz- und Suffizienzmaßnahmen in sämtlichen Bereichen
von Wirtschaft und Gesellschaft umgesetzt werden.
Transformationspotenzial nicht unterschätzen
Das Potenzial, die bisherige Energieinfrastruktur schnell
zu erneuern, wird nach Auffassung des WBGU unterschätzt. Ein starker technologischer Wandel findet
Transformation der Infrastruktur 2.4
Kasten 2.3-2
Bewertung des Geoengineering
Der Begriff Geoengineering beschreibt den Versuch, das Klimasystem gezielt zu beeinflussen, um die zukünftige globale Erderwärmung zu reduzieren. Hierbei handelt es sich um
großskalige Eingriffe in ein komplexes System, deren Nebenwirkungen nur unzulänglich verstanden sind. Es lassen sich
zwei grundsätzliche Methoden des Geoengineering unterscheiden: die Manipulation des globalen Strahlungshaushalts
(Solar Radiation Management – SRM), die direkt die eingehende Sonneneinstrahlung beeinflusst, und die Reduktion
der Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre (Carbon
Dioxide Removal – CDR). Beide Methoden sind in der Literatur
ausführlich beschrieben (z. B. The Royal Society, 2009; UBA,
2011; Rickels et al., 2011).
Klimarechnungen mit Erdsystemmodellen haben gezeigt,
dass die meisten der zurzeit diskutierten Verfahren die globale
Erwärmung nur wenig bremsen können (< 8 %) und meist mit
gravierenden Nebenwirkungen auf das Klimasystem und Ökosysteme einhergehen (Keller et al., 2014).
SRM wäre die einzige Methode die Erderwärmung effektiv
zu reduzieren; allerdings wäre die so erreichte Abkühlung der
Atmosphäre mit umfangreichen Nebenwirkungen und Unwägbarkeiten verbunden. Zum einen würde SRM die globale zwischenstaatliche Zusammenarbeit vor bislang nicht gekannte
Herausforderungen stellen, da SRM-Maßnahmen durchaus
von Einzelstaaten zur Verfolgung eigener Zwecke genutzt werden könnten, gleichzeitig aber globale Auswirkungen haben
würden. Weiterhin würde ein zwischenzeitliches Aussetzen
des Geoengineering durch SRM die Erdoberflächentemperaturen in ihren „Normalzustand“ ohne den Eingriff zurück
katapultieren. Ein rasanter Klimawandel innerhalb weniger
Jahre (Keller et al., 2014) mit unabsehbaren Folgen für Menschen und Gesellschaften wäre die Konsequenz. Nicht zuletzt
würde die Anwendung von SRM erheblichen Einfluss auf
Systeme aller Größenordnungen haben, beispielsweise auf die
Monsunzirkulation, lokale Wettermuster, Ozeanzirkulation
und die Ozonschicht. Aus Sicht des WBGU stehen die Risiken
der Anwendung von SRM zur Bekämpfung des Klimawandels
in keinem Verhältnis zu ihrem potenziellen Nutzen. Der WBGU
lehnt die Anwendung von SRM daher ab.
Im Gegensatz zu SRM könnte durch CDR auch das Problem
der Ozeanversauerung adressiert werden und sprunghafte
Veränderungen der Oberflächentemperaturen wie im Falle
eines Stopps der SRM-Anwendung wären weitgehend ausgeschlossen. Vielen CDR-Techniken ist gemein, dass sie extrem
flächenintensiv sind und teilweise erhebliche Nebenwirkungen
auf die Bio- und Geosphäre haben.
>> Ozean-Alkalinisierung: Durch die Beschleunigung der natürlichen chemischen Verwitterung von Gestein könnte CO2
theoretisch schneller aus der Atmosphäre gebunden und
in die Ozeane eingeleitet werden. Die beschleunigte Kohlenstoffbindung kann durch das Zerkleinern und Mahlen beispielsweise von Olivinen (Kalk- und Silikatgestein)
erreicht werden (Köhler et al., 2010). Die Voraussetzungen
hierzu gleichen denen des modernen Bergbaus, die Verfahren wären extrem energieintensiv und erfordern eine
umfangreiche Infrastruktur sowie erhebliche Gesteinsmengen (3 Mrd. t Olivin wären in der Lage nur 9 % der anthropogenen CO2-Emissionen zu neutralisieren, Köhler et al.,
2010). Das zerstoßene Gestein müsste großflächig in die
Ozeane eingebracht werden, um dort in das Tiefenwasser
zu gelangen. Sowohl an Land als auch im Ozean ist diese
Methode höchst invasiv und viele Nebenwirkungen sind
bisher nicht abschätzbar (beispielsweise die ökosystemaren
Folgen einer Alkalinisierung der Ozeane). Der WBGU rät von
dieser Technologie ab.
>> Manipulation der marinen Biomasseproduktion: Die Verstärkung der marinen Kohlenstoffsenken durch erhöhtes
Biomassewachstum in nährstofflimitierten Ozeanregionen
könnte durch die Düngung mit Mikro- (z. B. Eisen, Eisendüngung) und Makronährstoffen (z.
B. Stickstoff, Phosphor) erreichbar sein. Das Absinken der Biomasse in tiefere Ozeanschichten könnte zu einer langfristigen Speicherung des gebundenen Kohlenstoffs führen. Allerdings hängt
die Effektivität dieser Methode von verschiedenen physikalischen und biologischen Faktoren ab (z. B. Tiefenwasserbildung oder die vorzeitige Re-Emission des gespeicherten
Kohlenstoffs in die Atmosphäre durch bakterielle Zersetzung der Biomasse). Die Ergebnisse aus Modellstudien und
lokalen Experimenten sind teils widersprüchlich und nicht
belastbar genug, um die Effektivität großskaliger Ozeandüngung zu quantifizieren (z. B. Jin et al., 2007; CBD, 2009;
Smetacek et al., 2012). Mit Blick auf die teils unerforschten
potenziellen Nebenwirkungen der Ozeandüngung auf Meeresökosysteme lehnt der WBGU auch dieses Geoengineering-Verfahren ab.
>> Großskalige Aufforstung: Eine großskalige Aufforstung wäre
wegen der limitierten Anbauflächen und der Konkurrenz
zwischen der Produktion von Nahrungsmitteln, Bauholz
und Bioenergie und der Erhaltung von biologischer Vielfalt, natürlichen Ökosystemen und Ökosystemleistungen
nur in Bereichen sinnvoll, die bisher nicht genutzt werden
und für die keine wertvollen natürlichen Ökosysteme konvertiert werden müssten. So beschäftigen sich einige Untersuchungen mit der Vision einer Begrünung von Halbwüsten
und Wüsten mittels künstlicher Bewässerung mit entsalztem
Meerwasser (z. B. Sahara, australisches Outback; Ornstein et
al., 2009; Keller et al., 2014). Simulationen mit Erdsystemmodellen zeigen, dass eine großflächige Aufforstung dieser
Bereiche den CO2-Gehalt der Luft zwar ein wenig reduziert,
aber die Temperatur wird nicht verringert, sondern erhöht
sich sogar leicht. Grund dafür ist im Wesentlichen das geringere Reflexionsvermögen von Wäldern im Vergleich zur
Wüste und damit die erhöhte Absorption der Sonnenstrahlung (Keller et al., 2014). Ein weiterer gravierender Nachteil sind die immensen Kosten für die Bewässerung dieser
Wüstengebiete sowie die Folgen im Fall eines Ausfalls der
Bewässerung. Nicht untersucht wurden bisher die Einflüsse
der Zerstörung der Wüstenökosysteme und der wahrscheinlich starken Reduktion des Saharastaubtransports und der
damit verbundenen Düngung des Atlantiks und des Regenwalds im Amazonasgebiet. Aufgrund der hohen Kosten,
der negativen Einwirkung auf Lufttemperatur und die noch
unerforschten Effekte auf die Ökosysteme erscheint dieses
Verfahren zurzeit nicht sinnvoll.
>> CO2-Bindung aus der Luft durch chemische Sequestrierung:
Die direkte Bindung von CO2 aus der Luft könnte theoretisch
auch durch eine chemische Sequestrierung erreicht werden
(Direct Air Capture – DAC). Bisher beschränkt sich die Erprobung dieser Technologie allerdings auf wenige Gebiete, und
die Skalierung von DAC auf Dimensionen, welche einen
signifikanten Einfluss auf atmosphärische CO2-Konzentrationen hätte, ist mit heutiger Technologie nicht realisierbar
und sehr energieintensiv. Forschungs- und Entwicklungs
arbeiten könnten den Energie- und Kostenbedarf allerdings
signifikant senken (Lackner et al., 2012).
15
150
100
12.600% Wachstum seit 2000
50
0
100
1980
1990
2000
Jahr
2010
Preise von Solar-Photovoltaik
80
60
40
86% Rückgang seit 2000
20
0
1980
1990
2000
Jahr
Globale installierte Leistung [GWp]
Verbreitung von
Solar-Photovoltaik
2010
Elektrizitätskosten [US-$ pro MWh]
200
Preise für Solar-Photovoltaikmodule
[US-$ pro Wp]
Globale installierte Leistung [GWp]
2 Klimaschutz: Die Herausforderung von Paris
400
Verbreitung von Windenergie
300
200
2.300% Wachstum seit 2000
100
0
1980
300
1990
2000
Jahr
2010
Kosten von Windenergie
250
200
150
100
35% Rückgang seit 2000
50
0
1980
1990
2000
Jahr
2010
Abbildung 2.4‑1
Entwicklung erneuerbarer Energien. Das Wachstum an installierten Solar- und Windenergiekapazitäten hat die Erwartungen
weit übertroffen. Gleichzeitig sind die Kosten rapide gefallen: seit dem Jahr 2000 um 35 % für Windenergie und um 86 % für
Solarenergie.
Quelle: Trancik et al., 2015
16
bereits statt: Die Stromerzeugungskapazität aus Wind
und Sonne ist in den letzten Jahren weltweit exponentiell gewachsen, wobei die Kosten stark gesunken sind
(Abb. 2.4-1).
Schellnhuber et al. (2016) deuten das mögliche Überschreiten von Kipppunkten für den Übergang zu einem
rein erneuerbaren Energiesystem an, die in bisherigen
Vermeidungsnarrativen oder Szenarien nicht oder nur
unzureichend abgebildet sind. Die fossilen Kapazitäten
könnten daher viel schneller aus dem Energiesystem
herausgenommen werden als oftmals angenommen.
Dem stehen Austrittsbarrieren gegenüber (Profitabilität, „versunkene“ Kosten), welche über regulatorische
oder kompensatorische Maßnahmen adressiert werden
können.
Ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt ist die radikale
Reduzierung des Einsatzes von Zement im Bausektor (WBGU, 2016a). Zukünftig könnte Holz vor allem
im Wohnungsbau großskalig eingesetzt werden. Da
Holz im Vergleich zu konventionellen Baustoffen (z. B.
Beton, Stahl und Aluminium) weniger Energieeinsatz
erfordert und ohne Prozessemissionen auskommt, können dadurch erhebliche Emissionseinsparungen erreicht
werden. Wieviel Holz allerdings nachhaltig zur Verfügung stünde, ist offen und muss genauer untersucht
werden (Churkina, 2016).
Eine weitere wichtige Stellschraube, deren Potenzial aus Sicht des WBGU oftmals unterschätzt wird,
ist der Wandel von Lebensstilen und Konsummustern,
die einen Infrastrukturwandel vorbereiten und beglei-
ten können. Diese Optionen sind meist nicht an technische Restriktionen gebunden und könnten unmittelbar wirksam werden. Ein positives Beispiel ist der aktuell stattfindende Wandel von Ernährungsmustern in Teilen westlicher Gesellschaften. Durch die Reduktion des
Konsums tierischer Produkte könnten landwirtschaftliche Flächen eingespart und stattdessen für schwer
substituierbare Nutzungsformen, etwa zur Produktion
von Holz bzw. Biomasse für den Baustoffsektor, genutzt
werden.
Die Einhaltung der in Paris beschlossenen Klimaschutzziele kann durch verschiedene Technologieport
folios erfolgen, welche mit unterschiedlichen Risiken und
Schwierigkeiten behaftet sind. Ein denkbares Portfolio
beinhaltet dabei einen massiven Zubau der Kernenergie, sowie den großskaligen Einsatz von CCS und BECCS
(z. B. im RCP2.6-Szenario: van Vuuren et al., 2011); notfalls gepaart mit Geoengineering-Maßnahmen, für den
Fall, dass eine Reduzierung der Emissionen nicht ausreichend schnell gelingt. Aus Sicht des WBGU gibt es
jedoch keine Rechtfertigung die mit einem solchen Portfolio verbundenen Risiken einzugehen, solange es weitaus risikoärmere Alternativen gibt.
Ein alternatives Portfolio mit völlig anderer Schwerpunktsetzung besteht aus einem stark beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien bei gleichzeitiger erheblicher Steigerung der Energieeffizienz und
einem beschleunigten Ausstieg aus der Nutzung fossiler
Energieträger, was den Verzicht auf die aus Sicht des
WBGU als zu riskant eingestuften Vermeidungsoptionen
Empfehlungen 2.5
erlaubt. Ein solcher Pfad wird in Kapitel 3.2 skizziert
(Kasten 3.2‑1). Der WBGU plädiert dafür, dass innerhalb des Möglichkeitsraums ein Pfad beschritten wird,
der mit höchster Priorität auf einen beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien setzt und bei dem riskantere Optionen wie BECCS nur in kleinem Maßstab
und als Rückfalloption zum Einsatz kommen. Auf hochriskante Optionen des Geoengineering (Kasten 2.3-2)
sollte gänzlich verzichtet werden. Die Umsetzung eines
solchen Pfades wird in Kapitel 3.2 in einem Klimaschutzfahrplan beschrieben.
2.5
Empfehlungen
Um die weitere Erwärmung des Klimas aufzuhalten, ist ein
vollständiger Stopp der CO2-Emissionen notwendig. Für
eine Begrenzung der Klimaerwärmung unter 2 °C sollten
diese Nullemissionen spätestens 2070 erreicht sein, für
eine Begrenzung der Erwärmung auf 1,5 °C bereits bis
2050. Die globale Transformation sollte daher beschleunigt werden, um die Emissionen so schnell wie möglich
zu mindern und schließlich auf Null zu führen. Kernelemente sind ein schneller Ausbau erneuerbarer Energien,
eine effektive Begrenzung des Energieverbrauchs und
ein schneller Ausstieg aus der Nutzung fossiler Energieträger. Der Einsatz unausgereifter und nicht ausreichend
erprobter Technologien – wie Kohlendioxidabscheidung
und -speicherung (Carbon Dioxide C
apture and Storage
– CCS) oder die Kombination von Bioenergienutzung
mit CCS (BECCS) – sollte so weit wie möglich vermieden
werden. Der WBGU empfiehlt, abgesehen von Rest- und
Abfallstoffen auf den Einsatz von Biomasse in der Energieproduktion weitgehend zu verzichten und das zur Verfügung stehende nachhaltige Potenzial an Biomasse bzw.
Holz soweit möglich im Bausektor zu nutzen.
G20: Transformation vorantreiben
Die Regierungen der G20-Staaten sollten die globale
Transformation zu einer klimaverträglichen Gesellschaft
als prägende Akteure im Rahmen des Pariser Übereinkommens bis 2020 vorantreiben. Die Bundesregierung
sollte für die deutsche G20-Präsidentschaft anstreben,
dass die G20 ein Dekarbonisierungziel vereinbart, wie
es ähnlich bereits beim G7-Gipfel im Jahr 2015 in Elmau
gelungen ist.
1. Die G20 sollte vereinbaren, ihre CO2-Emissionen aus
fossilen Quellen bis 2050 auf Null abzusenken. Sie
sollten für ihre Volkswirtschaften umfassende und
überprüfbare Dekarbonisierungsstrategien entwickeln, die einen Ausstieg aus der Nutzung fossiler Energieträger bis 2050 beinhalten. Der WBGU
schlägt dafür zentrale Meilensteine vor (Kap. 3).
2. Die G20 sollte sich dafür einsetzen, dass natürliche
Ökosysteme geschützt bzw. wiederhergestellt werden, so dass die natürlichen Kohlenstoffvorräte (z. B.
Wälder, Moore) und die Senkenfunktion der terrestrischen Biosphäre erhalten werden. Landnutzungs-
änderungen und Landnutzungsmanagement sollten nicht allein an Klimaschutzkriterien ausgerichtet
werden; es sollte immer die gesamte Agenda 2030,
d. h. alle SDGs, berücksichtigt werden.
3. Die G20 sollte sich zu Geoengineering positionieren:
Maßnahmen, die auf die Änderung der Strahlungsbilanz abzielen, sollten nicht verfolgt werden. Auch
von Maßnahmen, die auf die großskalige Änderung
des Kohlenstoffkreislaufs abzielen, rät der WBGU
ab. Ausnahmen betreffen die Kombination von Bioenergie mit CCS (BECCS) im kleinen Maßstab sowie
die chemische Bindung von CO2 aus der Luft; hier ist
weitere Forschung und Erprobung notwendig.
4. Die G20 sollte sich dafür einsetzen, dass ein verbindlicher und universeller völkerrechtlicher Rahmen für das „Ob“ und „Wie“ von GeoengineeringMaßnahmen entwickelt wird, der das Vorsorgeprinzip berücksichtigt sowie Moratorien und Haftungsregelungen enthält. Die G20 sollte hierzu den Anstoß
geben.
G20-Staaten: Vorreiterrolle in der internationalen
Klimapolitik übernehmen
Die besondere Verantwortung der G20-Staaten sollte
sich auch in ihrer Rolle als Vertragsstaaten der Klimarahmenkonvention und als Unterzeichnerstaaten des
Pariser Übereinkommens niederschlagen. Sie können in
folgenden drei Bereichen eine Vorreiterrolle entwickeln:
1. Die derzeitigen Reduktionsversprechen – (Intended)
Nationally Determined Contributions: (I)NDC) –
der Vertragsstaaten der UNFCCC liegen noch weit
unter dem Niveau, das erforderlich ist, um die Ziele
des Übereinkommens von Paris umzusetzen. Die
G20-Staaten sollten mit sehr ambitionierten Reduktionszielen und Umsetzungsfahrplänen voranschreiten und ihre (I)NDCs entsprechend nachbessern. Die
G20-Staaten sollten ihre Klimaschutzbeiträge nicht
nur ambitioniert, sondern auch nach vergleichbaren
Standards sowie Monitoring- und Review-Prozessen
formulieren.
2. Um die Klimaschutzziele des Pariser Übereinkommens zu erreichen, sind die G20-Staaten herausgefordert, in den verbleibenden vier Jahren bis zur
Geltung des Pariser Übereinkommens Dekarbonisierungsstrategien zu entwickeln, d. h. konkrete Pläne
für den Ausstieg aus fossilen Energieträgern zu formulieren. Hierzu zählt auch die Entwicklung von
Fahrplänen für den Abbau von Subventionen fossiler Energieträger bis 2020.
3. Die G20-Staaten sollten darüber hinaus in folgenden
Bereichen Signale setzen:
• Die G20-Staaten sollten für die Anpassung ihrer
Länder an den Klimawandel ambitionierte Ziele
formulieren und effektive Maßnahmen ergreifen.
Sie sollten darauf hinwirken, dass Anpassungsziele
im Rahmen des Pariser Übereinkommens vereinbart werden.
• Die G20-Staaten sollten sich dafür einsetzen, dass innerhalb der UNFCCC und des Pariser
17
2 Klimaschutz: Die Herausforderung von Paris
bereinkommens das Thema „Verluste und SchäÜ
den“ gestärkt wird, vor allem durch eine rasche
Entwicklung von Prinzipien und Regeln für Kompensationsverpflichtungen.
• Das Thema klimawandelbedingte Flucht sollte
durch die G20-Staaten vorangetrieben werden. So gilt es, nach dem Verantwortungsprinzip
Hilfeleistung für Umweltmigranten bereitzustellen und Schutzrechte im Rahmen der UNFCCC zu
fordern.
• Im Bereich der Finanzierung können die G20-Staaten starke Signale durch entsprechende Zusagen setzen, insbesondere für die Übernahme von
Kosten für den Klimaschutz, die Anpassung an
den Klimawandel sowie für Verluste und Schäden.
Es bedarf der Diskussion und Entwicklung eines
umfassenden Regimes für die Haftung für klimawandelbedingte Schäden und die Durchsetzung
derartiger Ansprüche.
• Als übergreifende Maßnahme empfiehlt der
WBGU, das Thema „Urbanisierung und Transformation“ dauerhaft zu einem Tagesordnungspunkt
der G20 aufzuwerten (WBGU, 2016a). Die deutsche G20-Präsidentschaft sollte dazu genutzt
werden, dieses Thema auf die Agenda zu setzen. Die schwache Reaktion der internationalen Politik auf Habitat III als erster internationaler Umsetzungskonferenz nach den Beschlüssen
von 2015 hat gezeigt, dass der anstehende gewaltige globale Urbanisierungsschub noch nicht prominent genug in der politischen Agenda verankert
ist (WBGU, 2016b; Pilardeaux et al., im Druck).
Insgesamt sind die G20-Staaten gefordert, in den kommenden vier Jahren eine Vorreiterrolle im Sinne der
Großen Transformation einzunehmen. Dies würde auch
zu Synergieeffekten bei der Umsetzung der SDGs f ühren.
18
Nachhaltigkeitstransformation in
den G20-Staaten voranbringen –
Reformperspektiven
Die erfolgreiche Umsetzung der Agenda 2030 und des
Übereinkommens von Paris erfordert – neben der Bereitschaft zu internationaler Kooperation – die Entwicklung
und Umsetzung effektiver nationalstaatlicher Strategien, Umsetzungsfahrpläne und Instrumente transformativer Governance. Die G20-Regierungen sollten sich
(1) für eine Neuausrichtung von Innovationen stark
machen, die über den „G20 Blueprint on Innovative
Growth“ hinausgeht (G20, 2016c), damit Wirtschaftsund Wohlstands
entwicklung innerhalb der planetarischen Leitplanken (WBGU, 2014b) ermöglicht werden. Sie sollten (2) den klimaverträglichen und ressourcenschonenden Umbau der zentralen Infrastrukturen
der Weltwirtschaft rasch voranbringen. Die G20 sollte
(3) Investitionen fördern, die die Nachhaltigkeitstransformation voranbringen. Infrastrukturen, Investitionen
und Innovationen sind bereits wichtige Elemente der
G20-Agenda. Die G20-Staaten sollten diese nun aber mit
dem handlungsleitenden Prinzip der sozialen Inklusion
verknüpfen, die Bedingung und Ziel einer gelingenden
Gesellschaftstransformation zur Nachhaltigkeit ist. Das
Prinzip der Inklusion umfasst dabei die Dimension der
sozialen Gerechtigkeit sowie die der sozialen, kulturellen und politischen Teilhabe.
Nur mit dieser Ausbalancierung von Staat, Markt und
Zivilgesellschaft sind anspruchsvolle Nachhaltigkeitsund Klimaziele erreichbar (Abb. 3-1). Sie bedürfen, wie
3
im Folgenden dargestellt, eines plausiblen und realistischen, global koordinierten Zeitplans (Klimaschutzfahrplan, Kap. 3.2). In dessen Rahmen können die Mitgliedstaaten der G20 jeweils nationalstaatliche Projekte
zur Erschließung neuer Finanzierungsmöglichkeiten
verfolgen; der WBGU schlägt hier exemplarisch neu aufzulegende transformative Staatsfonds vor (Kap. 3.3).
Zur Einbeziehung der Zivilgesellschaft in dieses globale
Vorhaben bedarf es in allen G20-Staaten einer besseren
„transformative literacy“, also eines Alltagswissens und
eines Narrativs, welche Möglichkeiten einer transformativen Politik auf lokaler, nationalstaatlicher und internationaler Ebene bestehen und sich entwickeln können
(Schneidewind, 2013: 120).
3.1
Staat, Markt und Zivilgesellschaft neu
ausbalancieren
Eine wichtige Voraussetzung zur Erreichung der SDGs
ist die Ausrichtung der politisch-staatlichen Funktionen auf ein zukunftsfähiges demokratisches Gemeinwesen mit freien Bürgergesellschaften und in andere
ärkte. Dazu sollte nach
soziale Systeme eingebettete M
Auffassung des WBGU das Leitbild des gestaltenden
Staates gestärkt werden, das im Zuge der wirtschaftli-
Abbildung 3-1
Klimaschutzfahrplan
Ausbalancierung von Staat,
Markt und Zivilgesellschaft
im Zuge der Transformation
zur Nachhaltigkeit.
Quelle: WBGU
Soziale und
ökologische
Wiedereinbettung
der Märkte
Transformative
Staatsfonds
Wiederherstellung
ordnungspolitischer
Fähigkeiten des
gestaltenden Staates
Transformation
zur Nachhaltigkeit
durch die „4 großen I“:
Innovation, Infrastruktur,
Investition, Inklusion
(Re)Demokratisierung durch
starke Zivilgesellschaften
„transformative
literacy“
19
3 Nachhaltigkeitstransformation in den G20-Staaten voranbringen – Reformperspektiven
20
chen Deregulierung und Privatisierung der vergangenen
Dekaden in vielen Ländern zu Gunsten eines Minimalstaats (Nozick, 1974) zurückgedrängt wurde. Die Idee
des gestaltenden Staates vermittelt „zwei Aspekte, die
häufig getrennt oder konträr gedacht werden: die Stärkung des Staates, der aktiv P
rioritäten setzt und diese
[...] deutlich macht, und andererseits verbesserte Mitsprache-, Mitbestimmungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger. [...] Der gestaltende
Staat steht also fest in der Tradition der liberalen und
rechtsstaatlichen Demokratie, entwickelt diese aber im
Sinne der Zukunftsfähigkeit demokratischer Gemeinwesen und freier Bürgergesellschaften weiter.“ (WBGU,
2011: 219). Der gestaltende Staat und eine freie Bürger
gesellschaft bedingen sich also gegenseitig.
Die in der Wirtschaftssoziologie unter Rückgriff auf
olanyi
den ungarischen Wirtschaftshistoriker Karl P
geführte Debatte postuliert die „Wiederein
bettung“
der Märkte bzw. der Marktwirtschaften. Polanyis Feststellung war, dass sich im 19. Jahrhundert Märkte und
wirtschaftliche Aktivitäten aus den weiteren sozialen
Lebensvollzügen „entbettet“ hätten und dass zur Sicherung der menschlichen Freiheit, auch von Sicherheit und
Gerechtigkeit, deren „Wiedereinbettung“ erforderlich
sei (Polanyi, 1944, 1968). Dieser Kerngedanke klingt
auch in der lauter werdenden Kritik an einseitig wirtschaftsliberalen Ordnungsvorstellungen an. Heute, da
zum einen eine globale Klima- und Nachhaltigkeitspolitik auf die politische Agenda gesetzt worden ist, zum
anderen die allgemeinen Wohlfahrtseffekte der ökonomischen Globalisierung in Frage stehen und daraus
national-protektionistische Gegenbewegungen erwachsen, ist eine Innovation der globalen Governance-
Institutionen wie der nationalen Staatlichkeit erforderlich. Hier setzt die Forderung nach Wiedereinbettung
von Marktwirtschaft und Freihandel an.
In den 1970er Jahren geriet das Paradigma des Wohlfahrts- und Interventionsstaates aus dem 19. Jahrhundert und der New-Deal-Periode (1930–1975) an seine
Grenzen, da er seine vielfältigen Aufgaben oft nur noch
durch wachsende Bürokratien sowie Verschuldung erfüllen konnte, die nachfolgende Generationen belasteten.
Wichtige öffentliche Aufgaben wurden daraufhin wieder zunehmend dem Marktwettbewerb überlassen und
das Leitbild des Bürgers an vielen Stellen durch das
Leitbild des Konsumenten ersetzt. Weithin (etwa mit
dem „Washington Consensus“) verbreitete sich Skepsis
gegenüber der Gestaltungsfähigkeit öffentlicher Politik
und Gemeinwohl-, Solidaritäts- sowie Gerechtigkeitspostulate erschienen als nicht mehr zeitgemäß.
Parallel zu der (bis heute andauernden, in manchen
Bereichen durchaus sinnvollen) Entstaatlichung und im
Zuge von zunehmenden internationalen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Verflechtungen verstärkt sich nun wieder die Auffassung, dass Eingriffe in
imensionen
den Wirtschaftsprozess nötig sind, um den D
von Fairness, Gerechtigkeit und Solidarität gerecht zu
werden. Das führt zu der Forderung, den Staat wieder stärker einzubringen. Unterdessen gelangten ohne-
hin neue Staatsaufgaben auf die Agenda, wie z. B. im
Bereich der internationalen Umweltpolitik, die durch die
Umweltbewegungen und die Rio-Konferenz von 1992
zunehmend an Bedeutung gewann. Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist in den meisten G20-Staaten
verfassungsrechtlich verankert (Kasten 3.1-1). Dies veränderte erneut den Blick auf den Staat, der zum Schutz
globaler Gemeingüter aktiver und gestaltender werden
sollte. Zu klassischen Staatsaufgaben (öffentliche Infrastruktur und Investition) treten im gestaltenden Staat
die Aufgaben, soziale Innovation zu fördern und eine
inklusive Entwicklung unter den Bedingungen der Globalisierung sicherzustellen (Messner, 1997).
Die Aufgaben des gestaltenden Staates werden
zunächst mit einem Klimaschutzfahrplan zur Umsetzung der Pariser Klimaziele und der Agenda 2030 konkretisiert. Insbesondere für die Umsetzung des Übereinkommens von Paris müssen schnell disruptive Reformen
realisiert werden, um das Emissionsbudget für das
1,5 °C-Ziel nicht schon in den kommenden fünf Jahren aufzubrauchen. Dabei kommt den G20-Staaten eine
besondere Verantwortung zu, die im folgenden Kapitel
erläutert wird.
3.2
Dekadischer Klimaschutzfahrplan zur
Dekarbonisierung
Für die Einhaltung des Temperaturziels, deutlich
°C zu bleiben, stellt der WBGU in Anlehunter 2
nung an Rockström et al. (im Druck) im Folgenden
Klimaschutzfahrplan“ vor, in dem in dekaeinen „
dischen Schritten die zwingenden großen Veränderungen skizziert werden, um das Übereinkommen von
Paris umzusetzen und gleichzeitig die Nutzung risikoreicher Technologien auszuschließen bzw. zu minimieren (Abb. 3.2-3). Dieser Fahrplan ist somit eine mögliche Realisierung des Gesellschaftsvertrags zur großen
Transformation (WBGU, 2011) und skizziert dringend
notwendige Handlungsschritte. Während im „JürgenSchmid-Szenario“ (Kasten 3.2-1) der Energiemix im
Vordergrund steht, geht es im Klimaschutzfahrplan um
konkrete Entscheidungen der Weltgesellschaft. Im Vergleich zum Jürgen-Schmid-Szenario schließt der Fahrplan die begrenzte Nutzung nachhaltiger Technologien
zur Entfernung von CO2 als mögliche Option in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ein. Trotzdem muss schnell
gehandelt werden. Der WBGU empfiehlt daher der G20,
die Implementierung dieses Fahrplans und insbesondere
der ersten Schritte rasch voranzutreiben. Dabei werden vier Kernstrategien hervorgehoben: (1) die komplette Eliminierung der CO2-Emissionen aus der Nutzung
fossiler Brennstoffe; (2) eine rapide und tiefgreifende
Reduzierung anderer klimawirksamer Stoffe (Rußpartikel, Methan, Ozonvorprodukte usw.); (3) Maßnahmen,
um unentbehrliche Kohlenstoffspeicher und natürliche Senken (z. B. tropische Regenwälder und boreale
Feuchtgebiete) zu schützen und wiederherzustellen; (4)
Dekadischer Klimaschutzfahrplan zur Dekarbonisierung 3.2
Kasten 3.1-1
Verfassungsrechtliche Verpflichtung zum
Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen aktiv
wahrnehmen
Die konstitutionelle Grundlage zum Schutz globaler Gemeingüter ist in allen G20-Staaten weitgehend vorhanden: 15 der
G20-Staaten verpflichten sich in ihren Verfassungen zum
Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und damit auch zum
Schutz des Klimas. Die übrigen anerkennen jedenfalls eine
staatliche Schutzpflicht. So hat der deutsche Staat, vor allem
der deutsche Gesetzgeber, gemäß Art. 20a GG den Auftrag,
auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die
natürlichen Lebensgrundlagen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung zu schützen. Es ist einhellige internationale
Auffassung, dass der Begriff des Schutzguts der Umwelt weit zu
verstehen ist und das Klima als wichtiges globales Gemeingut
hinzuzählt. EU-weit statuiert Art. 37 Charta der Grundrechte
der Europäischen Union eine leistungsgewährende Pflicht zum
Umweltschutz sowie zur umweltfreundlichen Auslegung des
die Entwicklung und Anwendung nachhaltiger Technologien zur Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre.
2016–2020: Überfällige Maßnahmen
Zunächst sind bis 2020 die Ausweitung und Verbesserung bereits erprobter Instrumente, wie CO2-Steuern und Handelssysteme, Einspeisetarife und Quotensysteme, von zentraler Bedeutung. Des Weiteren sollten Anreize für Energieeffizienz im Geschäfts- und
Privatsektor gesetzt werden, um zeitnahe Fortschritte
zu erzielen. Dazu gehört auch, dass bis 2020 alle staatlichen Subventionen für die Förderung fossiler Brennstoffe in G20-Staaten eingestellt werden. Weitere Länder sollten dem rasch folgen. Ebenso sollten bis 2020
alle Großstädte und Unternehmen in den Industrieländern eine Dekarbonisierungsstrategie erstellen. Zumindest zwei Dutzend Länder sollten bis 2020 ein Zieljahr für die endgültige Einstellung der Nutzung fossiler Brennstoffe benennen. Die Lebensmittelproduktion,
welche eine wesentliche Quelle von Treibhausgasen ist
und gleichzeitig natürliche Kohlenstoffspeicher vernichtet, sollte in diese Strategie ebenfalls eingebunden werden, z. B. durch Kampagnen hin zu einer Ernährung mit
weniger tierischen Produkten und gegen Lebensmittelverschwendung. Durch diese vielfältigen Reformen,
die global koordiniert werden, würde die UNFCCC in
den kommenden Jahren eine neue, zentrale Rolle in der
internationalen Gemeinschaft einnehmen.
2020–2030: Herkules-Anstrengungen
Bis 2030 sollten alle Länder die Zulassung von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren auslaufen lassen. CO2
sollte in diesem Zeitraum noch intensiver besteuert werden, etwa mit 30 US-$ pro t CO2. Dieser Preis sollte sich
jede Dekade verdoppeln, bis er schließlich bei mehr als
240 US-$ pro t CO2 in 2060 liegt. Sämtliche Subventionen fossiler Brennstoffe (derzeit etwa 500 Mrd. US-$
pro Jahr; IEA, 2015c) sollten in Investitionen erneuer-
EU- und nationalen Rechts (Jarass, 2011). Lediglich die Verfassungen Australiens, Kanadas und der USA enthalten keine
derartigen Bestimmungen (Boyd, 2012). Allerdings gibt es in
den USA auf bundesstaatlicher Ebene entsprechende Anknüpfungspunkte (UNEP, 2014: 4). Trotz des Fehlens eines Verfassungsdokuments ist auch in Großbritannien Umweltschutz als
Staatsziel anerkannt (Kloepfer und Mast, 1995: 116; Boyle,
2007: 10). Für die japanische Verfassung ist die Existenz eines
Umweltgrundrechts zwar umstritten, aber zumindest vertretbar (Iwama, o.J.).
Trotz dieser verfassungsrechtlichen Verpflichtungen zum
Umweltschutz haben sich viele G20-Staaten durch Entstaatlichung und Privatisierung öffentlicher Aufgaben in den letzten
Jahrzehnten der Erfüllung wesentlicher staatlicher Umweltschutzaufgaben z. B. im Abfall-, Wasser- und Energiebereich
entzogen. Die G20-Staaten sollten der Staatsaufgabe Umweltund Klimaschutz eine dem verfassungsrechtlichen Rang entsprechende Priorität einräumen und wirksam instrumentell
unterfüttern, z. B. durch Einrichtung transformativer Staatsfonds, die etwa zur Dekarbonisierung der Energiesysteme eingesetzt werden könnten (Kap. 3.2).
barer Energien umgeleitet werden. Öffentliche und private Förderung nachhaltigkeitsbezogener Forschung
und Entwicklung sollte sich bis 2030 im Vergleich zu
heute mindestens verzehnfacht haben. Kernthemen
sind hierbei Verlängerung der Lebensdauer von Batterien und verbesserte Energiespeicherung, alternative Antriebssysteme für Flugzeuge, smarte Materialien, neue Baustoffe für die Städte, Ansätze zur Gestaltung nachhaltiger Lebensweisen und Konzepte für nachhaltige Urbanisierung in polyzentrischen Strukturen
(WBGU, 2016a). Zudem sollte in die Aufrechterhaltung
und Regenerierung natürlicher Kohlenstoffspeicher und
-senken (z. B. den Schutz natürlicher Ökosysteme oder
nachhaltiges Forstmanagement) sowie in die nachhaltige Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre (z. B. durch
BECCS; Kasten 2.3-1) investiert werden, um eine CO2Entfernung aus der Atmosphäre von bis zu 100 Mt CO2
pro Jahr zu erreichen. Diese Investitionen sollen insbesondere der Weiterentwicklung der Technologie dienen.
2030–2040: Strategische Durchbrüche
Ab 2030 sollten alle neu geplanten Quartiere so gebaut
werden, dass sie mehr Energie bereitstellen als sie verbrauchen. Dies könnte durch Plusenergiehäuser realisiert werden, die etwa Energiewiederaufbereitung (z. B.
durch Abwasserwärmerückgewinnung) und Energieproduktion (z. B. durch photovoltaische Anlagen) nutzen.
Sämtliche fluktuierenden Energiequellen sollten eine
minimale Speicherrate von 90 % besitzen. Der Energietransport sollte durch supraleitende Kabel auch in
der Nicht-OECD-Welt optimiert werden. Schwimmende
und fliegende erneuerbare Energietechnologien sollten
erheblich zur Energieversorgung beitragen, vor allem in
Ländern mit begrenzter Fläche für „traditionelle“ erneuerbare Energietechnologien (z. B. Japan). Beispiele hierfür sind Solarplattformen auf Seen und Flugwindkraftanlagen, die auf verschiedenen Höhen durch die Nutzung von Drachen Windenergie produzieren. Straßen
21
3 Nachhaltigkeitstransformation in den G20-Staaten voranbringen – Reformperspektiven
Kasten 3.2-1
Vision eines regenerativen Energiesystems nach
Jürgen Schmid
Das folgende Szenario, das eine Weiterentwicklung einer im
Jahr 2011 vorgestellten Vision eines globalen regenerativen
Energiesystems bis 2050 ist (WBGU, 2011: 129), veröffentlicht
der WBGU in memoriam Jürgen Schmid, der als Mitglied des
WBGU wesentlichen Anteil an der Konzeption hatte.
Um die Frage zu beantworten, wie eine Begrenzung der
Klimaerwärmung deutlich unterhalb von 2 °C oder sogar auf
1,5 °C noch erreicht werden kann, werden seit der Paris-Konferenz eine Reihe von Szenarien entwickelt, die auch in den
Sonderbericht zum 1,5 °C-Ziel einfließen werden, zu dessen
Erstellung der IPCC beauftragt worden ist. Eine Transformation
der Energieinfrastruktur, wie sie in Kapitel 3.2 umrissen wird,
ist nur durch tiefgreifende Änderungen der Rahmenbedingungen möglich, welche aus jetziger Sicht noch nicht gegeben
sind. Eine große Mehrheit der bisher vorgelegten Szenarien
übernutzt daher zunächst das zulässige Emissionsbudget und
erreicht dieses dann wieder durch die Erzeugung von netto
negativen Emissionen. Solange aber die bisherigen Szenarien
davon ausgehen, dass eine schnellere Transformation nicht
möglich ist, werden auch politische und rechtliche Rahmenbedingungen lediglich auf eine graduelle Transformation ausgelegt sein.
Der WBGU zeigt daher im Folgenden ein Szenario, das
bewusst auf sämtliche als riskant eingestuften Optionen (z. B.
Geoengineering) verzichtet (Sterner und Bauer, 2016). Dieses
Szenario soll einen Anstoß geben, sowohl derzeit entwickelte Szenarien als auch Klimaschutzprogramme zu hinterfragen
und bezüglich der Plausibilität der angenommenen Umbaugeschwindigkeit zu überprüfen.
In dem Szenario wird Kohle schnellstmöglich, bis zum Jahr
2030, aus dem System genommen (Abb. 3.2-1). Erdöl wird
ebenfalls schrittweise verringert, allerdings mit einer geringeren Rate als Kohle, da es kurzfristig nicht so einfach vollständig zu substituieren ist. Erdgas hingegen kommt bis 2050
als Brückentechnologie zum Einsatz. Insgesamt ist zu sehen,
dass alle fossilen Energieträger aufgrund der Subventionierung
anfangs sehr flach und danach mit einem steileren Gradienten
auf Null im Jahr 2050 abfallen. Gegenläufig zu den fossilen
Energieträgern verhalten sich die erneuerbaren Energien. Biomasse wird bis zum technischen Potenzial ausgebaut, bleibt
dann bis 2035 auf diesem Wert, da es eine kurzfristig verfügbare und CO2-neutrale Option ist um Schwankungen auszugleichen. Danach fällt sie linear ab, bis sie 2050, mit Ausnahme
von Reststoffen, komplett aus dem Energiemix verschwindet,
damit das nachhaltig verfügbare Potenzial dem Baustoffsektor
zugänglich gemacht werden kann. Wasserkraft und Meeres
energie werden in einem solch ambitionierten Szenario ebenfalls bis zur Grenze ihres nachhaltigen Potenzials benötigt,
welches sie ab 2025 komplett ausschöpfen. Insgesamt erreicht
der globale Primärenergiebedarf im Jahr 2020 sein Maximum
von 542 EJ. Danach sinkt er bis auf 402 EJ im Jahr 2050. Für
das Szenario wird angenommen, dass durch Effizienzmaßnahmen der globale Wärme- und Kältebedarf annähernd konstant
gehalten und das Wachstum der Endenergienachfrage für den
Verkehr sowie das globale Wachstum der Stromnachfrage auf
1 % pro Jahr begrenzt werden können. Dies kann durch eine
Reihe von Maßnahmen erreicht werden. Diese umfassen eine
verstärkte Wärmedämmung von Gebäuden, den Einsatz von
Wärmepumpen sowie die Durchführung von Effizienzmaßnahmen in der Industrie, sowie extreme Verbesserungen der Wirkungsgrade im Bereich der Energiewandlung (Elektromobilität,
erneuerbare Stromerzeugung). Für den Verkehrssektor bedeutet die Transformation des Primärenergiebedarfs, dass ab 2030
keine neuen Verbrennungsmotoren mehr in das System kommen dürfen und diese ab 2050 komplett verschwinden. Diese
werden bis 2050 nach und nach durch Elektromobilität und
Power-to-Gas ersetzt.
Dieses Szenario skizziert die Möglichkeit des rapiden
Umbaus der Energieinfrastruktur. Abbildung 3.2-2 zeigt die
Emissionen, die mit dem Szenario verbunden sind. Der in
Kapitel 3.2 beschriebene Klimaschutzfahrplan konkretisiert
die dazu notwendigen Handlungen in dekadischen Schritten. Im Gegensatz zum Klimaschutzfahrplan wird im Szenario
600
Biokraftstoffe
Primärenergie [EJ/Jahr]
500
Fossile Kraftstoffe
Geothermie
Biomasse + Abfall
400
Solar
Wind
300
Wasser + Meer
Erdgas
200
Erdöl
Kohle
100
Kernenergie
0
2005
2010
2015
2020
2025
2030
2035
2040
2045
2050
Jahr
Abbildung 3.2-1
Jürgen-Schmid-Szenario: Vision eines globalen regenerativen Energiesystems bis 2050. Dargestellt ist eine Aufschlüsselung
des globalen Primärenergiebedarfs nach Energieträgern. Ziel der Simulation ist die Deckung des globalen Endenergiebedarfs
bei gleichzeitiger Begrenzung der kumulierten CO2-Emissionen aus der Nutzung fossiler Energieträger sowie
Industrieprozessen auf 660 Gt und die Absenkung der Emissionen auf Null bis 2050.
Quelle: Sterner und Bauer, 2016
22
Dekadischer Klimaschutzfahrplan zur Dekarbonisierung 3.2
4.000
40
30
Landnutzungsänderungen
Kumulative Emissionen
Erdgas
3.000
Erdöl
Kohle
2.000
Zement
1.000
10
0
0
-10
Atmosphäre
Land
Ozean
-1.000
-20
-2.000
-30
-3.000
-4.000
-40
1850
Kumulative Emissionen [Gt CO2]
Kohlenstofffluss [Gt CO2/Jahr]
20
1900
1950
2000
2050
2100
Jahr
Abbildung 3.2-2
Die im Jürgen-Schmid-Szenario (Abb. 3.2-1) generierten Emissionen und die dadurch hervorgerufenen Änderungen im
Kohlenstoffkreislauf. Die CO2-Emissionen aus fossilen Energieträgern, Zementherstellung und Landnutzungsänderungen
bis 2050 (linke Achse, Werte > 0 sind CO2-Quellen) werden von Atmosphäre, Land und Ozean aufgenommen (linke Achse,
Werte < 0 sind CO2-Senken). Nachdem die anthropogenen Emissionen ca. 2050 auf Null absinken, geht weiterhin CO2 von
der Atmosphäre in Land und Ozean über (Kap. 2.3); die Atmosphäre erscheint daher in der Graphik als Quelle. Die rote Linie
zeigt die kumulierten CO2-Emissionen, die sich nach 2050 stabilisieren (rechte Achse). Der Emissionsverlauf des Szenarios
lässt eine Begrenzung der Temperaturerhöhung auf deutlich unterhalb von 2 °C erwarten (Kap. 2.2).
Quellen: IIASA, basierend auf Berechnungen durchgeführt mit dem Klimamodell MAGICC (Meinshausen et al., 2011), auf
Grundlage der Daten aus Sterner und Bauer, 2016 (CO2-Emissionen aus der Nutzung fossiler Energieträger) und RCP 2.6
(CO2-Emissionen aus Landnutzungsänderungen). Für die CO2-Emissionen aus der Zementherstellung wurde vereinfachend ein
lineares Absinken auf Null bis 2050 angenommen.
bewusst auf negative Emissionen verzichtet, um hervorzuheben, dass bei sofortigem und ambitioniertem Handeln immer
noch auf diese mit U
nsicherheiten verbundene Option verzichtet werden kann. Sollte jedoch trotz aller Anstrengungen die Transformation der Energieinfrastruktur nicht rechtzeitig gelingen, kann in begrenztem Umfang auf nachhaltige
sollten zu in sich geschlossenen mobilen Infrastrukturen
werden, welche Antriebsenergie bereitstellen und Roll
reibung minimieren. Vielversprechend in diesem Rahmen
sind super-robuste Oberflächenmaterialien, die regenerativ erzeugten Strom durch elektromagnetische Induktion an Fahrzeuge weitergeben. Weiterhin sollten im
Bausektor Materialien wie Beton und Stahl durch klimafreundliche Substanzen wie Holz, Ton und Stein ersetzt
werden, unterstützt durch Hightech-Komponenten wie
Karbonfasern. Ebenfalls sollte die Menge der CO2-Entfernung aus der Atmosphäre verdoppelt werden, durch
extensive Wiederaufforstung und eine eingeschränkte,
nachhaltige Nutzung von BECCS (Kasten 2.3‑1).
2040–2050: Nachsteuern und Verstärken
Die Erfolge der vergangenen Jahrzehnte sollten weiter
vorangetrieben werden, während mögliche Misserfolge
Technologien zur Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre
zurückgegriffen werden (Kasten 2.3-1). Deshalb sind diese
Technologieoptionen wie auch weitere konkrete Handlungsschritte zur Umsetzung des Pariser Übereinkommens im
Klimaschutzfahrplan enthalten (Kap. 3.2).
korrigiert werden. Die meisten europäischen Länder
streben an, ihre Wirtschaft in den 2040er Jahren dekarbonisiert zu haben. Der amerikanische sowie asiatische
Kontinent sollten sich diesem Ziel zum Ende der Dekade
nähern. Erdgas wird immer noch begrenzt eingesetzt,
jedoch durch fortgeschrittene CCS-Technologie CO2neutral (Matter et al., 2016). Atmosphärische CO2-Entfernung wird, innerhalb der im Kasten 2.3-1 s kizzierten
engen Grenzen, weiter verfolgt werden.
Der in dekadischen Schritten vorgestellte globale
Fahrplan zur Dekarbonisierung bedarf Innovationen,
Investitionen sowie einer verbesserten Infrastruktur und
kann nur durch Inklusion gelingen. Der letzte Punkt muss
bei allen notwendigen Maßnahmen zur Beeinflussung
von Innovationen, Investitionen und Infrastruktur mitbedacht, und gegebenenfalls ausreichend kompensiert
werden, um zu verhindern, dass Transformationsziele auf
23
3 Nachhaltigkeitstransformation in den G20-Staaten voranbringen – Reformperspektiven
CO2-Emissionen [Gt CO2 /Jahr]
40
30
he
sc
tori
His
hro
ant
20
n
nge
eru
nd
gsä
zun
nut
d
Lan
s
mis
eE
en
pog
Überfällige Maßnahmen
en
ion
HerkulesAnstrengungen
Strategische
Durchbrüche
Fossile Energieträger
10
Nachsteuern und
Verstärken
0
1950
1960
1970
1980
1990
2000
Jahr
2010
2020
2016
2030
2040
2050
Abbildung 3.2-3
Klimaschutzfahrplan für eine stufenweise dekadische Dekarbonisierung. Der gezeigte Emissionsverlauf basiert auf dem
Jürgen-Schmid-Szenario (Kasten 3.2‑1). Die blauen Kästen kennzeichnen dekadische Schritte bis jeweils 2020, 2030, 2040 und
2050, die zu einer Dekarbonisierung bis Mitte des Jahrhunderts führen sollen.
Quelle: WBGU, auf der Basis von Rockström et al., im Druck; Sterner und Bauer, 2016
Kosten zunehmender Ungleichheit erreicht werden. Der
WBGU plädiert dafür, dass trotz der eher technischen
Natur der im Klimaschutzfahrplan beschriebenen
Lösungsansätze im Diskurs über Handlungsoptionen zur
Einhaltung der Klimaschutzziele eine systemische Sicht
eingenommen wird und in umfassender Weise nicht nur
die Wirkungen auf das Klimasystem, sondern auch ökologische, wirtschaftliche, politische und sozio-kulturelle
Risiken und Nebenwirkungen betrachtet werden. Vorwiegend technische Lösungen bzw. eine vorwiegend
technische Perspektive liefen ansonsten Gefahr, ein ganzes Spektrum möglicher Chancen sowie negativer Folgen
und Risiken zu übersehen und Pfadabhängigkeiten zu
schaffen, die irreversibel sind.
3.3
Transformative Staatsfonds für eine nachhaltige
Zukunft
24
Zur Erreichung der SDGs, der Ziele des Übereinkommens
von Paris und zur Umsetzung des vorgeschlagenen Klimaschutzfahrplans (Kap. 3.2), sind strukturelle Veränderungen und neue leistungsfähige Politikinstrumente erforderlich. Der WBGU schlägt den G20-Staaten
dazu die Einrichtung von „Zukunftsfonds“ vor, welche
nationale, transformative Staatsfonds sind, die durch
eine Nachhaltigkeitsabgabe finanziert werden sollten.
Diese Abgabe sollte sich aus einer progressiven Nachlasssteuer sowie CO2-Steuern und Erlösen aus dem Emissionshandel zusammensetzen. Die Zukunftsfonds verwalten im Auftrag des jeweiligen Staates Gelder und investieren an den Finanzmärkten in Schlüsselindustrien für
die Transformation, um diese zu beschleunigen und die
„CO2-Abhängigkeit“ zu überwinden. Gleichzeitig soll die
Dividende aus dem Zukunftsfonds eingesetzt werden,
um eine sozial- und strukturpolitische F
lankierung der
Transformation hin zu einem nachhaltigen Wirtschaftsund Gesellschaftssystem zu unterstützen.
Für die G20-Staaten eröffnen sich mit dem Aufbau
von Zukunftsfonds neue staatliche Handlungsspielräume: Sie können zum einen verstärkt als Investoren
auf den internationalen Finanzmärkten auftreten und
haben somit die Möglichkeit, durch eine Ausrichtung
der Anlagen an strategischen und langfristigen Nachhaltigkeits- und Klimaschutzzielen, wie z. B. der 2 °C-Leitplanke, und der verstärkten Investition in damit verbundenen Schlüsselindustrien der Transformation (z. B.
Speichertechnologien, Elektromobilität oder klimafreundliche Baustoffe) zur Beschleunigung des nationalen und globalen Transformationsprozesses beizutragen. Zum anderen können die Eigentumsrechte, die sich
aus den gehaltenen Anteilen ergeben, genutzt werden,
um Nachhaltigkeitsaspekte bei Unternehmensentscheidungen stärker zu berücksichtigen. Staatsfonds bieten
u. a. die Möglichkeit, dort tätig zu werden, wo sich private Investoren aufgrund der kurzfristigeren Gewinnerwartungshorizonte und Anreizstrukturen des Finanzsystems bislang zurückhalten. Die Anlagestrategie der
transformativen Zukunftsfonds sollte dementsprechend
vor allem auf die Stärkung von Langfristfinanzierungen
und die Erzielung langfristiger Gewinne ausgerichtet
sein.
Die Lenkungswirkung, die die G20-Staaten mit der
Einrichtung von Zukunftsfonds auf internationale
Kapitalströme ausüben (Element 1 in Abb. 3.3-1) steigt
mit dem Fondsvolumen, das in der nächsten Dekade
kontinuierlich aufgebaut werden sollte. Um bereits wäh-
Transformative Staatsfonds für eine nachhaltige Zukunft 3.3
CO2-Steuer
und Emissionshandel
Nachlasssteuer
30%
40%
30%
nlagen in Sc
eA
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tig
ss
ris
- Transparenz
- Ethische Leitlinien
- 2°C + SDGs
- Verhinderung
politischer
Einflussnahme
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Transformativer Staatsfonds
(Zukunftsfonds)
1
Dividende (ca. 4%)
La
ng
f
2
Nationale sozial- und
strukturpolitische
Flankierung der
Transformation
3
Direkte Investitionen in
klimafreundliche Infrastruktur, Mobilisierung
von privatem Kapital
(z.B. Ausfallversicherung)
4
Internationale
Klimakooperation
Abbildung 3.3-1
Elemente des Zukunftsfonds. Ein solcher transformativer Staatsfonds, den jeder G20-Staat aufbauen sollte, richtet seine
Anlagestrategie an langfristigen Nachhaltigkeits- und Klimaschutzzielen aus und investiert in für die Transformation notwendige
Schlüsselindustrien (Element 1 ). Er hilft so bezüglich der Transformation bestehende Finanzierungslücken zu schließen. Die
Dividendeneinnahmen des Zukunftsfonds sollen national zur sozial- und strukturpolitischen Flankierung der Transformation
verwendet werden (Element 2 ). Der Zukunftsfonds speist sich aus einer Nachlasssteuer (bei dieser Art der Erbschaftsteuer
bildet der gesamte Nachlasswert die Steuerbemessungsgrundlage, anstatt wie bei der Erbanfallsteuer, z. B. in Deutschland, der
Erbanteil der einzelnen Erben) und einem Teil der Einnahmen aus einer CO2-Bepreisung (CO2-Steuer bzw. Emissionshandel). Von
den Einnahmen aus der CO2-Bepreisung sollten 30 % in den Zukunftsfonds fließen, 40 % sollten für projektbasierte Investitionen
im Inland in klimafreundliche Infrastrukturen und die Mobilisierung von privatem Kapital (z. B. durch Ausfallversicherungen)
verwendet werden, um die Transformation sofort zu beschleunigen und nicht darauf zu warten bis der Zukunftsfonds ein
relevantes Volumen erreicht hat (Element 3 ), und weitere 30 % sollten für die internationale Klimakooperation verwendet
werden (Element 4 ).
Quelle: WBGU
rend der Aufbauphase der Fonds die Transformation zu
beschleunigen und zu skalieren sowie auch internationaler Klimagerechtigkeit Rechnung zu tragen, sollten nur
etwa 30 % der Einnahmen aus der CO2-Steuer und dem
Emissionshandel direkt in die Zukunftsfonds fließen.
40 % der Einnahmen aus CO2-Steuern und Emissions
handel sollten für direkte projektbasierte Investitionen,
insbesondere in klimafreundliche Infrastrukturen,
genutzt werden oder um die Mobilisierung von privaten Investitionen durch das Senken von Investitionsrisiken (z. B. durch Ausfallversicherungen) zu unterstützen (Element 3 in Abb. 3.3-1). Ersteres geschieht beispielsweise in Deutschland bereits (in kleinem Maßstab)
über den Energie- und Klimafonds, ein Sondervermögen
der Bundesregierung. Weitere 30 % der Einnahmen aus
CO2-Steuer und Emissionshandel sollten die G20-Regierungen dazu verwenden, Entwicklungsländer bei Klimaschutz und Anpassung zu unterstützen (Element 4 in
Abb. 3.3-1). Dies kann über bilaterale Klimakooperationen oder den Green Climate Fund geschehen.
Aus den Erträgen der Zukunftsfonds (Kasten 3.3-1)
lassen sich Maßnahmen finanzieren, die zwar für das
Gelingen der Transformation notwendig, aber nicht ökonomisch rentabel sind, weshalb hier beispielsweise keine
privaten Investoren aktiv werden. Dazu zählen insbesondere die proaktive Gestaltung des Strukturwandels
und die Unterstützung von „Verlierern des Wandels“,
wie z. B. Arbeitnehmer der fossilen Energieindustrie, um
soziale Verwerfungen zu vermeiden bzw. zu verringern
oder aus diesen Verwerfungen resultierende Widerstände gegen die Transformation abzubauen. Obwohl
beim Wechsel im Energiesektor zu erneuerbaren Energien insgesamt mit einem Nettozuwachs an Arbeitsplätzen gerechnet wird (ILO, 2012), wird es auf einzelne Regionen bezogen, insbesondere in monoindustriell geprägten Regionen, zu substanziellen Arbeitsplatzverlusten kommen, welche eine Region für lange
Zeit in die Krise führen können (ILO, 2012; Haywood,
2016). Daher werden neben nationalen Maßnahmen zur
Reduzierung von Ungleichheit auch regionalpolitische
25
3 Nachhaltigkeitstransformation in den G20-Staaten voranbringen – Reformperspektiven
Maßnahmen erforderlich sein, um die Transformation
sozial- und strukturpolitisch zu flankieren (Element 2
in Abb. 3.3-1).
Neben der Anlagestrategie der Zukunftsfonds sind
ihre Governance-Strukturen von zentraler Bedeutung.
Orientierung für die institutionelle Ausgestaltung der
Zukunftsfonds bieten die Prinzipien des norwegischen
Pensionsfonds (Statens pensjonsfond utland; wie z. B.
hohe Transparenz, Einhaltung ethischer Leitlinien, Verhinderung politischer Einflussnahme durch beispielsweise geringe durchschnittliche Anteilseigentümer overnance-Strukturen
schaft; Velculescu, 2008). Die G
sollten sowohl ökonomische Effizienz sicherstellen als
auch für die Legitimierung des Fonds wichtige Elemente
wie Mitbestimmung (beispielsweise durch die Diskussion
der Anlagestrategie im Parlament) und Transparenz (beispielsweise durch die Veröffentlichung der Anlagestrategie und Anlageentscheidungen) sowie die Verpflichtung
auf einen Beitrag zum Allgemeinwohl enthalten. Durch
Berücksichtigung partizipativer Elemente kann außerdem
eine stärkere Demokratisierung von Finanz- und Wirtschaftsmacht erreicht werden (Corneo, 2015).
26
Mittelgenerierung: Klimaschutz und Gerechtigkeit
zusammendenken
Staatsfonds werden in der Praxis häufig durch Einnahmen aus Ressourcenveräußerungen, insbesondere
von Öl und Gas, gespeist. Bei den Zukunftsfonds hingegen sollte bereits die Befüllung eine klimagerechte
Steuerungswirkung erzielen: aktuelle Emissionen sollten
durch CO2-Steuern bzw. Einnahmen aus dem Emissionshandel und historische, akkumulierte CO2-Emissionen
durch eine Erbschaftsteuer als Generationenkomponente (in Form einer Nachlasssteuer) bepreist werden.
Durch diese Steuern werden das Verursacherprinzip
sowie eine sich daraus ergebende historische Verant
wortung berücksichtigt. Der Einsatz der Mittel erfolgt
im Sinne der Interessen zukünftiger Generationen; die
Fonds beinhalten somit auch eine Zukunftsverantwor
tung. Darüber hinaus fördert eine progressive Nachlasssteuer soziale Gerechtigkeit innerhalb der gegenwärtigen sowie zwischen den Generationen, indem sie
bestehender Vermögensungleichheit entgegenwirkt und
für gleichere Ausgangsbedingungen sorgt. Die Nachlasssteuer in Kombination mit CO2-Steuern und Erlösen aus
dem Emissionshandel werden vom WBGU somit als eine
Nachhaltigkeitsabgabe gesehen, die die Kernanliegen
der Agenda 2030 abdeckt.
Bis heute fußen Produktionsprozesse in fast allen
Ländern maßgeblich auf emissionsintensiven Energieträgern, wobei die globale Wirtschaft im Jahr 2014 erstmalig wuchs, ohne den globalen energiebedingten Ausstoß von Kohlendioxid zu erhöhen (IEA, 2015b). Eine
Kohlenstoffbepreisung existiert bereits in 40 Ländern
auf nationalstaatlicher Ebene und zusätzlich in 24 subnationalen Zuständigkeitsbereichen (z. B. US-amerikanische Bundesstaaten, chinesische Städte). Die existierenden Systeme decken jedoch lediglich 7 Gt CO2eq,
etwa 13
% der globalen Treibhausgasemissionen, ab
(World Bank, 2016b: 22 f.). Darüber hinaus gibt es weitere Steuern, wie z. B. die deutsche Mineralölsteuer, die
zwar einen ähnlichen Lenkungseffekt wie eine CO2Bepreisung hat, deren Höhe für verschiedene Energieträger (Benzin, Diesel) aber nicht zwingend an den Kohlenstoffgehalt dieser Energieträger gebunden ist. Die
OECD betrachtet CO2-Steuern und Erlöse aus dem Emissionshandel zusammen mit anderen Steuern und Abgaben auf Energie und Industrieprozesse und spricht vom
„effektiven CO2-Preis“ (OECD, 2016). Dieser liegt insbesondere im Verkehrssektor höher, da es dort kaum CO2Steuern, aber ein vergleichsweise hohes Niveau anderer
Steuern und Abgaben gibt.
Die Höhe des CO2-Preises der verschiedenen CO2Steuern und Emissionshandelssysteme variiert deutlich.
Sie reicht von unter 1 US-$ pro t CO2, beispielsweise
in Japan, bis zu 131 US-$ pro t CO2 in Schweden (für
Emissionen, die nicht durch den europäischen Emissionshandel EU ETS abgedeckt sind). Bei 75 % der global
bepreisten Emissionen liegt der Preis allerdings unter 10
US-$ pro t CO2 (World Bank, 2016b: 11). Berücksichtigt man die direkten und indirekten Subventionen,
die sich für fossile Brennstoffe im Jahr 2013 auf 4.900
Mrd. US-$ beliefen (Coady et al., 2015), ist der durchschnittliche CO2-Preis aus fossilen Quellen sogar negativ: jede Tonne CO2 wurde 2013 mit 150 US-$ bezuschusst (Edenhofer, 2015).
In vielen der vom IPCC ausgewerteten Szenarien, die
mit der 2 °C-Leitplanke kompatibel sind, wird für 2020
ein globaler Durchschnittspreis von etwa 50 US-$ pro t
CO2 angenommen, der bis 2030 auf etwa 90 US-$ pro
t CO2 ansteigt (Clarke et al., 2014: 450). Um Lenkungswirkungen zu erreichen, die mit einem 1,5 °C-Ziel kompatibel sind, müssten diese Preise noch deutlich höher
liegen (Rogelj et al., 2015: 525). In fast allen Modellen
ist allerdings der CO2-Preis das einzige Steuerungselement, das abgebildet wird. Andere regulatorische Maßnahmen, beispielsweise ein politischer Beschluss aus
der Kohleverstromung auszusteigen, unabhängig davon
wie hoch der CO2-Preis ist, werden nicht berücksichtigt.
Deshalb ist davon auszugehen, dass sich auch mit einem
niedrigeren CO2-Preis eine ausreichend starke Transformation erreichen lässt, wenn dieser durch weitere
Maßnahmen flankiert wird (Bertram et al., 2015).
Als Verursacher von 82 % der globalen CO2-Emissionen (IEA, 2015a) haben die G20-Staaten eine besondere Verantwortung, dafür zu sorgen, dass es weltweit eine umfassende CO2-Bepreisung in ausreichender
Höhe gibt. Der WBGU empfiehlt den G20-Staaten deshalb dort, wo dies noch nicht geschehen ist, für CO2Emissionen aus fossilen Energieträgern und Emissionen
aus industriellen Prozessen eine CO2-Bepreisung durch
CO2-Steuern oder Emissionshandelssysteme einzuführen. Sie sollten außerdem gewährleisten, dass die CO2Preise 2020 mindestens ein Niveau von 30 US-$ pro t
CO2 erreichen und sich dann in dekadischen Schritten
verdoppeln (Kap 3.2). Um die Preiswirkung möglichst zu
maximieren, sollten beide Instrumente – die Erhebung
von CO2-Steuern und der Emissionshandel – möglichst
Transformative Staatsfonds für eine nachhaltige Zukunft 3.3
aufeinander abgestimmt werden. Ein koordiniertes Vorgehen der G20-Staaten zur Erhöhung der CO2-Bepreisung würde Wettbewerbsverzerrungen reduzieren.
Wenn die G20 sich in die vom WBGU empfohlene
Richtung bewegte, sollte sie der EU eine Harmonisierung
der CO2-Besteuerung und eine an der G20-Strategie zur
Entwicklung der CO2-Bepreisung orientierte Weiterentwicklung des EU-Emissionshandels (EU ETS) nahelegen.
Einzelstaatliche Maßnahmen der CO2-Bepreisung würden lediglich zu Wettbewerbsverzerrungen führen und
gegebenenfalls gegen primärrechtliche Vorgaben verstoßen (Art. 34 AEUV; Warenverkehrsfreiheit). Die EUKommission hat hierzu bereits 2011 einen sachgerechten
und zielführenden Vorschlag unterbreitet (EU-Kommission, 2011), der eine entsprechende Änderung der Energiesteuerrichtlinie (EU, 2003) vorsieht und darauf zielt,
eine Privilegierung der Nutzung fossiler Energieträger,
erleichterungen für energieinteninsbesondere Steuer
sive Unternehmen, abzuschaffen, die Stromerzeugung
aus erneuerbaren Energieträgern zu privilegieren sowie
eine CO2-Bepreisung mit dem EU ETS abzustimmen,
insbesondere die Besteuerung von Energienutzung in
Bereichen vorzusehen, die nicht vom EU ETS erfasst
werden.
Durch CO2-Steuern oder Emissionshandelssysteme
können nur aktuelle Emissionen bepreist werden. Da
sich CO2 in der Atmosphäre ansammelt, ist die heutige Klimaerwärmung jedoch vor allem auch die Folge
der kumulierten historischen Emissionen. Die wirtschaftliche Entwicklung ging historisch mit der intensiven Nutzung fossiler Energien und somit auch mit CO2Emissionen einher. Hochentwickelte wohlhabende Staaten sind die Hauptverursacher des Klimawandels und
sollten gemäß dem Verursacherprinzip einen größeren
Anteil der Kosten für Vermeidung und Anpassung tragen. Die verschiedenen Vorschläge auf internationaler
Ebene zur Verteilung der historischen Lasten zwischen
Staaten (z. B. das „Brazilian Proposal“: La Rovere et al.,
2002 oder der Budgetansatz des WBGU (2009b) mündeten bislang jedoch noch nicht in internationale Übereinkünfte.
Der WBGU sieht neben der volkswirtschaftlichen
Gesamtverantwortung für historische Emissionen auch
eine individuelle Verantwortung, da die positive wirtschaftliche Entwicklung in Industrie- und wohlhabenderen Schwellenländern nicht nur zu einem hohen
nationalen Entwicklungsstand geführt hat, sondern
auch zur Akkumulation von privatem Kapital. Die im
Zuge der Industrialisierung – und im 20. Jahrhundert
vor allem während der Wirtschaftswunderjahre – aufgebauten individuellen Vermögen stehen somit in Verbindung zur Nutzung fossiler Energie. Aus Sicht des WBGU
bietet die Besteuerung von Vermögen daher ein geeignetes Instrument zur Bepreisung historisch akkumulierter Emissionen.
Der WBGU schlägt den G20-Staaten die Einführung einer Generationenkomponente auf individuelle
Vermögen in Form einer progressiven Erbschaftsteuer
auf Nachlassvermögen vor (Nachlasssteuer). Mit Blick
auf die Nachhaltigkeit und die Sicherung der Lebensgrundlagen künftiger Generationen ist es auch ethisch
geboten, Vermögen nicht allein privat an die eigenen
Nachkommen zu transferieren, sondern sie zur Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft zu nutzen (Atkinson,
2016; Beckert, 2004). Darüber hinaus haben vom vergangenen Wirtschaftswachstum verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedlich stark profitiert, und vor
allem in den wohlhabenden OECD-Staaten und großen
Schwellenländern wie Russland, China und Südafrika,
ist die Einkommens- und Vermögensungleichheit in den
letzten Jahrzehnten stark gestiegen (Dabla-
Norris et
al., 2015). Um den sich aus der Vermögensakkumulation ergebenden sozialen Kosten, wie einer geringeren
gesellschaftlichen Stabilität und Unterschieden in den
Verwirklichungschancen, entgegenzuwirken, wird von
vielen Stellen mehr Offenheit für Umverteilungsmaßnahmen gefordert (Ostry et al., 2016). Die Nachlasssteuer bietet hierfür ein geeignetes Mittel. Im Unterschied zur Erbanfallsteuer (z. B. in Deutschland), bei der
der Erbanteil der einzelnen Erben besteuert wird, bildet
bei der Nachlasssteuer (z. B. in USA, UK) der gesamte
Nachlasswert die Steuerbemessungsgrundlage. Je nach
Anzahl der Erben und ihrem Verwandtschaftsverhältnis zum Erblasser können bei der Erbanfallsteuer auf
Nachlässe gleicher Höhe sehr unterschiedliche effektive
Steuersätze anfallen, wodurch sich – im Hinblick auf die
historische ökologische Verantwortung – eine steuerliche Ungleichbehandlung ergibt. In Ländern mit einer
bereits bestehenden Erbanfallsteuer (wie Deutschland)
könnten beide Modelle auch kombiniert werden.
Bei wirksamer Ausgestaltung bietet eine Erbschaftsteuer in Form einer Nachlasssteuer zusammen mit einer
Schenkungssteuer umfassendes Finanzierungspotenzial
(IMF, 2013). In hoch entwickelten Volkswirtschaften
hat das Erbschafts- und Schenkungsvolumen über die
letzten Jahrzehnte gemessen am BIP deutlich zugenommen. Die Steueraufkommen in den Ländern, die Steuern
auf Erbschaften und Schenkungen erheben, sind jedoch
meist gering, da die nationalen Bemessungsgrundlagen
durch hohe Freibeträge und Spezialregelungen zur Steuervermeidung stark reduziert werden (IMF, 2013).
In Deutschland wird das Erbschafts- und
Schenkungsvolumen auf 200–300 Mrd. € jährlich
geschätzt; davon entfallen 30–40 Mrd. € auf Unternehmensübertragungen. Dabei entspricht das Volumen
der größten 1,5 % der Erbschaften etwa einem Drittel des gesamten vererbten Vermögens in Deutschland
(Bach und Thiemann, 2016). Das jährliche Steueraufkommen aus der Erbschaftssteuer liegt in einer Größenordnung von 5 Mrd. €. Aufgrund der hohen Freibeträge
in Deutschland (bis zu 500.000 €) für Übertragungen
von Privatvermögen und umfangreicher Ausnahmen für
Betriebsvermögen wird ein Großteil der deutschen Vermögen bislang nahezu steuerfrei übertragen.
Der WBGU plädiert dafür, die Nachlasssteuer so auszugestalten, dass 10–20 % des nationalen Erbschaftsund Schenkungsvolumens für die Finanzierung des
Zukunftsfonds zur Verfügung stehen. Für den deut-
27
3 Nachhaltigkeitstransformation in den G20-Staaten voranbringen – Reformperspektiven
Kasten 3.3-1
Beispielhafte Abschätzung über das Volumen des
deutschen Zukunftsfonds
Niedriges Ambitionsniveau
Bei einem Preis von 30 US-$ pro t CO2 in 2020, der sich in
der Folge dekadisch verdoppelt, ließen sich in Deutschland
durch CO2-Steuern und durch Auktionierung von Zertifikaten
im Rahmen des europäischen Emissionshandels (EU ETS) für
CO2-Emissionen aus fossilen Brennstoffen und Industrieemissionen (CO2, N2O, FKW) zwischen 2020 und 2050 jährliche
Einnahmen von durchschnittlich etwa 18 Mrd. € erzielen. Die
jährlichen Einnahmen würden von zunächst etwa 13 Mrd. € im
Jahr 2020 auf etwa 22 Mrd. € im Jahr 2036 steigen und dann
in Folge wieder absinken, bis sie durch die Dekarbonisierung
im Jahr 2050 Null erreichen. Abnehmende Emissionsmenge
und ansteigender CO2-Preis gleichen sich weitestgehend aus,
so dass sich bis zur Dekarbonisierung ein relativ stabiles Einnahmenvolumen ergibt.
Entsprechend der vom WBGU vorgeschlagenen Struktur
des Zukunftsfonds sowie der vorgeschlagenen Verteilung der
Einnahmen aus CO2-Steuer und Erlösen aus dem Emissionshandel (Abb. 3.3-2) stünden im Durchschnitt jährlich etwa
5,3 Mrd. € für den Zukunftsfonds, 7,1 Mrd. € für projektbasierte Investitionen sowie 5,3 Mrd. € für internationale Klimazusammenarbeit zur Verfügung.
Bei einer Zielgröße von 10
% des Erbschafts- und
Schenkungsvolumens für die Generationenkomponente ergibt
sich in Deutschland ein zusätzliches Einkommenspotenzial für
den Zukunftsfonds von 20 Mrd. € pro Jahr. Durch die Summe
aus Generationenkomponente (Nachlasssteuer) und den etwa
5,3 Mrd. € aus der CO2-Bepreisung würde der Fonds so von
2020 bis Ende 2030 auf 278 Mrd. € anwachsen. Nimmt man
eine jährliche Rendite von 4 % an, ergibt sich eine jährliche
Dividende von etwa 1 Mrd. € in 2020, die auf 11 Mrd. € in
2030 ansteigt (Tab. 3.3-1).
Hohes Ambitionsniveau
Bei einer Zielgröße der Generationenkomponente von 20 %
des Erbschafts- und Schenkungsvolumens und einem CO2Preis, der von 40 US-$ im Jahr 2020 auf 80 US-$ im Jahr
2030 steigt, läge das Volumen des Zukunftsfonds Ende 2030
bei etwa 517 Mrd. € und die Dividende bei etwa 21 Mrd. €.
In diesem Szenario stünden im Durchschnitt jährlich etwa
9,5 Mrd. € für projektbezogene Investitionen sowie 7,1 Mrd. €
für internationale Klimakooperation zur Verfügung. Außerdem
würden im Durchschnitt jährlich etwa 7,1 Mrd. € aus der CO2-
Nachlasssteuer
CO2-Steuer
und Emissionshandel
Ø ca. 20 Mrd. €/Jahr
Ø ca. 18 Mrd. €/Jahr
30%
nlagen in Sc
eA
hlü
tig
ss
ris
ion
at
ien der Tran
ustr
sfo
nd
rm
eli
- Transparenz
- Ethische Leitlinien
- 2°C + SDGs
- Verhinderung
politischer
Einflussnahme
40%
30%
Ø ca.
7,1 Mrd. €/Jahr
Ø ca.
5,3 Mrd.
€/Jahr
Ø ca.
5,3 Mrd.
€/Jahr
1
Transformativer Staatsfonds
(Zukunftsfonds)
Volumen:
2020 ca. 24 Mrd. €
2050 ca. 781 Mrd. €
Dividende (ca. 4%)
La
ng
f
Ansteigende Dividende
von ca. 1 Mrd. € in 2020
auf ca. 31 Mrd. € in 2050
Ø ca.
17 Mrd. €/Jahr
2
Nationale sozial- und
strukturpolitische
Flankierung der
Transformation
3
Direkte Investitionen in
klimafreundliche Infrastruktur, Mobilisierung
von privatem Kapital
(z.B. Ausfallversicherung)
4
Internationale
Klimakooperation
Abbildung 3.3-2
Zukunftsfonds Deutschland: Durchschnittliches Einnahmepotenzial aus CO2-Steuer, Emissionshandel und Nachlasssteuer in der
Periode von 2020–2050 für Deutschland. Zugrunde liegen eine Zielgröße der Generationenkomponente von 10 % und ein CO2Preis in Höhe von 30 US-$ pro t CO2 im Jahr 2020, der sich in jeder folgenden Dekade verdoppelt (niedriges Ambitionsniveau).
Die Einnahmen aus CO2-Steuer und Emissionshandel betragen in diesem Zeitraum (2020–2050) durchschnittlich ca. 18 Mrd. €
pro Jahr, die Einnahmen aus der Nachlasssteuer ca. 20 Mrd. €. Der Fonds wächst dementsprechend von 24 Mrd. € im Jahr
2020 auf 781 Mrd. € im Jahr 2050 an. Für die internationale Klimakooperation stünden durchschnittlich ca. 5,3 Mrd. € pro
Jahr zur Verfügung, für direkte Investitionen und die Mobilisierung privaten Kapitals beläuft sich der Wert auf 7,1 Mrd. €
pro Jahr. Bei einer Dividende von 4 % ergäben sich im Zeitraum von 2020–2050 durchschnittliche Einnahmen in Höhe von
17 Mrd. € pro Jahr für die sozial- und strukturpolitische Flankierung der Transformation. Ausgehend von 1,0 Mrd. € im Jahr
2020 steigt die Dividende auf einen Wert von 31 Mrd. € im Jahr 2050 an.
Quelle: WBGU
28
Stärkung partizipatorischer Demokratien für Transformation nutzen 3.4
Tabelle 3.3-1
Zukunftsfonds Deutschland. Schätzungen der Einnahmen aus CO2-Steuer, Emissionshandel und Nachlasssteuer, sowie das
Fondsvolumen und die zu erwartende Dividende für die Dekaden von 2020 bis 2050. Es werden zwei unterschiedliche
Ambitionsniveaus für die Befüllung des Fonds angenommen.
Quelle: WBGU
Jahr
CO2-Steuer und
Emissionshandel
[Mrd. €]
Nachlasssteuer
[Mrd. €]
Volumen des
Zukunftsfonds
[Mrd. €]
Dividende
[Mrd. €]
Niedriges Ambitionsniveau: Zielgröße der Nachlasssteuer 10 %; CO2-Preis 2020: 30 US-$ pro t
2020
14
20
24
1,0
2030
21
20
278
11
2040
21
20
543
22
2050
0
20
781
31
Hohes Ambitionsniveau: Zielgröße der Nachlasssteuer 20 %; CO2-Preis 2020: 40 US-$ pro t
2020
17
40
45
1,8
2030
28
40
517
21
2040
28
40
1.005
40
2050
0
40
1.454
58
Bepreisung in den Zukunftsfonds fließen.
Zugrunde liegen diesen Schätzungen die Angaben aus dem
Nationalen Inventarbericht Deutschlands über die Emissionen aus den Energie- und den Industriesektoren (UBA, 2015)
sowie die Angaben der Deutschen Emissionshandelsstelle
zum deutschen Anteil der Emissionen unter dem EU ETS im
Jahr 2020. Angenommen wurde, in Anlehnung an den Klimaschutzfahrplan (Kap 3.2), eine lineare Reduktion der heutigen
CO2-Emissionen auf Null bis 2050. Weiter wurden eine Auktionierungsquote beim EU ETS angenommen, die von 80 %
im Jahr 2020 auf 90 % im Jahr 2027 ansteigt. Ebenso wurde
berücksichtigt, dass nur 88 % der Auktionierungserlöse in
Deutschland verbleiben und 12 % an die EU fließen. Da davon
auszugehen ist, dass nicht alle Emissionen außerhalb des EU
ETS steuerlich erfasst werden können, wurden nur 90 % der
Emissionen berücksichtigt.
Für die Nachlasssteuer wurde der niedrigere Wert der
schen Zukunftsfonds ergäbe sich somit ein jährliches
Einnahmepotenzial von mindestens 20 Mrd. € bei einer
Zielgröße von 10 % bzw. von mindestens 40 Mrd. € bei
einer Zielgröße von 20 %. Die Mittel sollten dem Fonds
direkt zufließen oder, bei rechtlichen Einschränkungen,
als Gegenfinanzierungsmodell in den Staatshaushalt
fließen; in diesem Fall sollte sich der Staat verpflichten,
mit einem Anteil seiner jährlichen Einnahmen den Fonds
zu füllen. In Deutschland käme aus verfassungsrechtlichen Gründen nur letztere Variante in Betracht.
Die Einführung einer Nachlasssteuer, auch in Kombination mit der schon vorhandenen Erbanfallsteuer,
dürfte in Deutschland verfassungsrechtlich zulässig
sein. Sie steht indes in Deutschland vor hohen politischen Herausforderungen: Da das Aufkommen der Erbschaft- und Schenkungsteuer gemäß Art. 106 Abs. 2 GG
den Ländern zusteht, müssten die sechzehn Bundesländer bereit sein, das Aufkommen der Erbschaft- und
Schenkungssteuer für den Zweck der Transformation
Schätzung von Bach und Thiemann (2016) zum Erbschaftund Schenkungsvolumen in Deutschland zugrunde gelegt, was
einem Volumen von jährlich 200 Mrd. € entspricht. Es wurde
vereinfachend angenommen, dass das Erbschafts- und Schenkungsvolumen im Zeitraum von 2020–2050 konstant bleibt.
Der Dreiklang aus CO2-Steuern, Emissionshandel und
Erbschaftsteuern kann somit heutige und vergangene
CO2‑Emissionen gleichermaßen zum Aufbau eines schlagkräftigen Transformationsinstruments heranziehen, mithilfe
dessen, bei progressiver Ausgestaltung der Erbschaftsreform,
auch die bestehende Vermögensungleichheit reduziert werden
könnte. Dies würde auf zweierlei Weise künftige Generationen
begünstigen: erstens durch Investitionen in nachhaltige Strukturen und den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen sowie
zweitens durch die Stärkung der sozialen Gerechtigkeit, indem
der Fortsetzung bestehender ökonomischer
Ungleichheit
entgegengewirkt wird.
bzw. eines entsprechend zweckgebundenen Staatsfonds
zu verwenden.
3.4
Stärkung partizipatorischer Demokratien für
Transformation nutzen
Ein dauerhaftes und inklusives Modernisierungs-,
Gerechtigkeits- und Friedensprojekt muss die Zivilgesellschaft in seine Ausgestaltung und Umsetzung einbinden.
>> Innovationen entstehen oftmals in gesellschaftlichen
Nischen und durch gesellschaftliche Lernprozesse
(WBGU, 2011; Messner, 2016).
Dieses Potenzial
kann am besten entwickelt werden, wenn die Gesellschaft offen für Diversität ist und Nischengruppen
gut an breitere gesellschaftliche Gruppen ange
bunden sind.
29
3 Nachhaltigkeitstransformation in den G20-Staaten voranbringen – Reformperspektiven
>> Auch umweltschonende Infrastrukturen lassen sich
nur in der gebotenen Geschwindigkeit und Konsequenz ausbauen, wenn dies von der Zivilgesellschaft
mitgetragen und nicht durch Widerstände blockiert
wird.
>> Die G20-Regierungen können die notwendigen
Investitionen nur mit Unterstützung von nicht staatlichen Investoren aufbringen, die gesamtgesellschaftlich akzeptiert sind.
Das eingangs ausgeführte Verständnis einer neuen,
gestaltenden Staatlichkeit stellt Gerechtigkeit, Teilhabe und Lebensqualität in den Mittelpunkt und fokussiert damit die Förderung von „Lebensqualität für Alle“
(Stiglitz et al., 2010; EU-Kommission, 2009). Ein gestaltender Staat ist wiederum eingebettet in eine wache
Zivilgesellschaft. Ihre Menschen sehen sich nicht als
passive Zuschauer staatlicher Handlungen und gesellschaftlicher Entwicklung, sie begreifen sich als „Citizens“, als mündige, aktiv mitgestaltende Bürgerinnen
in Netzwerkgesellschaften (Messner, 1997). Der WBGU
sieht in der seit Jahren zunehmenden Verantwortungsbereitschaft der nationalen und internationalen Zivilgesellschaft beim Klimaschutz (WBGU, 2014a) eine
Chance zur Entwicklung einer breiten „transformative literacy“ der Bürgerschaft, womit die Fähigkeit
gemeint ist, „Transformationsprozesse adäquat in ihrer
Vieldimensionalität zu verstehen und eigenes Handeln
in Transformationsprozesse einzubringen“ (Schneidewind, 2013: 120). Dies entlässt den Staat nicht aus seiner Verantwortung, die Bürger von der Notwendigkeit
der Transformation zu überzeugen, eröffnet aber die
Möglichkeit, diese Kommunikation mit der und durch
die Zivilgesellschaft zu gestalten.
30
Inklusive Kommunikation über die Ursachen und
Folgen des Klimawandels
Der Diskurs über die in New York und Paris verabredeten Nachhaltigkeits- und Klimaziele wird im gestaltenden Staat nicht nur unter Expertinnen geführt. Um
die Gesellschaften angemessen zu beteiligen, bedarf es
einer adäquaten Kommunikation der Klimaproblematik
und Klimaschutzziele, einschließlich der realistischen
Einschätzung möglicher Risiken, Wirkungen und Nebenwirkungen verschiedener Handlungsoptionen. Die hohe
Komplexität und Abstraktheit der systemischen Zusammenhänge stellen die Kommunikation der Handlungsoptionen zum Klimaschutz vor große Herausforderungen.
Auch in Ländern mit gutem Bildungssystem bleibt das
Verständnis von Risiken und der damit verbundenen
bedingten Wahrscheinlichkeiten in der Bevölkerung
eher schwach ausgeprägt („
statistischer
Illetrismus“:
Gaissmaier und Gigerenzer, 2011). Hinzu kommt das aus
der Risikoforschung bekannte Phänomen der „Illusion
der Sicherheit“ (
Hertwig, 2013;
Gigerenzer, 2008):
Menschen möchten gerne glauben, dass Risiken in der
modernen, technisierten Welt vollkommen kontrollierbar sind; sie denken in linearen, oft monokausalen
Zusammenhängen und überschätzen dabei die Wirkmacht von Technologien, bevorzugen einfache Lösungen
und unterschätzen deren mögliche negative Konsequenzen (Renn, 2008).
Die Zivilgesellschaft in den Diskurs um Handlungsoptionen der Nachhaltigkeitspolitik einzubeziehen, ist
daher gleichzeitig ein Bildungsprojekt. Die auf dem Feld
des Klimaschutzes gemachten Erfahrungen und Erkenntnisse können helfen, die generelle Dynamik von Veränderungsprozessen in ihrer Vieldimensionalität zu verstehen, ohne sich dabei als individueller Akteur ohnmächtig fühlen zu müssen. Zur Entwicklung einer grundlegenden „transformative literacy“ gilt es einerseits, die
kollektiven und individuellen Fähigkeiten zum produktiven und kreativen Umgang mit Herausforderungen zu
fördern, und dadurch zugleich Unsicherheiten und Ängste abzubauen, die mit der Konfrontation mit komplexen und ungewohnten Aufgaben einhergehen. Wichtig ist dabei, Risikoinformationen immer mit kollektiven
und individuellen Handlungsoptionen zu verknüpfen
(Rogers, 1975, 1983).
Befähigung zur Entwicklung eines solidarischen
Lebensstils
Um das Ziel einer vollständigen Dekarbonisierung zu
erreichen, muss sich auch das Verständnis von Lebensqualität verändern, das in vielen sozio-kulturellen
Milieus an ressourcenintensive Konsumformen gekoppelt ist (Schneidewind und Zahrnt, 2013). Der WBGU
hat mit dem Begriff der „solidarischen Lebensqualität“ ein Leitbild vorgeschlagen, das Diskursräume für
den gesellschaftlichen Dialog zu nachhaltigen Möglichkeiten der Herstellung von Lebensqualität eröffnen
soll (WBGU, 2016a: 144 f.). Dabei soll vor allem ausgelotet werden, wie die eigene Lebensqualität nicht auf
Kosten gegenwärtiger und zukünftiger Generationen
und deren Verwirklichungschancen hergestellt werden kann (Nanz und Leggewie, 2015). Dazu trägt nach
Ansicht des WBGU ein umfassendes Verständnis des
Individuums bei, dessen Rolle als privater Konsument
nicht künstlich von der Rolle des Bürgers getrennt wird.
Der herrschende Diskurs über die Veränderbarkeit der
Lebensstile ist von einem unterkomplexen Verständnis
menschlichen Handelns geprägt, das Konsumentscheidungen als ausschließlich am individuellen Nutzen orientiert betrachtet, obwohl Menschen ihren Handlungsentscheidungen durchaus auch Normen und Werte
zugrunde legen, die nicht dem unmittelbaren Eigennutz dienen (Messner und Weinlich, 2016; Steg, 2016;
Stern, 2000). Es stellt sich also die Frage, unter welchen
Kontextbedingungen die Umsetzung eigener Normen in
Handeln gelingen kann und wie die vielfältigen Formen
politischen Konsums (Thoresen et al., 2015; Soper und
Trentman, 2008) stärker gefördert werden können.
Um Anreize und Strukturen für die Veränderung
von Lebensstilen und Konsumverhalten zu schaffen,
plädiert der WBGU für eine differenzierte Sichtweise
auf die Veränderbarkeit von Verhalten. In einer systemischen Sichtweise ist menschliches Denken und Handeln in vielfältige Handlungskontexte eingebettet. Den
strukturellen Abhängigkeiten (infrastrukturellen Ein-
Empfehlungen 3.5
schränkungen, aber auch kulturellen Zwängen) muss zur
Unterstützung von Veränderung ebenso viel Aufmerksamkeit gewidmet werden wie den individuellen Freiheitsgraden und Gelegenheitsfenstern für Veränderung.
Strukturfokussierte Top-down-Strategien (wie Regulierungen, Anreize) sollten insbesondere dort ansetzen, wo die größtmögliche Wirkung auf die Reduktion
des Ressourcen- bzw. Energiekonsums erwartet wird (in
Nordwesteuropa wären dies etwa die Lebensbereiche
Mobilität oder Raumwärme). Um bestehende Potenziale zur Entwicklung bewusst solidarischer Lebensstile zu nutzen, sollten die G20-Staaten neben solchen
Top-down-Ansätzen auch Bottom-up-Prozesse in den
sogenannten „öko-affinen Milieus“ unterstützen. Auch
wenn deren ökologischer Fußabdruck meist noch recht
groß ist, haben diese Milieus oft die Mittel, beispielsweise durch strategischen Konsum oder durch gezieltes
Divestment wirksam zu werden. In diesem Sinne sollten
die G20-Regierungen „Pioniere des Wandels“ (WBGU,
2011) und die von ihnen angeregten und verbreiteten
sozial-ökologischen Innovationen unterstützen (z.
B.
Akteure der Collaborative Economy, Ökodörfer und
Transition Towns; WBGU, 2014a).
>>
>>
3.5
Empfehlungen
>>
Um schnell genug die Transformationen einzuleiten, die
notwendig sind um den Klimawandel deutlich unter 2 °C
zu begrenzen und die Ziele der Agenda 2030 umzusetzen, empfiehlt der WBGU den G20-Staaten die Umsetzung folgender Maßnahmen:
>> Die G20-Staaten sollten ihre vorliegenden (I)NDCs im
Hinblick auf die Vereinbarungen in Paris überarbeiten, zur Umsetzung Dekarbonisierungsstrategien
entwickeln und sich dabei an den dekadischen Schritten des Klimaschutzfahrplans orientieren, in dem bis
2050 die weltweiten Emissionen auf Null gesenkt
werden. Als erster Schritt muss ein Emissionsscheitelpunkt erreicht werden, dazu sollten u. a. Subventionen fossiler Energieträger in der G20 bis 2020 abgeschafft werden.
>> Mit der Etablierung von Zukunftsfonds (transformativen Staatsfonds) sollten die G20-Staaten auf den
Finanzmärkten stärker als Akteur aktiv werden, mit
dem Ziel, einen sozialverträglichen Strukturwandel
hin zu einem nachhaltigen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem voranzutreiben. Die Zukunftsfonds
sollten (1) durch die Bepreisung aktueller und historischer CO2-Emissionen gefüllt werden. Sie sollten (2)
die Mittel im Sinne des Klimaschutzes und der SDGs
anlegen und die Eigentumsrechte dahingehend einsetzen und (3) die Dividenden für gemeinwohl- und
gerechtigkeitsorientierte Zwecke verwenden. Um
nicht erst den Aufbau des Fonds abzuwarten sondern
bei der Schaffung nachhaltiger Infrastruktur sofort
tätig werden zu können, sollte ein Teil der Einnahmen
aus CO2-Steuer und Emissionshandel direkt projekt-
>>
>>
>>
basiert investiert oder für die Mobilisierung privater
Investitionen (z. B. durch Ausfallversicherungen) verwendet werden. Ein weiterer Teil sollte direkt in die
internationale Klimakooperation fließen und Entwicklungsländern zu Gute kommen.
Um die für die Transformation notwendige
Lenkungswirkung zu erzeugen und die notwendigen
Mittel für die Zukunftsfonds zu generieren, sollten
die G20-Staaten dort, wo dies noch nicht geschehen
ist, für CO2-Emissionen aus fossilen Energieträgern
und industriellen Prozessen eine Bepreisung durch
CO2-Steuern oder Emissionshandelssysteme einführen. Sie sollten sicherstellen, dass die Höhe der
Bepreisung am Kohlenstoffgehalt der Energieträger
orientiert ist und die für notwendig erachteten Mindestpreise von 30 US-$ pro t CO2 bis 2020 – und einer
Verdopplung in jeder folgenden Dekade – erreicht
werden.
Für die Finanzierung der transformativen Zukunftsfonds empfiehlt der WBGU den G20-Staaten außerdem die Einführung einer Generationenkomponente
in Form einer progressiven Nachlasssteuer (Besteuerung des Gesamtnachlasses anstatt des Anteils der
einzelnen Erben). Die Steuer sollte so ausgestaltet
werden, dass 10–20 % des nationalen Erbschaftsund Schenkungsvolumens für die Finanzierung des
Zukunftsfonds zur Verfügung stehen.
Zur Umsetzung der Transformation sollten die
G20-Staaten regulatorische Top-down-Strategien
ebenso wie wissens- und motivationsbezogene Bottom-up-Ansätze berücksichtigen. Zudem sollten die
G20-Regierungen in stärkerem Maße „Pioniere des
Wandels“ (WBGU, 2011) und die von ihnen angeregten und verbreiteten sozial-ökologischen Innovationen unterstützen.
Die G20-Staaten sollten die zunehmende Verantwortungsbereitschaft der nationalen und internationalen
Zivilgesellschaft, die sich insbesondere beim Klimaschutz (WBGU, 2014a) zeigt, nutzen und eine breit
greifende „transformative literacy“ der Bürgerinnen
fördern.
Die G20-Staaten sollten der Staatsaufgabe Umweltund Klimaschutz eine dem bereits vorhandenen verfassungsrechtlichen Rang entsprechende Priorität
einräumen und sie wirksam instrumentell
unterfüttern.
Die Bundesregierung und die G20-Staaten sollten
darauf hinwirken, dass im neu zu erstellenden IPCCSonderbericht zu 1,5 °C ein breites Spektrum an Vermeidungsszenarien (mit und ohne negativen Emissionen sowie mit und ohne disruptivem technologischen Wandel) zum Einsatz kommt, um ein ausgewogenes Verhältnis an Lösungen aufzuzeigen und die
Möglichkeiten und Vorteile von disruptivem Wandel
zu betonen.
31
32
Transformation als Modernisierungs-,
Gerechtigkeits- und Friedensprojekt
Die Regierungen der G20-Staaten sollten sich nicht nur
„zu Hause“ für Innovations-, Infrastruktur-, Investitionsund Inklusionsmaßnahmen engagieren, sondern auch auf
internationaler Ebene eine Vorreiterrolle für Klima- und
Nachhaltigkeitspolitik einnehmen und so dazu beitragen,
grenzüberschreitende Kooperation zu stärken und globale Probleme zu lösen. Zusammen mit den SDGs ist der
Klimaschutz gegenwärtig das einzige Menschheitsprojekt, an dem alle Nationen beteiligt sind. Der Erfolg der
Konferenz in Paris und die einstimmige Annahme des
Übereinkommens von Paris durch 196 Staaten zeigt, dass
im Bereich Klimaschutz der Multilateralismus sehr wohl
funktioniert. Selbst Staaten wie China oder die USA, die
beim Klimaschutz bisher den Ruf hatten, als Bremser zu
fungieren, bringen sich konstruktiv ein. Auch die Agenda
2030 ist ein dezidiert globales Projekt: Das Zielsystem ist
universell und soll die Grundlage für eine veränderte globale Partnerschaft bilden.
Als langfristig angelegte Menschheitsprojekte bringen der Klimaschutz und die Agenda 2030 also Akteure
konstruktiv zusammen, die in anderen Kontexten nicht
kooperieren oder sogar in offenem Konflikt stehen.
Die Einsicht, dass die Lösung gemeinsamer nachhaltigkeits- und klimapolitischer Herausforderungen die
Chance zur Annäherung im Konflikt stehender Akteure
bietet, ist nicht neu. Sie wurde schon zu Zeiten des Kalten Krieges von Willy Brandt vertreten: „Gemeinsame
Probleme lösen heißt Bindungen und Verbindungen
schaffen durch sinnvolle Kooperation […] Das heißt,
Vertrauen schaffen durch praktisch funktionierende
Regelungen. Und dieses Vertrauen mag dann die neue
Basis werden, auf der alte, ungelöste Probleme lösbar
werden.“ (Willy Brandt, anlässlich der Verleihung des
Friedensnobelpreises in Oslo, 11. Dezember 1971).
Bei richtiger Ausgestaltung wird Nachhaltigkeitsund Klimapolitik zu einem globalen Modernisierungs-,
Gerechtigkeits- und Friedensprojekt:
>> Eine kluge Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik
dient der Modernisierung der Weltwirtschaft und
eröffnet ökonomische Entwicklungschancen, weil sie
ein neues Innovationsverständnis inspiriert sowie
erhebliche Investitionsmöglichkeiten und nachhaltige
Beschäftigung schafft sowie Investitionen in
zukunftsfeste Branchen und Unternehmen und nachhaltige Infrastrukturen lenkt.
>> Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik kann
Gerechtigkeitspolitik sein, wenn sie Inklusion voran-
4
bringt, indem sie Dekarbonisierungsstrategien sozialverträglich gestaltet, Ungleichheiten effektiv
bekämpft und die soziale Kohäsion stärkt.
>> Und Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik kann
dazu beitragen, den Frieden zu bewahren, indem sie
Ressourcen- und Verteilungskonflikte entschärft –
und so Inklusion auf globaler Ebene fördert – und
Bürgerkriegen und Massenflucht entgegenwirkt.
Die adäquate Ausgestaltung der Transformation zur
Nachhaltigkeit und der Klimaschutzagenda kann also
dazu beitragen, internationale Krisen zu lösen, insbesondere die Innovations- und Investitionsblockaden, die
hohe Ungleichheit innerhalb und zwischen den Nationen, die Inklusion zuwiderläuft, und internationale Friedens- und Sicherheitsprobleme. Die G20 sollte sich für
die „vier großen I“ der Nachhaltigkeitstransformation
stark machen, sich auf internationaler Ebene als Vorreiter engagieren und dazu beitragen, dass Nachhaltigkeits- und Klimapolitik als historisches Projekt der
Weltgemeinschaft ein Hebel zur Lösung weltpolitischer
Probleme wird. Im Folgenden stellt der WBGU dazu beispielhaft konkrete Initiativen vor, die die G20 verfolgen
könnte.
4.1
Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik als
globales Modernisierungsprojekt
Weltweit ist das Wirtschaftswachstum im Laufe der letzten Dekaden schwächer geworden und eine globale ökonomische Stagnation droht (IMF, 2016). Niedrige Zinsen
und mangelnde Investitionen und Investitionsmöglichkeiten stellen die Weltwirtschaft vor große Herausforderungen. Dadurch verändert sich auch der ökonomische
Blick auf Nachhaltigkeitsfragen: Klimaschutz und Nachhaltigkeitspolitik bieten als globales Modernisierungsprojekt viel Potenzial für Investitionsmöglichkeiten und
große ökonomische Chancen. Gleichzeitig sind Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik durch ihre langfristige und richtungssichere Perspektive ein Garant für
eine stabile ökologische wirtschaftliche Entwicklung.
Die G20 sollte sich auf globaler Ebene für ein neues Verständnis sozialer und ökologischer Marktwirtschaft einsetzen und ein neues globales Innovationsverständnis
als Leitbild für einen globalen Auftrag für Stabilität und
Zukunftsfähigkeit auf die internationale Agenda setzen.
33
4 Transformation als Modernisierungs-, Gerechtigkeits- und Friedensprojekt
Richtungssichere und ertragreiche Investitionen
Die sich politisch und gesellschaftlich durchsetzende
Erkenntnis, dass frühes Handeln für den Klimaschutz
Kosten und Risiken vermeiden hilft und den Weg
zu einer resilienten Weltwirtschaft eröffnet, erzeugt
bereits gegenwärtig Marktanpassungen, wie beispielsweise die stärkere Fokussierung der Autobauer auf
Elektromobilität oder Deinvestitionen bekannter Investoren (norwegischer Pensionsfonds, Allianz usw.). So
wird heute unternommener Klimaschutz die Klimarisiken im 21. Jahrhundert und darüber hinaus verringern
und die Kosten und Herausforderungen der Anpassung
langfristig senken (IPCC, 2014c). Ein frühes Handeln
eröffnet außerdem Möglichkeiten für einen „sanfteren“ globalen Strukturwandel. Mit dem Übereinkommen von Paris ist die strategische Neuausrichtung CO2intensiver Industrien unvermeidbar geworden. Fehleinschätzungen in Bezug auf den Bedarf struktureller wirtschaftlicher Anpassungen erhöhen das Risiko abrupter
Änderungen, wie plötzlicher Insolvenzen und Massenentlassungen, die zu strukturellen Krisen gesamter Wirtschaftsregionen führen können. Eine mögliche „Carbon Bubble“ (Carbon Tracker Initiative, 2011; Carney,
2015; WBGU, 2014a; ESRB, 2016), d. h. die Überbewertung von Unternehmen, die Förderrechte an den weltweiten Öl-, Kohle- und Gasvorkommen haben, erhöht
das Risiko abrupter Wertkorrekturen auf den Finanzmärkten. Heute unternommene wirtschaftliche Anpassungen im Sinne des Übereinkommens von Paris und der
Agenda 2030 werden daher in der Zukunft zu mehr Stabilität im Wirtschafts- und Finanzsystem führen.
34
Auf dem Weg zu einem neuen
Innovationsverständnis
Das bisher dominante Leitthema der G20 ist die Wachstums- und Innovationsförderung. Angesichts der
Herausforderungen der Transformation ist ein erweitertes Innovations- und Investitionsverständnis notwendig, bei dem tiefgreifende systemische Änderungen
durch entsprechende technologische Innovationen stärker mit sozialen, institutionellen und kulturellen Neuerungen vernetzt werden. Es geht um die Neuausrichtung
von Wachstum und Innovation, über den bereits entwickelten „G20 Blueprint on Innovative Growth“ (G20,
2016c) hinaus: Die ökonomische Leistungsfähigkeit und
die Ausrichtung von Innovationen sollte zukünftig der
Umsetzung des Übereinkommens von Paris und der
Agenda 2030 dienen.
Die Eckpunkte eines solch neuen Innovationsverständnisses sind in Tab. 4.1-1 zusammengefasst:
1. Es muss Erwartungssicherheit geschaffen werden,
dass die G20-Staaten das Übereinkommen von Paris
und die Agenda 2030 ernst nehmen und umsetzen,
damit die Planbarkeit für langfristige Investitionen
in die Transformation zur Nachhaltigkeit verbessert
wird. Das übergreifende Ziel von Innovation sollte
demnach nicht mehr ausschließlich die Förderung
der nationalen Wettbewerbsfähigkeit per se sein,
sondern die Förderung des nationalen und globalen
2.
3.
4.
5.
Gemeinwohls, so dass die ökonomische Leistungsfähigkeit der Umsetzung des Übereinkommens von
Paris und der Agenda 2030 dient. Zum Schutz des
globalen Klimasystems sollte innovative Dekarbonisierungspolitik die dominante Modernisierungspolitik im 21. Jahrhundert werden.
Damit einher geht die Ergänzung privater Interessen,
Investitionen und Güter durch „embedded markets“,
also gesellschaftlich gestaltete Märkte, in denen
ökonomisches Handeln in nicht ökonomische Institutionen integriert ist (Polanyi, 1968; Kay, 2003). Es
muss eine neue Balance zwischen Markt und Staat
hergestellt werden; die radikalen Varianten beider isolierter Ansätze sind gescheitert. Die Diversität von Steuerungsmechanismen in embedded markets kann dagegen die Resilienz von Wirtschaftssystemen stärken und Grundlage sozial-ökologischer
Marktwirtschaften werden.
Auch der primäre Fokus der Innovationen verschiebt sich – von technologischen Innovationen
hin zu Innovationen, die technologische Neuerungen eng mit sozialen, institutionellen oder kulturellen Neuerungen verknüpfen und beispielsweise mit
neuen Formen institutioneller Arrangements, neuen
Geschäftsmodellen sowie sich verändernden Lebensstilen verbinden.
Gleichzeitig weitet sich die Reichweite von Innovationen von eher inkrementellen Veränderungen
(wie neuen Antriebstechnologien, neuen Materialien, Effizienzsteigerungen bei regenerativen Energieträgern) hin zu disruptiv-transformativen soziotechnischen Innovationen aus. Diese greifen nicht
nur das disruptive Potenzial einzelner Technologien,
wie der Informations- und Kommunikationstechnologien, auf, sondern befördern eine umfassende
Systemtransformation. So bedeutet beispielsweise
der Umstieg auf Elektromobilität eine Systeminnovation, die Fahrzeuge, Energieerzeugung und -speicherung, Infrastrukturen sowie die gesamte Wertschöpfungskette des Automobilsektors einschließt.
Die Quellen der Innovation und die Orte der Innovationsgenerierung sind in dem neuen Innovations
verständnis weit vielfältiger als heute, wo immer
noch das Muster eines Innovationstransfers von
Industriestaaten in den Rest der Welt dominiert.
Soziale Innovationen, Ansätze des Schutzes globaler
Gemeinschaftsgüter, Ansätze sozialer Teilhabe und
alternative Wohlstandsverständnisse werden jedoch
heute schon verstärkt in Entwicklungs- und Schwellenländern generiert (Stamm et al., 2012). So ist
China beispielsweise mittlerweile der Leitmarkt und
das wichtigste Herstellerland für Elektrofahrzeuge,
und Brasilien ist der globale Technologieführer hinsichtlich der Energiegewinnung aus Zuckerrohr. Die
Diversität der Quellen der Innovationen, auch über
die Einbeziehung bislang „forschungsfernerer“ Teile
der Gesellschaft, ist ein geeigneter Ansatzpunkt für
die dringend erforderliche nationale wie auch internationale Vernetzung von Forschungsprogrammen
Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik als globales Gerechtigkeitsprojekt 4.2
Tabelle 4.1-1
Dimensionen eines neuen Innovationsverständnisses.
Quelle: WBGU
Dimension
Bisher
Künftig
Übergreifendes Ziel von
Innovation
Nationale Wettbewerbsfähigkeit
Ökonomische Ziele von
Innovation
Fokus der Innovationen
Vorrang privater Interessen und Güter
Tiefe und Reichweite der
Innovationen
Inkrementelle Innovation (innerhalb
estehender sozioökonomischer Systeme)
b
Quellen und Orte der
Innovation
Industrieländer als Treiber von
Innovationen – Transfer in den Rest
der Welt
Nationales und globales Gemeinwohl:
ökonomische Leistungsfähigkeit dient der
Umsetzung des Übereinkommens von Paris
und der Agenda 2030 – Innovationen für
Nachhaltigkeit
Einbettung der Märkte und Stärkung
öffentlicher Güter
Technologische Innovationen werden in
hohem Maße mit sozialen, institutionellen
und kulturellen Innovationen verknüpft
Disruptive bzw. systemische Innovationen
(mit beabsichtigtem oder angestrebtem
Systemwechsel zur Nachhaltigkeit; global)
Weltweite Innovationen – verstärkte
internationale Zusammenarbeit für globalen
Innovationsaustausch
Technologische Innovationen
zu Innovationen. Die G20-Staaten sollten die internationale Kooperation zur Innovationsförderung
stärken.
4.2
Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik als
globales Gerechtigkeitsprojekt
Neben dem Klimawandel ist die zunehmende sozioökonomische Ungleichheit weltweit eine der größten Herausforderungen für nachhaltige Entwicklung.
Ungleichheit wird im G20-Kommuniqé von Hangzhou
bereits thematisiert (G20, 2016b). Bei der Lösung globaler Gerechtigkeitsprobleme sollte die G20 noch
aktiver werden. Klimaschutz kann ein wichtiger Teil der
Antwort sein: Da der Klimawandel die vulnerabelsten
Bevölkerungsgruppen häufig am stärksten trifft, birgt
effektiver Klimaschutz zugleich große Potenziale für
mehr globale Gerechtigkeit und die Verwirklichung der
SDGs. Allerdings fördert Klimaschutz nicht automatisch
die Gerechtigkeit. Der WBGU schlägt daher vor, dass die
G20-Staaten Klimaschutz so ausgestalten, dass damit
zugleich Armut und Ungleichheit bekämpft und somit
Klimaschutz und Gerechtigkeit verknüpft und zusammengedacht werden.
Die G20-Staaten sollten sich zudem dafür einsetzen,
dass Klimaschutz als Gerechtigkeitsprojekt auf der internationalen Agenda eine wichtige Rolle spielt. Sie sollten
in der Entwicklungszusammenarbeit gemeinsam mit
ihren Partnern Strategien entwickeln, um z. B. bevorzugt
in den Bereichen zu investieren, in denen Klimaschutz
auch inklusives Wachstum schafft – also wo die unteren
40 % der Einkommensverteilung davon überproportional profitieren (Shared Prosperity Index: World Bank,
2015) – sowie Ernährungsgerechtigkeit und die Nachhaltigkeit globaler Ernährungsmuster in den Blick zu
nehmen. Solche Zielsetzungen sollten nicht zuletzt
über die Aktivitäten multilateraler Banken vorange-
bracht werden. Die G20 sollte sich dafür einsetzen, dass
neben dem Green Climate Fund auch z. B. die Weltbank
und die regionalen Entwicklungsbanken einen besonderen Fokus auf die Finanzierung und Umsetzung von
Maßnahmen und Projekten legen, die Klimaschutz und
Gerechtigkeit verbinden.
Urbanisierung gestalten um Klimaschutz und
inklusives Wachstum zu erreichen
Die Gestaltung der Urbanisierung ist ein wichtiges Feld,
mit dem die G20-Staaten Klimaschutz und inklusives
Wachstum verbinden können. Die Urbanisierung verläuft in den Staaten der G20 unterschiedlich: In einigen
Ländern steht das Bauen im Bestand historisch gewachsener Städte im Vordergrund, in anderen expandieren derzeit schnell wachsende Städte und Siedlungen
in ungeahnter Dimension. Angesichts des anstehenden
globalen Urbanisierungsschubs muss über die Art und
Weise, wie Städte gebaut werden, völlig neu nachgedacht
werden. Dies betrifft z. B. ihre baulich-räumliche Gestalt,
die urbanen Verkehrssysteme, die urbane Energieversorgung oder die verwendeten Baumaterialien (WBGU,
Einkommens2016a). Gleichzeitig verschärfen sich
und Vermögensdisparitäten in vielen Städten und führen zu räumlicher Segregation und sozialer Benachteiligung – besonders offensichtlich überall dort, wo Slums
und Gated Communities in unmittelbarer Nachbarschaft
liegen. Die wachsenden Disparitäten wirken sich zunehmend negativ auf die soziale Kohäsion der Stadtgesellschaften, die urbane wirtschaftliche Entwicklung sowie
die Regierbarkeit von Städten und ihre Sicherheit aus
(WBGU, 2016a).
Allein die Emissionen, die bis 2050 durch den Aufbau
neuer Infrastrukturen für die bis dahin 2,5 Mrd. zusätzlichen Stadtbewohner entstehen, könnten, falls dieser
dem emissionsintensiven Vorbild des Städtebaus in den
Industrieländer folgt, bereits etwa einem Drittel des insgesamt noch zur Verfügung stehenden CO2-Budgets entsprechen, wenn der Klimawandel auf weniger als 2 °C
35
4 Transformation als Modernisierungs-, Gerechtigkeits- und Friedensprojekt
36
begrenzt werden soll und mehr als drei Vierteln des Budgets, wenn der Klimawandel auf 1,5 °C begrenzt werden
soll (WBGU, 2016a; Müller et al., 2013). Während mit
SDG Nr. 11 („Städte und Siedlungen inklusiv, sicher,
widerstandsfähig und nachhaltig machen“) das Thema
nachhaltige Stadtentwicklung in die Agenda 2030 Eingang gefunden hat, werden die Herausforderungen und
Chancen der Urbanisierung im Kontext des Pariser Übereinkommens und in den (I)NDCs bislang kaum berücksichtigt. Die G20-Staaten sollten dieses Defizit angehen,
indem sie nachhaltige Stadtentwicklung zu einem Kernelement in ihren nationalen wie internationalen Dekarbonisierungsstrategien machen und sich dafür einsetzen, dass das Thema innerhalb der Klimarahmenkonvention besser berücksichtigt wird.
Eine Reihe von Handlungsfeldern in der
Stadtentwicklung bieten Potenzial für die Verknüpfung
von Klimaschutz und Gerechtigkeit, u.
a. die
Flächennutzung, die Kreislaufwirtschaft, erneuerbare
Energiesysteme (WBGU, 2016a). Insbesondere Mobilität
und Verkehr sind hierfür von großer Bedeutung. So
verursachen zum einen urbane Transportsysteme einen
erheblichen Teil städtischer CO2-Emissionen; zum
anderen entscheidet ihre Struktur darüber, welche
Teile der Bevölkerung sich wie durch die Stadt bewegen
können, um z. B. am Arbeitsmarkt teilnehmen und so
von Wachstumsgewinnen profitieren zu können. Die
Ausgestaltung urbaner Transportsysteme ist daher ein
wichtiger Hebel zur Schaffung urbaner Gerechtigkeit.
Ärmere urbane Bevölkerungsgruppen leiden besonders
unter den Folgen des motorisierten Individualverkehrs
und sind stärker von wenig leistungsfähigen öffentlichen
Verkehrssystemen betroffen, da sie typischerweise
besonders stark von ihnen abhängig sind (WHO und
UN-Habitat, 2010). Funktionierende öffentliche
Transportinfrastrukturen sind daher eine wichtige Säule
zum Abbau urbaner Ungleichheit (UNEP, 2012; UKAID
und DFID, 2012; Beard et al., 2016).
Der WBGU empfiehlt den G20-Staaten, ihre innerstädtischen Verkehrssysteme so schnell wie möglich emissionsfrei und inklusiv zu gestalten (Unterziel
„accessible cities“ des SDG Nr. 11; WBGU, 2016a: 165 ff.)
und auch im Rahmen ihrer internationalen Entwicklungszusammenarbeit mit ihren Partnern Strategien zu
entwickeln, wie dies in den dortigen Städten umgesetzt werden kann. Damit das gelingt, muss angesichts
starker Pfadabhängigkeiten schnell eine entsprechende
Weichenstellung vorgenommen werden. Das Zeitfenster
für den notwendigen Wandel ist jetzt offen – und muss
genutzt werden, bevor es sich schließt.
Urbane Mobilität sollte so gestaltet werden, dass
Menschen aller Einkommensgruppen sich problemlos
und preisgünstig durch eine Stadt bewegen können,
um ohne Einschränkungen von den ökonomischen,
sozialen und kulturellen Möglichkeiten profitieren
zu können. Da ärmere Bevölkerungsgruppen
tendenziell am stärksten unter dem motorisierten
Individualverkehr leiden, aber am wenigsten von ihm
profitieren, setzt dies einen funktionierenden und gut
ausgebauten öffentlichen Personennahverkehr sowie
gute Fußgänger- und Radverkehrsstrukturen voraus.
Gleichzeitig können adäquate Mobilitätssysteme
positive Beschäftigungseffekte schaffen, vor allem für
ärmere Bevölkerungsschichten. Öffentlicher Nahverkehr
sollte für alle zugänglich und Straßen sollten für nicht
motorisierten Verkehr sicherer gemacht werden (Propoor Transport Policies; WBGU, 2016a: 165 ff.). Vor
allem vulnerable Gruppen wie Alte, Kinder und Frauen
und deren Mobilitätsverhalten und Sicherheitsbedarfe
sollten für die Planung maßgebend sein (Hamilton et al.,
2006).
Ernährungsgerechtigkeit und nachhaltige
Ernährungsmuster
Die G20 sollte sich dafür einsetzen, Nachhaltigkeit und
Gerechtigkeit im Kontext globaler Ernährungsmuster
sowohl als Thema in der internationalen Debatte zu stärken und auf die Agenda internationaler Organisationen
zu setzen als auch durch strukturelle Maßnahmen zu
unterstützen. Das fordert auch die Agenda 2030: SDG
Nr. 2 verpflichtet die Weltgemeinschaft, den weltweiten Hunger zu beenden, einschließlich Mangelernährung, sowie die Nahrungsmittelproduktion nachhaltig
zu gestalten.
Der weltweit weiterhin hohe Anteil an Hunger leidenden und mangelernährten Menschen ist aus globaler Perspektive zur Zeit nicht auf Mangel an fruchtbarem Land, sondern im Wesentlichen auf ineffiziente
Produktions- und Konsumpraktiken sowie eine ungerechte Verteilung zurückzuführen (WBGU, 2011: 63). In
Deutschland geht laut einer Studie des WWF (2015) fast
ein Drittel der Nahrungsmittel auf dem Weg vom Acker
zum Verbraucher verloren bzw. wird im Haushalt weggeworfen. Auch ein Drittel der weltweit produzierten
Nahrungsmittel verdirbt, geht verloren oder wird weggeworfen (FAO, 2011), ein weiteres Drittel wird in der
Tierproduktion verfüttert (de Schutter, 2011). Die Viehwirtschaft nutzt (direkt und indirekt) ca. 70 % der landwirtschaftlichen Flächen (Steinfeld et al., 2006). Ihre
Produkte werden vornehmlich von der Bevölkerung
der Industrieländer und den wachsenden Mittelschichten der Schwellenländer konsumiert, wobei der schnell
steigende Fleischkonsum zunehmende Gesundheitsrisiken mit sich bringt (McMichael et al., 2007). Intensive
Landwirtschaft wird heute meist nicht nachhaltig betrieben und führt zu Bodendegradation sowie dem Verlust
von Biodiversität und Ökosystemleistungen. Zudem
stammen etwa 10–12 % der weltweiten anthropogenen
Treibhausgasemissionen aus der Landwirtschaft (IPCC,
2014b: 822).
Den G20-Staaten kommt bei Ernährungssicherheit
und Ernährungsgerechtigkeit eine Schlüsselrolle zu.
Dies betrifft dringend notwendige strukturelle Maßnahmen wie das Eindämmen von Landdegradation, die
Förderung nachhaltiger Landwirtschaft und das Verhindern von Nahrungsmittelverlusten entlang der Wertschöpfungskette (Erklärung der G20-Agrarminister
vom Mai 2015). Strukturelle Maßnahmen müssen von
Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik als globales Friedensprojekt 4.3
einem Wandel der Ernährungspraktiken der Bürger aller
G20-Staaten getragen werden, um nicht wirkungslos zu
bleiben. Gerade Industrie- und Schwellenländer sind
außerdem in der Verantwortung, nicht nur durch strukturelle, sondern auch durch wissens- und motivationsbezogene Maßnahmen zu diesem Wandel beizutragen.
Ohne verantwortliche Bürgerinnen ist eine Problem
lösung unmöglich.
Die G20-Gesellschaften stehen vor der Herausforderung, in ihren Ländern nachhaltige Ernährungsweisen wie
eine regionale, ökologisch angebaute und um tierische
Produkte reduzierte Kost zu motivieren, gleichzeitig
aber nicht zu stark in die Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit der Bürger einzugreifen, um
Reaktanz
und Rückzugsreaktionen zu vermeiden. Ein verringerter Konsum tierischer Produkte wäre gleichzeitig auch
wesentlich gesünder für die Bevölkerung in Industriestaaten und die schnell wachsenden Mittelschichten in
Entwicklungs- und Schwellenländern (WBGU, 2011: 65).
Regulatorische
Top-down-Maßnahmen
sollten
gekoppelt sein mit einem verbesserten Zugang zu
gesunden und klimaverträglichen Lebensmitteln. Im
Sinne eines gemeinschaftlichen Handelns von Staat und
Bürgerschaft sollten Initiativen und Praktiken gefördert werden, in denen Menschen ihrer Rolle als verantwortliche Konsumenten nachkommen wollen, wie etwa
beim Foodsharing. Diese Initiativen sollten institutionell stärker eingebunden werden und beispielsweise mit
internationalen Organisationen, Bildungseinrichtungen,
Arbeitgebern und Verwaltungen kooperieren. Die FAO
sollte beispielsweise ihr Programm „SAVE FOOD: Global Initiative on Food Loss and Waste Reduction“ weiter stärken.
4.3
Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik als
globales Friedensprojekt
Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik kann den Frieden bewahren, indem sie die Ursachen für Bürgerkrieg
und Massenflucht bekämpft. Bereits 2008 hat der WBGU
in seinem Gutachten „Sicherheitsrisiko Klimawandel“ darauf aufmerksam gemacht, dass der Klimawandel ohne entschiedenes Gegensteuern in den kommenden Jahrzehnten die Anpassungsfähigkeit vieler Gesellschaften überstrapazieren wird (WBGU, 2008). Klimawandel trägt – mit regional unterschiedlicher Intensität
– zur Gefährdung der menschlichen Sicherheit bei, da
er die Grundbedürfnisbefriedigung gefährdet und damit
Ressourcen- und Verteilungskonflikte verschärft, kulturelle Entfaltung und Identität einschränkt und Migrationsbewegungen mitverursacht. Letztere können Instabilität in Gesellschaften auch in den Ankunftsregionen
mitverursachen (Adger et al., 2014: 758; Oppenheimer
et al., 2014: 1061). Daher sind Klimaschutz- und Klimaanpassungsmaßnahmen wichtige Strategien zum Schutz
menschlicher und gesellschaftlicher Sicherheit.
In Zukunft wird der Klimawandel nach Einschätzung
des IPCC die Gefahr klimawandelmitbedingter gewalttätiger innerstaatlicher Konflikte in bestimmten Regionen noch verstärken (Adger et al., 2014: 772). Und
auch bei Migrationsentscheidungen wird der Klimawandel zukünftig an Bedeutung gewinnen (WBGU, 2008,
2014). Aufgrund der Multikausalität von Krisen, Konflikten und Migrationsentscheidungen gestaltet sich die
zahlenmäßige Erfassung und Prognose schwierig (IDMC,
2015; UNHCR, 2015; Adger et al., 2014; Oppenheimer et
al., 2014). Nach Schätzungen der International Organisation for Migration (IOM) könnte es bis zum Jahr 2050
durch Klimawandelfolgen bis zu 200 Mio. Migranten
geben (IOM, 2009; WBGU, 2014a: 62 f.).
In der Literatur wird von menschlicher Mobilität
(human mobility) gesprochen, die in Verdrängung (displacement), (überwiegend freiwillige) Migration und
geplante Umsiedlung unterschieden wird (UNHCR
et al., 2014). Weder die Klimarahmenkonvention
(UNFCCC, 1992) noch das Übereinkommen von Paris
thematisieren klimawandelmitbedingte Flucht explizit
(Kap. 1). Völkerrechtlich sind die Begriffe „Klimaflüchtling“ oder „Klimamigrant“ bislang nicht geklärt (WBGU,
2014a: 62 f.; Brouers, 2012; Nümann, 2015). Die Genfer
Flüchtlingskonvention (GFK) schützt „Klimaflüchtlinge“
nicht (Nümann, 2015), da die Kriterien nach Artikel 1
der GFK (kurz: wohlbegründete Furcht vor Verfolgung
aufgrund bestimmter Merkmale, wie z. B. politischer
Überzeugung) bei klimawandelmitbedingten Naturkatastrophen oder Umweltschäden nicht erfüllt sind
(Nümann, 2015: 168). Die bestehenden internationalen Regelungen zum Flüchtlingsschutz statuieren – nach
überwiegender Auffassung – keine Pflicht zur (zwingenden) Aufnahme von „Klimaflüchtlingen“ (Brouers,
2012; Nümann, 2015). Binnenmigranten werden bei
Flucht vor Naturkatastrophen oder Klimawandelfolgen
lediglich über die räumlich begrenzte innerafrikanische
Kampala-Konvention oder durch die (unverbindlichen)
Leitlinien der Vereinten Nationen für Binnenvertriebene
erfasst.
Eine Änderung der Genfer Konvention ist aufgrund
des bestehenden erheblichen politischen Widerstands
nicht aussichtsreich. Zum einen ist eine Erweiterung des
Anwendungsbereichs der Konvention auf Klimaflüchtlinge von vielen potenziellen Aufnahmeländern unerwünscht, zum anderen besteht die Sorge, dass erneute
Verhandlungen bestehender Verträge eher zur Erosion
des existierenden Flüchtlingsschutzregimes als zu seiner Ausweitung führt. Als Alternative zur Änderung
der Genfer Flüchtlingskonvention sollte ein Protokoll
zur Klimarahmenkonvention vorgeschlagen werden,
das Populationen in Gefahrenzonen die Möglichkeit zur
Umsiedlung bietet (Biermann und Boas, 2008).
Als Beitrag zur globalen Friedenssicherung sollten die
G20-Staaten Klimaschutzmaßnahmen auf die Tagesordnung setzen und Interventionsmöglichkeiten ausloten.
Diese sind abhängig von der Zeit- und Raumebene: Auf
langsam einsetzende Katastrophen (z.
B. Desertifikation) und schwelende Konflikte kann anders reagiert
werden als auf plötzlich einsetzende Katastrophen (z. B.
37
4 Transformation als Modernisierungs-, Gerechtigkeits- und Friedensprojekt
Überschwemmungen) und eskalierende Gewalt. Zudem
bestehen große Unterschiede je nachdem, ob Menschen migrieren müssen, können und wollen, und ob
die Migration (bzw. Flucht) geplant oder ungeplant und
innerhalb eines Landes oder über die Landesgrenzen
hinweg erfolgt. Der WBGU sieht Handlungsbedarf insbesondere in drei Bereichen:
Mikroebene: lokale klimawandelmitbedingte
Konflikt- und Fluchtursachen bekämpfen
Klimawandelmitbedingte Katastrophen und Konflikte
gefährden in vielen Regionen die Entwicklungsfortschritte der letzten Dekaden sowie die menschliche
Sicherheit und verschärfen globale Ungleichheiten. Im
IPCC-Bericht (2014c), in den SDGs (Ziel Nr. 13) sowie
dem Übereinkommen von Paris wird die Dringlichkeit
von Anpassungsmaßnahmen unterstrichen und deren
Anwendung gefordert, um lokale klimawandelmitbedingte Konflikt- und Fluchtursachen auf der Mikro
ebene zu bekämpfen. Gerade in Bezug auf langsam einsetzende klimawandelmitbedingte Katastrophen ist aufgrund der tiefgreifenden sozioökonomischen und politischen Implikationen, die sich aus Migration bzw. Flucht
oder Umsiedlung ergeben, die frühzeitige und vorausschauende richtige Wahl und adäquate Anwendung von
kurz-, mittel- und langfristigen Anpassungsstrategien
grundlegend.
Neben technischen Anpassungsmaßnahmen (z. B.
Überschwemmungsschutz, Wirbelsturmschutzräume)
werden zunehmend auch soziale und institutionelle
Maßnahmen (z. B. Risikomanagement) gefördert (Noble
et al., 2014: 836). Diese Förderung bedarf weitergehend
nicht nur einer Integration und Erweiterung bestehender
politischer Rahmenbedingungen, sondern auch der Integration in und Stärkung von Bewältigungsstrategien der
lokalen Bevölkerung (NRC und IDMC, 2014: 12; Noble
et al., 2014: 836). Kapazitätsaufbau und die finanzielle
Förderung lokaler Akteure sollten in der internationalen Umwelt- und Entwicklungspolitik der G20 größere
Beachtung finden und es sollten mehr finanzielle Mittel
in diesen Bereichen bereitgestellt werden.
38
Mesoebene: Siedlungsprogramme stärken
Ist die klimawandelmitbedingte Migration nicht abwendbar bzw. bereits erfolgt, besteht die zentrale Herausforderung in der Stärkung der Resilienz der migrierten
Gruppen sowie auch der Bevölkerung in der Ankunftsregion. Wenn zukünftige Migration als letztes Mittel
der Anpassung unvermeidlich ist, sollte diese gerade bei
langsam einsetzenden Katastrophen nach Möglichkeit
in Form einer informierten, geplanten und partizipatorisch gestalteten Umsiedlung erfolgen (Advisory Group
on Climate Change and Human Mobility, 2015). Daher
sollten die G20-Staaten den Ausbau sowie die finanzielle Absicherung von Siedlungsprogrammen fördern.
Auf institutioneller Ebene kämen hierfür der UNHCR
und das IOM in Betracht, deren institutionelle Kapazitäten im Hinblick auf diese Aufgabe gestärkt werden
sollten. Die Diskussion um eine offizielle Mandatser-
weiterung des UNHCR sollte in diesem Zusammenhang
von den G20-Staaten wieder aufgegriffen werden (zum
Mandat: Hall, 2013). Nothilfe und mittelfristige ausgerichtete Entwicklungszusammenarbeit müssen besser verknüpft werden. Darüber hinaus sollten zukünftig
für die Migranten, die in ihre Heimat zurückkehren können, strukturierte Rückkehrprogramme angeboten werden. Bei Migranten, für die eine Rückkehr ausgeschlossen ist, sollten Siedlungsprogramme vor allem in Städten
gestärkt werden, um das Anwachsen von Slums in Städten sowie Krisen und Konflikte in den Ankunftsgebieten
zu vermeiden. Wichtig ist dafür die Stärkung von Multiakteursansätzen für die Unterstützung und Zusammenarbeit lokaler, regionaler, nationaler und gegebenenfalls
internationaler Regierungs- und zivilgesellschaftlicher
Akteure.
Makroebene: Klimamigration auf die Tagesordnung
setzen
Die in Paris getroffenen Vereinbarungen zum Klimaschutz sollten mit Nachdruck umgesetzt werden, damit
Fluchtursachen auch über Klimaschutz- und Klimaanpassungspolitik im Ansatz bekämpft werden. Wie
bereits im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und
SPD erwähnt (CDU et al., 2013: 125), ist die Klärung
des Status von Klimamigranten, die grenzüberschreitend wandern – unter Berücksichtigung der Option einer
Entwicklung eines internationalen Schutzinstruments –
international voranzutreiben. Der WBGU schlägt vor,
dass zusätzliche Schutzvereinbarungen jenseits des
Flüchtlingsrechts getroffen werden. Die G20-Staaten
sollten diese Diskussion beginnen und für Schutz und
faire Kostenteilungen sorgen. Anpassung vor Ort wie
auch eine Abwanderung aus Hochrisikogebieten sollten
z. B. durch Förderung im Rahmen des Green C
limate
Funds ermöglicht werden. Hier bietet sich als Vorbild und Anknüpfungspunkt die Nansen-Initiative zu
„Disaster-Induced Cross-Border Displacement“ an, die
2012 von der Schweiz und Norwegen gegründet wurde.
Sie zielt darauf, eine Schutzagenda für klimawandelmitbedingte Migration zu entwickeln, die auf internationale
Kooperation, die Anwendung einheitlicher Standards
für den Umgang mit Geflüchteten und operative Mechanismen (z. B. Finanzierungsmechanismen und Verantwortungsübernahme internationaler humanitärer und
Entwicklungsakteure) setzt. Die Nansen-Initiative hat
einen internationalen Prozess initiiert, der letztlich auf
einen politischen Konsens zum Schutz von durch Klimawandel und Umweltkatastrophen über die Staatsgrenzen hinaus vertriebenen Menschen gerichtet ist. Dieser
Prozess sollte durch die G20 unterstützt werden.
4.4
Empfehlungen
Bei richtiger Ausgestaltung wird Nachhaltigkeitsund Klimapolitik zu einem globalen Modernisierungs-, Gerechtigkeits- und Friedensprojekt. Die G20-
Empfehlungen 4.4
Regierungen sollten sich für die „vier großen I“ der
Nachhaltigkeitstransformation engagieren und auf
internationaler Ebene als Vorreiter dazu beitragen, dass
Nachhaltigkeits- und Klimapolitik als historisches Projekt der Weltgemeinschaft ein Hebel zur Lösung weltpolitischer Probleme wird. Der WBGU empfiehlt den G20-
Regierungen:
Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik als
globales Modernisierungsprojekt – ökonomische
Entwicklungschancen nutzen
>> Förderung eines erweiterten Innovationsverständnis
ses: Fokus auf die Entwicklung neuer Schlüsseltechnologien, aber auch sozialer Innovationen, die auf das
nationale und globale Gemeinwohl und die Bereitstellung von öffentlichen Gütern und Kapital abzielen, sowie Fokus auf systemische und disruptive
Innovationen, die der Umsetzung des Übereinkommens von Paris und der Agenda 2030 dienen; Stärkung der internationalen Kooperation zur Innovationsförderung.
Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik als globales
Gerechtigkeitsprojekt
>> Urbanisierung gestalten um Klimaschutz und inklusi
ves Wachstum zu erreichen: Berücksichtigung nachhaltiger und inklusiver Stadtentwicklung bei der Entwicklung von Dekarbonisierungsstrategien und nationalen Beiträgen; Stärkung der Rolle nachhaltiger
Stadtentwicklung innerhalb der (I)NDCs und der
Klimarahmenkonvention.
>> Ernährungsgerechtigkeit und nachhaltige Ernährungs
muster fördern: Kombination regulatorischer Topdown-Maßnahmen und Verbesserung des Zugangs
zu gesunden und klimaverträglichen Lebensmitteln
mit der Förderung von Bottom-up-Initiativen sowie
deren bessere institutionelle Einbindung; Stärkung
relevanter Initiativen der internationalen Organisationen.
Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik als globales
Friedensprojekt – Klimaschutz und die menschliche
Sicherheit
>> Ursachen für Bürgerkrieg und Massenflucht auf allen
Ebenen bekämpfen: (1) Auf der Mikroebene: Bekämpfung lokaler klimawandelmitbedingter Konflikt- und
Fluchtursachen; (2) auf der Mesoebene: Stärkung
von Siedlungsprogrammen; (3) auf der Makroebene:
In-situ- und Ex-situ-Anpassung durch Kapazitätsbildung in vulnerablen Gebieten und in Zielorten in der
Fördervergabe z. B. des Green Climate Funds mitberücksichtigen. Zusätzliche Schutzvereinbarungen
jenseits des Flüchtlingsrechts treffen (z. B. im Rahmen
der UNFCCC) und Nansen-Initiative stärken.
39
40
Hauptbotschaften
Nach der Vereinbarung der Nachhaltigkeitsziele (SDGs)
und der globalen Klimaziele (Übereinkommen von Paris)
im Jahr 2015 muss es jetzt um die Umsetzung gehen. Die
notwendigen Veränderungen sind durch „vier große I“
gekennzeichnet: Die Große Transformation zur Nachhaltigkeit erfordert sowie inspiriert Innovationen und lenkt
Investitionen in Richtung Nachhaltigkeit und Klimaschutz, u. a. in die auszubauenden nachhaltigen Infra
strukturen. Gleichzeitig kann die Transformation genutzt
werden, um Ungleichheit zu bekämpfen, also die Inklu
sion innerhalb der Gesellschaften wie auch global voranzubringen, und so zum Gerechtigkeitsprojekt werden.
Die Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20) sollte bei der Transformation eine Führungsrolle übernehmen.
G20 für den Klimaschutz
>> Die Bundesregierung sollte im Rahmen der deutschen
G20-Präsidentschaft anstreben, dass die G20 als
Dekarbonisierungsziel vereinbart, ihre CO2-Emissionen bis 2050 auf Null abzusenken. Die G20-Staaten
sollten mit ambitionierten Reduktionszielen voranschreiten und Dekarbonisierungsstrategien entwickeln. Kernelemente sind der rapide Ausbau erneuerbarer Energien, eine effektive Begrenzung des Energieverbrauchs, ein schneller Ausstieg aus der Nutzung
fossiler Energieträger sowie Schutz und Wiederherstellung naturnaher Ökosysteme.
>> Die G20 sollte sich kritisch zu Geoengineering positionieren. Maßnahmen, die auf die Manipulation des
globalen Strahlungshaushalts abzielen, sollten nicht
verfolgt werden. Auch auf die großskalige Änderung
des Kohlenstoffkreislaufs sollte verzichtet werden.
Ausnahmen betreffen die Kombination von Bioenergie mit Kohlenstoffabscheidung und -speicherung
(BECCS) im kleinen Maßstab sowie die chemische
Bindung von CO2 aus der Luft, die weiter erforscht
werden sollten.
Finanzierung einer nachhaltigen Zukunft
>> Zur Umsetzung der Nachhaltigkeits- und Klimaschutzziele sollten die G20-Staaten transformative
Staatsfonds (Zukunftsfonds) einrichten. Diese sollten
sich aus zwei Quellen speisen: (1) durch die Bepreisung von CO2-Emissionen; diese sollte bis zum Jahr
2020 30 US-$ pro t erreichen und sich in jeder folgenden Dekade verdoppeln; (2) durch eine progressive
Nachlasssteuer als Generationenkomponente; deren
5
Einnahmenziel sollte 10–20 % des nationalen Erbschafts- und Schenkungsvolumens betragen.
>> Die Zukunftsfonds sollten ihre Anlagestrategien an
langfristigen Nachhaltigkeits- und Klimaschutzzielen
ausrichten und in entsprechende Schlüsselindustrien
investieren. Die Dividenden sollten zur nationalen
sozial- und strukturpolitischen Flankierung der
Transformation verwendet werden. Ein Teil der Einnahmen aus CO2-Steuer und Emissionshandel sollte
direkt projektbasiert investiert, für die Mobilisierung
privater Investitionen verwendet sowie für die internationale Klimakooperation genutzt werden.
Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik als globales
Modernisierungsprojekt
>> Die G20 sollte ein erweitertes Innovationsverständnis
für Stabilität und Zukunftsfähigkeit propagieren, das
mit den SDGs und dem Übereinkommen von Paris im
Einklang steht. Es sollte zudem auf die soziale und
ökologische Einbettung von Märkten ausgerichtet
sein und anerkennen, dass auch soziale und institutionelle Innovationen erforderlich sind.
Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik als globales
Gerechtigkeitsprojekt
>> Die G20-Staaten sollten nachhaltige Stadtentwicklung sowie Ernährungsgerechtigkeit und nachhaltige
Ernährungsmuster stärken, um so beispielhaft nicht
nur Klimaschutz, sondern auch inklusives Wachstum
voranzubringen.
Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik als globales
Friedensprojekt
>> Die G20-Staaten sollten Inklusion auf globaler Ebene
fördern, indem sie z. B. lokale, durch Klimawandel
mitbedingte Konflikt- und Fluchtursachen bekämpfen sowie Siedlungsprogramme stärken. Die G20
sollte Lösungen für das Thema der klimawandelmitbedingten Migration anstoßen.
Nationalismus und autoritäre Bewegungen
zurückdrängen
>> Eine so gestaltete nationale wie internationale Nachhaltigkeits- und Klimaschutzpolitik wäre ein geeignetes Projekt der G20, um nationalistisch-autoritären
Bewegungen und deren Absagen an internationale
Kooperation einzuhegen.
41
42
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Entwicklung und Gerechtigkeit durch Transformation
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2030 für nachhaltige Entwicklung mit ihren Sustainable Development Goals (SDGs) und das Überein
kommen von Paris zum Klimaschutz definieren ein ehrgeiziges globales Zielsystem. Die Gruppe der zwanzig
wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20) sollte jetzt die Umsetzung beider Abkommen ent
schlossen vorantreiben und die Große Transformation zur Nachhaltigkeit als einzigartiges Modernisierungsprojekt wahrnehmen, das erhebliche ökonomische Entwicklungschancen bietet. So ist etwa die vollständige Dekarbonisierung der Weltwirtschaft bis spätestens 2070 nur mit einem tiefgreifenden Wandel
der Energiesysteme und anderer emissionsintensiver Infrastrukturen umsetzbar. Die Transformation
inspiriert Innovationen und lenkt Investitionen in Richtung Nachhaltigkeit und Klimaschutz, u. a. in die aufund auszubauenden nachhaltigen Infrastrukturen. Gleichzeitig kann die Transformation genutzt werden, um
Ungleichheit zu bekämpfen, also die Inklusion innerhalb der Gesellschaften wie auch global voranzubringen,
und so zum Gerechtigkeitsprojekt werden.
Sondergutachten
Entwicklung und Gerechtigkeit
durch Transformation:
Die vier großen I
20
Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
Globale Umweltveränderungen
Geschäftsstelle
Luisenstraße 4 6
101 1 7 Berlin
17
Telefon: (030) 26 39 48-0
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Internet: www.wbgu.de
ha
0
ft 2
de
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nts
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si
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9 783946 830009
ISBN 978-3-946830-00-9
Ein
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